Nikolaus Lobkowicz
Plattfuß und Sphinx. Bruno Bauer über Juden und Rußland[1]
Obwohl er gelegentlich als Vorläufer von Nietzsche[2] oder auch Spengler[3] erwähnt wird, zählt Bruno Bauer nicht zu den Gestalten, deren Werk man kennen muß, um die deutsche Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts oder gar deren Konsequenzen im 20. Jahrhundert zu verstehen; mit einer wichtigen Ausnahme, auf die ich noch zurückkomme, ist er trotz seiner vielen Veröffentlichungen in seltsamer Weise wirkungslos geblieben.[4] Der philosophischen und politikwissenschaftlichen Fachwelt ist er heute vor allem als Jugendfreund und später mit beißender Ironie kritisierter Gegner des um fast anderthalb Jahrzehnte jüngeren Karl Marx bekannt;[5] dabei hat der Einfluß der z.T. erst nach 1930 veröffentlichten frühen Schriften von Marx und Engels[6] bewirkt, daß er in diesem Zusammenhang meist nur als einer der skurrilsten Linkshegelianer gesehen wurde. Es hat fast ein Jahrhundert gedauert, bis selbst vom Marxismus Beeinflußte zu entdecken begannen, daß Bauers von Marx verhöhnte Vorstellung von der Wirksamkeit einer rein literarischen Kritik im Grunde nicht wirklichkeitsfremder war als Marxens Überzeugung vom revolutionären Potential des Proletariats.[7] Während jedoch Schriften Bauers, die bis 1845 erschienen, wenigstens von jenen berücksichtigt wurden, die am, wie Marx es nannte, "Verwesungsprozeß des Hegelschen Systems"[8] interessiert waren, ist die Lektüre oder gar das Studium seiner Schriften nach 1848 die Spezialität eines kleinen Forscherkreises geblieben.[9] Schon zu Bauers Lebzeiten scheint es nicht viel anders gewesen zu sein; als er wenige Monate vor Marx im April 1882 starb, waren wohl die meisten, die von ihm - etwa wegen seiner Relegation von der Bonner Universität im Frühjahr 1842 - gehört hatten, überrascht, daß er überhaupt noch gelebt hatte. Die Zahl seiner Leser war immer klein, seine Bücher verkauften sich schlecht, seine Aufsätze erschienen häufig in von ihm selbst gegründeten und deshalb kurzlebigen Zeitschriften,[10] sein Stil war ermüdend weitschweifig und zugleich trotz Bauers bedeutender Bildung eigentümlich vage. Es fehlte ihm ein Engels, der ja Marx nicht nur finanziell unterstützt hatte, sondern auch ein glänzend formulierender Verbreiter seiner Lehren war. Und auf lange Zeit fehlte ihm ein Lenin, der unter Berufung auf ihn ein Imperium geschaffen hätte; auch Marx wäre ja ungeachtet seiner ökonomischen Forschungen vermutlich kaum mehr als ein erfolgloser Sozialist und Zeitkritiker unter vielen geblieben, wäre der Oktoberrevolution kein Erfolg beschieden gewesen.[11] Bauer selbst war freilich an unmittelbaren politischen Auswirkungen seiner Schriften auch nie wirklich interessiert, ja empfand zeitweise deren Wirkungslosigkeit fast als Bestätigung seiner Anschauungen.[12] Obwohl er Mitte des Jahrhunderts kurz versuchte, Abgeordneter der Preußischen Nationalversammlung zu werden,[13] verstand er sich in der zweiten Jahrhunderthälfte wohl vor allem als kenntnisreicher und gelehrter Zeitkritiker; nachdem er im Winter 1855/56 Marx in London besucht hatte, schrieb der Letztere an Engels, Bauer mache jetzt "mehr oder minder den Eindruck eines pedantischen alten Professors".[14] Nach 1848 stellte Bauer fest, daß nicht nur seine Kritik der preußischen Zustände kaum ein Echo hatte, sondern nicht einmal die 48er Revolution Wesentliches zu verändern vermochte, und er wandelte sich zu einem erstaunlich bedürfnislosen[15] und abgeklärten Stoiker,[16] den nur noch einerseits seine Forschungen über den Ursprung des Christentums, andererseits die auf ihnen aufbauenden kritischen Analysen der Zeitläufte beschäftigten. Ja es ist nicht einmal unwahrscheinlich (und nicht ganz ohne Bedeutung für die Beurteilung zumal seines Antisemitismus), daß viele, wenn nicht die meisten seiner späten Aufsätze mehr der materiellen Not als einem genuinen Interesse entsprangen;[17] seit er von der Bonner Universität, wo er immerhin 300 Taler jährlich erhielt, geschaßt worden war, hatte er nur selten ein regelmäßiges Einkommen.[18]
 
Sucht man nach einer einigenden Klammer seiner Schriften, findet man sie wohl am ehesten in seiner Kritik der protestantischen Exegese,[19] die bis 1848 fast von Anfang an zugleich eine Kritik des sich als "christlich" verstehenden Preußischen Staates war und später in eine höchst eigenwillige These von der Entstehung des Christentums einmündete. Obwohl er wohl nie ein kirchliches Amt anstrebte, hatte Bauer Theologie, nicht wie Feuerbach oder Marx Philosophie studiert; sein Lizenziat, das nach damaligen Üblichkeiten bei preußischen Theologen eine Lehrbefugnis[20] beinhaltete, absolvierte er unter der Leitung des Berliner Exegeten Ernst Wilhelm Hengstenberg,[21] der ab etwa 1835 einer der entschiedensten Gegner der spekulativen Theologie Hegels und seiner Schüler war. In den Jahren 1828-31 hatte er freilich noch an Vorlesungen Hegels teilgenommen und später im hegelianischen Dogmatiker Philipp Konrad Marheineke[22] einen Gönner gefunden, der ihn bei der Herausgabe der 2. Auflage von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion heranzog[23] und ihm half, die noch von Hegel angeregte Zeitschrift für spekulative Theologie zu gründen.[24] Als 1835/36 die zwei Bände des Leben Jesu von David Friedrich Strauß erschienen, übernahm Bauer die anspruchsvolle Aufgabe einer ausführlichen kritischen Rezension im wichtigsten Organ der Hegelianer, den 1827 von Hegel gegründeten Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik.[25] Strauß hatte in seinem aufsehenerregenden Buch bekanntlich zu zeigen versucht, daß die neutestamentlichen Berichte über Jesus zwar nicht als historisch erwiesen werden könnten, dennoch aber philosophisch aus protestantischer Sicht in vollem Umfang berechtigt seien, weil sie auf der Ebene der Vorstellung das zum Ausdruck bringen, was auf der Ebene des Begriffes von der Menschheit gilt.[26] Jesus, wie er in den Evangelien dargestellt wird, mag zwar eine mythische Gestalt sein, aber der Glaube an ihn ist eine Vorstufe der spekulativen Einheit von Gott und Mensch. Bauer hielt dem unter Berufung auf kirchliche, aber auch konservativ-hegelianische Traditionen entgegen, man dürfe Christus nicht zu einem abstrakten Anfangspunkt herabsetzen:[27] zwar erreiche der christliche Glaube erst in der spekulativen Christologie seine Vollendung, aber der Ausgangspunkt müsse eben doch ein reales gottmenschliches Individuum gewesen sein. Die biblische Urgeschichte sei nur bis Abraham ein Mythos (darüber waren sich protestantische Exegeten schon damals einig), alles Spätere sei "bis ins Einzelne" historisch.[28]
 
Diese Denkstrategie zwang Bauer freilich, sich ausführlicher mit der historischen Zuverlässigkeit zumal des Neuen Testamentes zu befassen; und da er seine Forschungen nicht mit den Augen eines im Zweifelsfall gläubigen Exegeten,[29] sondern als spekulativer Hegelianer verfolgte, wurde er nicht nur innerhalb weniger Jahre zum Atheisten, unterstellte auch als Erster Hegel, schon dieser sei Atheist gewesen,[30] sondern gelangte er auch zum Ergebnis, daß die evangelischen Berichte literarische Produkte wie Homers Gedichte oder Herodots Theogonie seien. Seine Kritik der evangelischen Berichte, die ihn schon bald seine von Anfang an nicht unproblematische Dozentenstellung an der Universität Bonn kostete,[31] wurde nach und nach zu einer Darstellung, die Albert Schweitzer 1906 als "das genialste und vollständigste Repertorium der Schwierigkeiten des Lebens Jesu" bezeichnen konnte.[32] Das Endergebnis dieser Exegese, deren Grundzüge für ihn z.T. schon in den frühen 40er Jahren festlagen, faßte Bauer in seinem 1877 erschienenen Buch Christus und die Caesaren zusammen. Danach entstand keiner der neutestamentlichen Texte vor dem 2. Jahrhundert. Der Ursprung des Christentums sei, so Bauer, eine von der Selbstvergottung der römischen Kaiser mitgeprägte, sich ihr freilich zugleich entgegenstemmende Verschmelzung allegorisch-rationalistisch gedeuteter jüdischer Traditionen[33] mit dem griechischen Denken, wie sie z.B. unter dem Einfluß von Seneca Philo von Alexandrien[34] entwickelt hatte; von uns nicht mehr identifizierbare Autoren hätten rund hundert Jahre später die Legende von Jesus als der Verkörperung des menschgewordenen Logos in einer bestimmten Person ersonnen.[35] Ob es den Menschen Jesus gegeben hat, bleibt dabei offen, scheint aber auch nicht mehr wichtig; denn der entscheidende Punkt ist, daß nicht das Judentum, sondern die klassische Antike das Christentum hervorgebracht hat.[36] Das Christentum ist eine "Steigerung des Griechentums", nur eine "Modifikation und Steigerung" der Antike.[37] Es ist diese seltsame, schon 1882 von einem evangelischen Exegeten als "himmelschreiender Unsinn"[38] bezeichnete Lehre von Ursprung des Christentums, die bis ins 20. Jahrhundert weiterwirkte. Engels griff sie mit geringfügigen Änderungen 1882 und dann nochmals ausführlicher 1894/95 auf,[39] und über ihn wurde sie zur Grundlage nicht nur der offiziellen Lehre der Sowjetideologie über das Christentum, sondern diente in ihren elementaren Zügen auch als verbindliche Ausgangsbasis der marxistisch-leninistischen "wissenschaftlich atheistischen" Propaganda.[40] Indirekt und unterschwellig wirkte sie freilich auch in der protestantischen Theologie z.B. Harnacks und Bultmanns weiter: Da der historische Jesus offenbar nicht zu fassen war, wandelten sich Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Teile der protestantischen Theologie in eine religiöse Anthropologie, in der nur noch, so Harnack, "Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott" bzw. bei Bultmann eine "existentiale Interpretation und Hermeneutik" zählten.[41]
 
Diese Deutung der Quellen des christlichen Glaubens veranlaßte Bauer schon während seiner Bonner Zeit zu massiven Angriffen nicht nur auf die Theologie seiner Zeit,[42] sondern allgemeiner auf den Preußischen Staat, der sich ab etwa 1830 ausdrücklich als "christlich" verstand. Es ist eine aus heutiger Sicht seltsam abstrakte und schrille Kritik, die fast alles, was Bauer nicht mag, darauf zurückführt, daß der Staat und seine Theologen die Macht verschleiern, die das Christentum auf alle Zustände Preußens ausübt - in ihrem zuweilen fast hysterischen Ton erinnert sie an die Kritik, die 120 Jahre später die "68er Generation" an Deutschland im Namen marxistischer Visionen geübt hat. Letztlich ist sie nur einerseits durch die Kränkung über die Verbannung von der Universität zu erklären, spiegelt aber andererseits - wie bei allen Linkshegelianern - auch die Enttäuschung darüber wider, daß die empirische Wirklichkeit so deutlich hinter der Verklärung zurückblieb, die ihr Hegel angedeihen ließ. Freilich kam Bauer nie wie Marx der Gedanke, daß der Staat als solcher der Schuldige sein könnte; er fordert von ihm nicht, er solle verschwinden, sondern versuchte einen, wie er es nannte, "wirklichen Staat"[43] herbeizukritisieren, der nur dadurch entstehen könnte, daß das Christentum verschwand oder doch zu einer gesellschaftlich wirkungslosen "Privatsache" wurde, "als Bedürfnis der Schwäche, als Strafe der Unbestimmtheit, als Folge der Mutlosigkeit". "Wir wollen", so schreibt Bauer 1842, "nicht nur für unsere Person mit Kirche und Religion brechen, sondern auf eine allgemeine Weise, so daß der Bruch eine Angelegenheit der Welt, die allgemeine Sache der Geschichte wird".[44]
 
In einem Vortrag, der sich vornehmlich mit Bauers Gedanken über die Juden und über Rußland befassen soll, kann ich nicht näher auf Bauers schwierigen Begriff des "Selbstbewußtseins" eingehen;[45] man könnte ihn vielleicht dahingehend zusammenfassen, daß er die nach Befreiung und Freiheit drängende Vorstellung der Menschheit von sich selbst und ihrer Welt ist, gleichsam Hegels als objektive Kraft verstandene Philosophie des Geistes nach Streichung des absoluten Wissens, aber unter Bewahrung der Vorstellung, daß die Philosophie (oder, wie Bauer meist sagt: die Wissenschaft) der Gipfel des Seins ist. Bauer hat diesen Begriff, von dessen Standpunkt aus er seit 1834 alle seine Kritiken[46] zu führen behauptete, nach 1845 immer seltener und bald gar nicht mehr gebraucht, und in einer Wahlrede von 1849 nur noch betont, sein "Schlachtruf" von der Kritik[47] sei "weiter nichts, als der wirkliche Gebrauch des Auges", der dem Gegenstand das Recht zurückgibt, "zu sein, was er seiner Natur nach sein will".[48] Was er jedoch auch nach 1848 beibehielt, war seine Vorstellung vom Verlauf der Geschichte. Sie ist eine Variante der Geschichtsphilosophie Hegels: Es gibt ein - freilich nur auf Umwegen zu erreichendes[49] - Ziel der Menschheitsgeschichte, die rationale Freiheit. Aber dieses Ziel ist eben nur auf Umwegen zu erreichen, wobei das jeweils echt Neue nicht wie bei Hegel am Ende eine Synthese ist, sondern den völligen Untergang des Alten zur Voraussetzung und Folge hat. Ohne es sehr ausdrücklich zu sagen, verteidigt Bauer damit weiterhin Hegels Vorstellung, daß die Aufwärtsbewegung der Geschichte nur über Entfremdungen zu erreichen ist; dies erlaubt ihm im Gegensatz zu Feuerbach und Marx, das Christentum und allgemeiner die Religion nicht als einen im Grunde völlig unnötigen Irrweg, sondern als einen Fortschritt zu deuten, der dann aber am Ende einer völligen Gottlosigkeit weichen muß. In gewisser Weise erinnert diese Vorstellung an Comtes "Dreistadiengesetz",[50] wobei freilich die Vollendung nicht einfach Wissenschaft, sondern Wissenschaft und Freiheit ist.
 
Bauers Kritik des Judentums war zunächst die Kritik einer Religion, die ärgerlicherweise nicht mit der Entstehung des Christentums verschwunden war. Während das Christentum sich als fähig erwiesen hatte, in der späten Aufklärung und am Ende in Hegels spekulativer Philosophie über sich selbst hinauszuwachsen und damit seine Überwindung zumindest grundsätzlich vorzubereiten, blieben die wenigen verbleibenden Juden ihrer Tradition treu.[51] Das Christentum war einen entscheidenden Schritt weitergegangen, war in Wirklichkeit auch kein jüdisches, sondern ein griechisch-römisches Erbe, aber die Juden waren trotz des Talmuds geblieben, wo sie sich ursprünglich befunden hatten. Zunächst bemerkt man bei Bauer nur einen - freilich heftigen - Widerwillen darüber, daß "alle Judenfreunde und die Juden" bisher getan hätten, "als ob es keine Kritik gäbe".[52] Damit ist mehr als bloß eine persönliche Kränkung des Kritikers (und Alttestamentlers) Bauer gemeint; er gebrauchte ja den Ausdruck "Kritik" lange Zeit so, als wäre sie ein objektives, transpersonales Geschehen.[53] Es wäre wohl auch zu einfach, seine kritischen Äußerungen über die "Judenfrage" aus dem Jahre 1842,[54] mit der sich Marx im darauffolgenden Jahr in den Deutsch-französischen Jahrbüchern auseinandersetzte,[55] nur als Kritik der Voraussetzungen des Christentums zu deuten, gleichsam als Verleumdung des Ursprungs des christlichen Glaubens, wie man ihr u.a. bei Feuerbach begegnet;[56] Bauer hatte ja schon damals Zweifel an diesem Ursprung. Vielmehr geht es Bauer darum, etwas fortzukritisieren, was noch weniger Recht auf Existenz als der christliche Glaube oder das christliche Preußen hat und nun dennoch von Preußen verlangt, als bürgerliche Existenz anerkannt zu werden.[57] Die damals vieldiskutierte Frage[58] der Emanzipation der Juden ließe sich, so Bauer, nur dadurch lösen, daß der Jude sein Jüdischsein und Preußen sein Selbstverständnis als christlicher Staat aufgibt.[59]
 
In der zweite Jahrhunderthälfte scheint sich Bauer allerdings zu einem der massivsten deutschen Antisemiten seiner Zeit gewandelt zu haben. Wir haben dafür freilich - neben einem in New York erschienenen Artikel[60] - nur einen Beleg, seinen langen Artikel "Judentum, das, in der Fremde" in dem von Hermann Wagener herausgegebenen Staats- und Gesellschafts-Lexikon,[61] den Bauer ein Jahr später in Buchform herausgab. Bauers Zusammenarbeit mit Wagener ist in ihren Einzelheiten heute nur noch schwer zu rekonstruieren, zumal es über diesen rührigen Konservativen, der später Bismarck in sozialen Fragen beriet, bisher m.W. keine monographische Untersuchung gibt.[62] Wagener wurde 1848 mit 33 Jahren erster Herausgeber der sog. Kreuzzeitung, die Gedanken des Adels und der evangelischen Geistlichkeit im Sinne der Gegenrevolution vertrat, gab in den 50er Jahren die sozial-politische Wochenschrift Berliner Revue heraus und in den Jahren 1859-67 das erwähnte Lexikon. Warum er, ein gläubiger Protestant, sich gerade Bauer als Mitarbeiter[63] ausgewählt hatte, läßt sich nur noch vermuten: Da die Konservativen Schwierigkeiten hatten, Wähler oder auch nur Sympathisanten unter Stadtbewohnern zu gewinnen, schien es naheliegend, Antisemitismus zu schüren; der Preuße begegnete ja Juden fast nur in Städten.[64] Zwar pflegt man den Beginn eines bewußten und weitverbreiteten deutschen Antisemitismus ab dem sog. "Gründerkrach" der frühen 70er Jahre des 19. Jahrhunderts zu datieren;[65] aber zweifellos gab es ihn zumal unter Konservativen schon deutlich früher, wobei die Juden aufgrund der sie kennzeichnenden Modernitätsnähe einer Minderheit als Sündenböcke für Modernisierungsübel herhalten mußten. Jedenfalls dürfte sich Wagener vornehmlich aus diesem Grund mit Bauer verschworen haben; und in der Tat wurde der vor allem oder gar ausschließlich von Bauer formulierte Antisemitismus des Wagener'schen Lexikons für längere Zeit zu einem tragenden Thema der Konservativen.[66]
 
Der fragliche, fast 60 engbedruckte Seiten lange[67] Artikel, der in einem Stil geschrieben ist, dem man sonst bei Bauer nicht begegnet (vielleicht ist er durch den Lexikon-Charakter veranlaßt), vereint in nicht allzu kunstvoller Weise mehrere verschiedene Argumentationslinien. Zu Beginn und dann immer wieder betont Bauer in leicht veränderter Form einen zentralen Gedanken der beiden Aufsätze aus den frühen 40er Jahren: Der Glaube und die Kultur der Juden gehörten einer durch die griechisch-römisch-christliche Aufwärtsbewegung der Geschichte endgültig überholten Vergangenheit an und hätten insofern keine Zukunft, ja keine Berechtigung mehr. Die Juden seien "antiquiert, mit dem Heidentum auf eine Stufe herabgedrückt" und insofern "paganisirt".[68] Dies bewirke unter Juden eine Verbitterung, die sie veranlasse, Empörer zu sein, "den Groll und die Verbitterung zu einer weltgeschichtlichen Macht" zu erheben.[69] So würden sie jeder Unruhe zujubeln, jede Revolution bejahen, dabei aber jeweils nur das Alte, also sich selbst, anstreben, sie repräsentierten das Naturwesen und das Fleisch im Gegensatz zum Geist, seien Anhänger des Erdgeistes.[70] Daß die Judenherrschaft "zum Gespenst unserer Tage" wurde, sei freilich allein die Schuld der Christen: In ihrer Großzügigkeit hätten sie seit der Aufklärung die Duldung und Emanzipation der Juden gefördert. Die drohende Judenherrschaft sei mithin "Christenwerk", eine "aus theilnehmendem Herzen hervorgegangene Selbsttäuschung";[71] die Juden haben sich nicht etwa den Christen aufgedrängt, sondern diese hätten sie "gerufen, eingeführt [...] und übermüthig gemacht". "Diese ungeheuere Erlösungsarbeit haben die Juden so verstanden, als ob dadurch ihre rohe Natürlichkeit und ihr wildes Naturblut [...] zur Weltherrschaft erhoben werden solle."[72] Letztlich liege der Grund für all dies in der "Leibesbeschaffenheit" des Juden: "sein Fuß ist meistens ein Plattfuß" (weshalb er "nicht fest und sicher stehen kann"), sein Unterkörper ist "wie beim Neger meistens schwach und fehlerhaft ausgebildet und oben unrichtig an den Oberleib angefügt", seinem Rücken "fehlt die Festigkeit des Grats", sein Kopf macht eine "würdige, aufrechte Haltung unmöglich". Schon allein wegen solcher physiologischen Züge ist "am Juden alles zerfahren und unordentlich", hat er kein "aufrechtes Wesen".[73] Kein Wunder also, daß Juden nichts kulturell Bedeutendes auf die Beine bringen können und sich nur dem Handel widmen, am Ende den "Geldmarkt der Welt" beherrschen: Es gibt keinen bedeutenden jüdischen Dichter oder Komponisten, Spinoza läßt Bauer nicht gelten,[74] Mendelssohn folgt nur dem Muster von Beethoven,[75] Offenbach travestiert mit seinen Spottburlesken "Glucks Palingenesie des Alterthums", unter den Juden gibt es keinen, den man als "deutschen Dichter" gelten lassen könnte.[76] All dies könne man freilich, so betont Bauer immer wieder, nicht den Juden vorwerfen: "nur die Christen sind für die Geldherrschaft von Fremden verantwortlich zu machen, nicht der Jude".[77] Die Christen, nicht die Juden, haben zu verantworten, daß sich unter die Germanen Spekulanten, denen "das Unglück des Staates, welches sie bereicherte, ein Gelächter, ein Witz" sind, einschleichen. Aber auch dies habe am Ende, so schließt Bauer den grotesken Artikel, seinen Vorteil. Gäbe es die Juden nicht, müßten die Christen die "profanen und geschäftsmäßigen Zwecke" dieser Welt übernehmen. Der Text endet deshalb fast versöhnlich mit einem Lutherzitat: "Wenn die unnützen Leute müßten alle sterben, so müßten doch wir unnütz werden; denn der Teufel muß unnütz Gesinde haben. Darum lasset sie immerhin leben, weil ihnen Gott das Leben gönnt."[78]
 
Obwohl wir nicht wissen, ob der Tenor dieses Artikels vielleicht mit dem Herausgeber abgesprochen war, kommt man kaum umhin, dem Urteil eines seinerzeit prominenten österreichischen Historikers zuzustimmen, daß er den Juden darstellt, als wäre er "ein Ausdruck des Bösen in der Welt".[79] Es ist freilich nicht einfach, Bauers späte Kritik der Juden und des Judentums in die Geschichte des Antisemitismus einzuordnen. Sie ist eindeutig rassistisch, obwohl Hegel zwar Rassenverschiedenheiten anerkannte, sich jedoch deutlich gegen die Vorstellung ausgesprochen hatte, man könne zwischen "berechtigten und rechtlosen Menschengattungen" unterscheiden.[80] Daß Bauer Gobineaus Essai sur l'inégalité des races humaines kannte (der erste Teil erschien 1852), ist nicht ausgeschlossen, aber auch nicht nachweisbar. Genauere Nachforschungen über die Quellen von Bauers antisemitischer Darstellung würden vermutlich zeigen, daß die Letztere ein Bindeglied zwischen dem zweifellos vorhandenen latenten deutschen Antisemitismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem massiven Antisemitismus nach der Finanzkrise von 1873 ist.
 
Bauers Überlegungen über die Bedeutung Rußlands für Europa[81] sind ohne erkennbaren Zusammenhang mit seinem Antisemitismus; sie hängen jedoch recht deutlich mit seinen exegetischen Analysen zusammen. Das Modell, nach welchem Bauer die wesentlichen Züge seiner Gegenwart deutet, lehnt sich - auch und gerade nach 1848 - an seine Vorstellung an, daß es einen Zusammenhang zwischen einerseits dem Untergang einer Geistesformation und der Entstehung einer neuen und andererseits der Machtballung und deren sich verabsolutierendem Selbstverständnis gibt.[82] Wie das nun dahinsiechende Christentum sich ursprünglich dem stoischen Widerwillen gegen die Selbstvergottung der Cäsaren verdankt, einem Widerwillen freilich, dessen Gottesvorstellung vom Cäsarentum mitgeprägt war, sieht Bauer im neuzeitlichen Imperatorentum, also Imperialismus,[83] die Chance für das Heranbrechen einer neuen Zeit.[84] In dieser Weise deutete Bauer schon in den 40er Jahren Napoleon,[85] wird er später Bismarck verstehen[86] und stellt er in den 50er Jahren auch das Problem dar, daß Rußland Europa aufgibt.[87] Seine Perspektive bringt es mit sich, daß er die Auffassung liberal-demokratischer Kreise, die in Rußland vor allem eine Gefahr sahen, und jene deutscher Konservativer, die Rußland eher als eine Schutzmacht Europas beurteilten,[88] miteinander in origineller Weise verbindet. Die Zwiespältigkeit seines Urteils kommt gut im eindrucksvollen Bild der Sphinx zum Ausdruck:
 
"Dieses Volk", gemeint sind die Russen, "mit dem Antlitz des Menschen und mit dem Leib des Löwen ist die Sphinx, die vor dem jetzigen Europa steht und ihm die Aufgabe gestellt hat, das Rätsel der Zukunft zu deuten, die Augen des Ungethüms sind unverwandt und lauernd auf Europa gerichtet, seine Löwentatze ist erhoben und zum Schlage bereit; Europa beantworte die Frage und ist gerettet, es höre auf an der Frage zu arbeiten, es lasse die Antwort auf sich beruhen oder gebe sie dem Zufall anheim und es wird die Beute der Sphinx, die es mit eiserner Gewalt niederhalten wird."[89]
 
Um dieses Bild richtig zu verstehen, muß man davon ausgehen, daß das Mißlingen der Revolution von 1848, von der er sich eine republikanische oder gar demokratische[90] Vollendung der Französischen Revolution erwartet hatte, Bauer davon überzeugte, daß die Kultur Europas und insbesondere Deutschlands im Sterben liegt:[91] Die Staaten haben sich "in eine Menge von Individuen aufgelöst, die nur noch ihre eigenen Interessen kennen".[92] Dies auszusprechen ist kein düsterer Pessimismus, da ja alles dafür spreche, daß "mitten in der Auflösung die reichsten Lebenskeime" verborgen sind[93] So hält er denn Ausschau nach dem Land und der Kultur,[94] denen die Zukunft gehört, und seine exegetischen Forschungen legen ihm nahe, daß es zu einem Universalreich kommen wird, das angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse nur eine russische Diktatur über Gesamteuropa sein kann. "Der Zar weiß [...] daß sein Volk eine große, ja, die entscheidende Rolle zu übernehmen haben, daß es seine größte historische That vollbringen wird, wenn die innere Auflösung des Westens zu jener blutigen Verwirrung fortgehen wird, die die bewaffnete Intervention des Ostens nöthig macht".[95] Doch Rußland kann nicht "seine patriarchalische Cultur und seine Gemeindeverfassung" in den Westen transportieren; es hat zwar die Macht und aufgrund seines kolonisatorischen Dranges[96] auch den Willen und die Kraft, Europa diktatorisch zu einer neuen Einheit zusammenzuschweißen, aber die neue Kultur, die "Nichts vom Alten" will und "dem Menschen erst die volle Herrschaft und Meisterschaft über die Welt gibt",[97] kann es nur schaffen, wenn Deutschland ihm dabei hilft. Deshalb sind "die deutsche und die russische Frage [...] die einzigen lebendigen Fragen des neueren Europas"; "das Germanenthum in seiner vollendeten Entwicklung und mit dem Russentume vereint wird den Einzelnen erst zum Souverän seiner Welt machen".[98] Der Russe kann zwar "den abgenutzten Ideen des Abendlandes seinen rücksichtslosen Druck" entgegensetzen, "aber die Gegensätze zusammenfassen und in einer neuen Geburt vernichten, das wird er dem Germanen lassen müssen".[99]
 
Es hängt also alles davon ab, wie Europa und letztlich Deutschland[100] der russischen Sphinx antworten; Europa hat nur in einer Synthese des "nomadischen Abenteuertriebs"[101] der Russen und der germanischen Kultur eine Zukunft. Dies ist zugleich eine Lebensfrage für Rußland, denn
 
"der Grieche ist mit seinem schöpferischen Genius [...] der Lehrer der Menschheit geworden; der Römer hat [...] ein zusammenhängendes Ganzes [...] geschaffen; der Germane hat [...] der neuen Welt ihre Grundlage gegeben; das russische Lebensprinzip gehört dagegen in seiner bisherigen Form Rußland allein an - das Übergewicht, welches es dem russischen Volke über den zersplitterten und aufgelösten Westen[102] giebt, enthält zugleich sein eigenes Fatum in sich."[103]
 
Was soll dieses Lebensprinzip sein, von dessen Weltherrschaft Bauer zumindest "die Vorstufe zum Abschluß" erhofft, "den eine fünfhundertjährige Bewegung suchte"?[104] Was ist es, das Bauer an Rußland so fasziniert? Obwohl Marx meinte beweisen zu können, Bauer sei "positiv von Rußland bezahlt"[105] worden, war ja Bauer nie in Rußland gewesen, kannte offenbar keinen einzigen Russen,[106] zitiert auch kaum eine Quelle. Vermutlich hatte er über Rußland nicht viel mehr als die drei Bände des Westfalen und konservativen preußischen Regierungsrates Freiherr von Haxthausen[107] gelesen, der 1843/44 in Rußland gewesen war, den Europäern (und sogar den Russen) erstmals[108] die russische Dorfgemeinschaft, den Mir bzw. die Obščina, dargestellt hatte, und trotz agrarpolitischer Bedenken[109] zumal nach der Revolution von 1848 meinte, die auf patriarchalischen Prinzipien beruhende "demokratisch-organische Gemeinde" müsse angesichts der "atomistisch-demokratischen Gesellschaft" des Westens wenigstens in Rußland unbedingt erhalten bleiben.[110] Ob Bauer wirklich, wie nahegelegt worden ist,[111] durch das Studium Haxthausens und seine eigenen Überlegungen über Rußlands Rolle in Europa zum Konservativen geworden war, mag dahingestellt bleiben; was ihn aufgrund von Haxthausens Darstellung an Rußland faszinierte, war offenbar der Gegensatz zum soziopolitischen Atomismus des Bürgertums der westlichen Welt. Was er bei Haxthausen über die Russen erfuhr, entsprach seiner immer noch von Hegel beeinflußten Vorstellung von einem Staat, in dem eine interessenfreie Verpflichtung für das Ganze problemlos mit individueller Freiheit vereinbar war, ja wahre Freiheit einen "wirklichen Staat" voraussetzte, der partikularistische Interessen transzendiert.[112] Selbst und gerade die russische Kirche stellte sich ihm als Teil der "Unterordnung unter das Ganze" dar, das an "Sparta und an Platos ideales Staatswesen" erinnerte:[113] Sie hat sich ihr "ungebrochenes, unerschüttertes Wesen" erhalten, ihr "ruski Bog" ist mit dem Jupiter capitolinus der Römer vergleichbar, sie ist mit sich fertig, nicht angekränkelt wie seit Jahrhunderten die Christenheit im Westen.[114] Daß sich mit all dem Bauers Vorstellung von der Bedeutung der Familie,[115] sein bei aller Schrulligkeit eines Einsiedlers nie verlorener Sinn für Verläßlichkeit[116] und Anstand sowie seine Sympathie für das Ländliche, ja Dörfliche verband, ist wahrscheinlich.[117] Interessanterweise begrüßte er sogar die "Rassenmischung", die die russische Weltherrschaft bewirken würde; nur eine "Mischung verschiedener Nationalitäten" könne "jene intellektuelle und moralische Elastizität, jenen weitreichenden Blick und Unternehmergeist erzeugen, die einem Volk die Kraft zur Weltherrschaft geben".[118]
 
Eine Berliner Zeitschrift[119] faßte Bauers Vision 1854 recht treffend zusammen: er "anatomisiere" die Zustände, Einrichtungen und Bestrebungen Europas, "um schließlich den russischen Coloss als personifiziertes Weltgericht herbeizuschwören, aus dessen Zerstörungs- und Läuterungsprozeß das altersschwache Europa erst wieder verjüngt hervorgehen könne". Kein Wunder, daß sich Marx und Engels über die entsprechenden Veröffentlichungen ärgerten, und Engels sogar erwog, eine Erwiderung unter dem Titel "Germanen- und Slaventum" zu veröffentlichen.[120] Nicht nur war die erste Fassung von Bauers Rußland und das Germanenthum in der New-York Daily Tribune erschienen,[121] in der auch Marx und Engels zahlreiche Artikel veröffentlichten (und Marx sein Geld verdiente),[122] sondern sie sahen auch in Rußland die größte Gefahr nicht allein für Europa, sondern insbesondere für die Verwirklichung ihrer eigenen sozialistischen Ziele: Seit der großen Bewegung von 1789 gebe es auf dem europäischen Kontinent, so schreibt Marx um dieselbe Zeit, bloß noch zwei Mächte: "Rußland mit seinem Absolutismus auf der einen Seite, die Revolution mit der Demokratie auf der andern".[123]
 
Bruno Bauer dagegen war zwar nicht, wie es etwas ratlos in einer 1954 eingereichten Dissertation heißt,[124] zu einem "demokratischen Imperialisten" geworden, aber seine Forschungen über den Ursprung des Christentums legten ihm nahe, Ausschau nach Imperatoren zu halten, die Vorzeichen einer neuen Welt sein könnten.[125] Deshalb verliert nach dem Ende des Krimkrieges für ihn Rußland rasch an Interesse. Zwar heißt es noch 1854, der Kampf ende in einem Provisorium, werde aber dennoch "eine bedeutende Folge haben: der Gegensatz gegen den Osten ist für immer entzündet, und er hat den Willen wie das Bewußtsein ergriffen [...] Auch das Slawentum wird sich indessen steigern, um seinen entscheidenden Überfall über Europa auszuführen; anfangs Sieger, wird es dann im Germanentum seine letzte Ergänzung, aber auch seinen Herrn finden."[126] Aber der Ausgang des Krimkrieges scheint ihn doch dazu veranlaßt zu haben, die Zaren nicht mehr als die Herrscher des künftigen Europas vorauszusehen; sie waren doch nicht die Imperatoren, auf die er seine Hoffnung gesetzt hatte. Sein Enthusiasmus für Rußland dauerte nicht länger als drei, vier Jahre. Gelegentlich wird Bauer auch später Rußland erwähnen, einige Jahre vor seinem Tode sogar die Rolle der Nihilisten - er nennt Bakunin und Katkov - zu deuten versuchen, aber wenn er in Zur Orientierung über die Bismarck'sche Ära darstellt, wie Paul I. sich ganz wie die römischen Kaiser für den irdischen Mitgeregenten des Jupiter optimus maximus hielt, meint er es fast nur noch ironisch. Dabei bescheinigt er den Zaren, deren Hof und sogar dem russischen Volk immer noch "etwas Cäsarisches", aber er sieht nun deutlich die inneren Schwächen Rußlands. Höchstens sei denkbar, daß Rußland "seine Freiheitshelden" verdauen und "aus dieser Speise eine höhere Kraft ziehen" würde, so wie Deutschland "die Burschenschaftler und deren Nachfolger in Diener des deutschen Reichs umgewandelt" hat, und es dann zu einem Kräftemessen zwischen Deutschland und Rußland kommt.[127] Zwar spricht er immer noch von der "Wiederholung eines früheren Schauspiels", dessen Ende "gleich der römischen Imperatorenzeit zu einer unerwarteten geistigen Katastrophe führen" könnte, und betont, daß "in den imperatorischen Zeiten immer eine dritte Macht" zum Zuge komme, "welche die immateriellen Güter ihrer jedesmaligen Welt [...] zusammenfaßt und den Ausgang zu einer neuen Zukunft öffnet".[128] Doch weder der Zar noch eigentlich Bismarck[129] scheinen ihm geeignet, das "Zusammenfallen der früheren Götterbilder in den unbestimmten Schimmer eines allgemeinen höchsten Wesens"[130] vorzubereiten, dem das Christentum seinen Ursprung verdankt und von dem - "das höchste Wesen" ist dann wohl der Mensch - Bauer die Vollendung der Geschichte erhofft.
 
Bis 1848 war Bauer ein Republikaner, der meinte, literarisch das Werk der Jakobiner vollenden zu sollen.[131] Wo er nach dem enttäuschenden Ausgang der Revolution politisch beheimatet war, fällt nicht leicht zu entscheiden. Gewiß wurde er nicht, wie die ostdeutsche Marx-Engels-Ausgabe Band für Band in ihrem Index behauptet, ein Nationalliberaler. Von den Liberalen hielt er stets wenig und hatte auch wenig Sympathie für Gestalten des Nationalismus, der für ihn nur ein Beispiel mehr der vielen Partikularismen war.[132] Aber er wurde auch nicht, wie oft nahegelegt wird, ein Konservativer. Zwar sympathisierte er nach 1850 mit den Resten des vorindu-striellen Zeitalters, weshalb Marx 1856 meinte, er sei im Grunde immer ein Romantiker gewesen.[133] Doch findet man bei ihm keine einzige Zeile, die sich zum Königreich Preußen oder Kaiser Wilhelm bekennt. Vielleicht kann man ihn in der zweiten Jahrhunderthälfte am besten als jemand beschreiben, der jeden Glauben an das Durchsetzungsvermögen der Vernunft in der Politik verloren hat. Zwar deutet er auch weiterhin an, am Ende werde der Mensch im Vollsinn des Wortes Herr seiner selbst sein. Aber er hält nun den langen Umweg über einen neuen Imperialismus für unumgänglich.
 

 

[1] Daß dieser Aufsatz mehr Fußnoten als Text enthält, ist Folge meiner Bemühung, einerseits den ursprünglich für eine Tagung vorgesehenen Text nicht wesentlich länger als für einen Vortrag erforderlich zu halten, andererseits jedoch - angesichts des geringen Bekanntheitsgrades von Bauers Werk - so viel Information wie möglich zu vermitteln.
 
[2] Etwa Benz, E.: Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums und der Kirche. Leiden 1956, S. 104 ff.; auch Tschižewskij, D.: Hegel et Nietzsche, Revue d'Histoire de la Philosophie III (1929), S. 321 ff. Nietzsche erwähnt Bauer in den späten 80er Jahren dreimal als einen seiner wenigen "aufmerksamen Leser", vgl. den Index der Ausgabe von K. Schlechta, vermutlich hatte Bauer ihm geschrieben. Daß Nietzsche Bauers Kritik der Evangelien wenigstens z.T. kannte, ist wahrscheinlich, freilich nicht nachzuweisen. Einige Zeit nach Bauers Tod trug er zu der letzten von diesem herausgegebenen Zeitschrift (Schmeitzners Internationale Monatsschrift, Chemnitz), ein Gedicht bei. Bauer erwähnt seinerseits Nietzsche als den deutschen "Montaigne, Pascal und Diderot" in Zur Orientierung über die Bismarck'sche Ära, Chemnitz 1880, S. 287 ff. und zitiert aus dem Abschnitt über D.F. Strauß in Unzeitgemäße Betrachtungen (1873).
 
[3] Z.B. Schoeps, H.J.: Vorläufer Spenglers. Leiden 1955, S. 91 ff. Spengler scheint jedoch Bauers Schriften nicht gekannt zu haben, vgl. eine der letzten größeren Untersuchungen: Farrenkopf, H.: The Prophet of Decline. Louisiana State University Press, 2001.
 
[4] Wenn ich recht sehe, gibt es bis heute - neben dem langen Nekrolog von E. Schläger in der bis zu seinem Tode von Bauer herausgegebenen Schmeitzners Internationalen Monatsschrift (1882, 6) - nur drei Versuche, Bauers Gesamtwerk nachzuvollziehen: die über 50 Jahre lang gesammelten Notizen des evangelischen Kirchenhistorikers E. Barnikol, die nach seinem Tode (1968) teilweise von P. Reimer und H.-M. Saß herausgegeben wurden (Bruno Bauer. Studien und Materialien. Assen 1972, S. 574), die Erlanger Dissertation von Chr. Dannemann (Bruno Bauer. Eine monographische Untersuchung) von 1969 und das jüngst erschienene Buch von Moggach, D.: The Philosophy and Politics of Bruno Bauer. Cambridge 2003, das zwar für die Zeit nach 1848 wenig ergiebig ist, aber eine sehr sorgfältige Analyse von Bauers Republikanismus enthält. Eine zuverlässige oder gar annotierte Bauer-Bibliographie gibt es bis heute nicht; für die Veröffentlichungen bis 1848 gilt als zuverlässigste die Zusammenstellung von A. Zanardo in Rivista Critica di Storia della Filosofia XIII (1965), S. 1-57. Für das Spätwerk wirkt sich erschwerend aus, daß kaum zu entscheiden ist, welche Artikel in Wageners geschwätzigem Lexikon ganz oder teilweise von Bauer verfaßt sind; es geht um fast 25tsd. Seiten. - Da es darüber kaum gründlichere Untersuchungen gibt, konnte ich nicht der Frage nach der Wirkung von Bauers Schriften in Rußland nachgehen. Turgenev erwähnt ihn als Lektüre während seines Berlinaufenthalts (vgl. seinen Brief an Pauline Viardot v. 19.12.1847), auch Bakunin (vgl. Deutsche Jahrbücher V, S. 985 ff.), Belinskij und Gercen scheinen einige seiner frühen Aufsätze gelesen zu haben, vgl. zur Frage Scheibert, P.: Von Bakunin zu Lenin. Leiden 1956, auch Hepner, B.P.: Bakounine et le panslavisme revolutionnaire. Paris 1950, und Tschiewskij, D.: Hegel in Rußland, in: ders. (Hrsg.), Hegel bei den Slawen. 2. Aufl. Darmstadt 1961.
 
[5] Über die Auseinandersetzung kann man jede kompetentere Darstellung der "Philosophie des jungen Marx" nachlesen, z.B. im zweiten und dritten Band von Cornu, A.: Karl Marx et Friedrich Engels. Paris 1962; Rosen, Z.: Bruno Bauer und Karl Marx. Den Haag 1977; Ruička, R.: Selbstentfremdung und Ideologie. Bonn 1977, S. 39-62; Waser, R.: Autonomie des Selbstbewußtseins. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Bruno Bauer und Karl Marx. Basel 1994.
 
[6] Vor allem der Deutschen Ideologie aus dem Jahre 1845, die erstmals 1932 in der MEGA vollständig veröffentlicht wurde.
 
[7] Vgl. das Nachwort von H.-M. Saß in: Bruno Bauer, Feldzüge der reinen Kritik. Frankfurt 1968. Das in den 1960er Jahren erwachte Interesse an Bauers von Hegel entlehnter Theorie des "Selbstbewußtseins" und der (sich eher an Kant anlehnenden) "Kritik" dürfte u.a. durch Überlegungen der Frankfurter Schule geweckt worden sein: verbunden mit der Feststellung, daß das Proletariat gar nicht fähig war, eine wirksame Revolution durchzuführen, erinnerte deren "kritische Theorie" an die Bauer'sche Kritik. Dies scheint H. Marcuse schon in den späten 1930er Jahren gesehen zu haben: Er datierte die Anfänge der "kritischen Theorie der Gesellschaft" in die "dreißiger und vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts", dabei hatte Marx erst in den 40er Jahren zu schreiben begonnen. Vgl. Marcuse, H.: Kultur und Gesellschaft I. Frankfurt 1967, S. 102.
 
[8] MEW, III, S. 17.
 
[9] Wenn man jenseits des Kreises rein wissenschaftlich Interessierter sucht, stößt man am ehesten auf Personen, die man unter einem Titel wie "Konservative Revolution und Preußen" zusammenfassen könnte. Für Carl Schmitt vgl. z.B. Gross, R.: Carl Schmitt und die Juden. Frankfurt 2000, S. 203.
 
[10] Zu den Zeitschriften, die Bauer herausgab, gehören neben der Zeitschrift für spekulative Theologie (Berlin 1836-38) die Allgemeine Literatur-Zeitung (Charlottenburg 1843 /44), Norddeutsche Blätter (Charlottenburg 1844/45) und Schmeitzners Internationale Monatsschrift (Chemnitz 1882), die kurz nach Bauers Tod in Antisemitische Monatshefte umbenannt wurde. Insgesamt veröffentliche Bauer allein bis 1848 über 80 Druckschriften.
 
[11] Der Osteuropahistoriker G. Stadtmüller pflegte zu erwähnen, daß Lexika Marx erst nach 1918 ausführlicher zu erörtern begannen.
 
[12] Vgl. z.B. Was ist jetzt Gegenstand der Kritik?, in: Allgemeine Literatur-Zeitung, 1844, 8, S. 18-26, wiederveröffentlicht in: Bruno Bauer, Feldzüge der Reinen Kritik, S. 200 ff. Bauer kennzeichnete zeitlebens ein elitäres, von manchen Autoren als "aristokratisch" bezeichnetes Selbstverständnis.
 
[13] Vgl. die zwei Wahlreden in: Barnikol, S. 518-531.
 
[14] MEW, XXVIII, S. 466; vgl. auch XXIX, S. 6 und 15.
 
[15] In den späten 50er Jahren pachtete er in Rixdorf bei Berlin für 250 Reichstaler jährlich 50 Acker Land, vgl. u.a. Marx' Brief an Engels v. 10.1.1857, MEW, XXIX, S. 93 ff., und richtete sich mit seinen Büchern in einem Kuhstall ein; gelegentlich verkaufte er selbstgezogenes Gemüse auf dem Berliner Markt. Für verschiedene Beschreibungen, u.a. von Th. Fontane, vgl. Chr. Dannemanns Dissertation, S. 21 ff.
 
[16] Obwohl Bauer zu einem extremen Historismus neigte (vgl. z.B. über Menschenrechte Deutsche Jahrbücher v. 25.1.1843, S. 85), scheint - wie Petras, O.: Post Christum. Berlin 1935, S. 37 ff., ausführt - für ihn "der Stoiker" eine überzeitliche Gestalt zu sein. Petras umschreibt die Haltung des Stoikers nicht unzutreffend: "sie gipfelt in einer stolzen, autarken Haltung, die sich selbst treu bleibt, selbst im Sturz von Welten"; für Bauer sei sie "eine ewige Gestalt, die immer dort wieder auftreten wird, wo im Individuum die Würde der Menschheit angetastet wird".
 
[17] Carl Schmitt bemerkte schon 1944, Bauers Lebenswerk sei "mit dicken Schutthaufen fürchterlichsten Journalismus bedeckt", vgl. Donoso Cortés in gesamteuropäischer Interpretation. Köln 1950, S. 99 (i.V.m. 9), und hatte dabei wohl nicht nur, wie R. Waser in seiner Baseler Dissertation aus dem Jahre 1994, S. 205, meint, die antisemitischen Texte vor Augen. Fast alles, was Bauer je schrieb, erschien zunächst in Zeitungen, Zeitschriften, Lexika u.ä. und erst später als Buch; auch dies ist wohl, obwohl er selten über sie klagte, durch seine materielle Not zu erklären.
 
[18] Vgl. u.a. das Kapitel "Der Einfluß der Existenznöte auf Bruno Bauers Publikationen", in: Barnikol, S. 240 ff.
 
[19] Nicht einfach des Christentums, wie z.B. bei Feuerbach. Zwar scheint Bauer spätestens seit 1840 Atheist gewesen zu sein, aber er hatte eine hohe Meinung von der kulturellen Leistung des Christentums, die mit dem Alter eher zu- als abnahm. So kann er schon 1843 von einer griechischen, römischen und christlichen Geschichte sprechen, die erst mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zu einer "Geschichte der Menschheit" geworden sei (Geschichte der Politik, Cultur und Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Charlottenburg 1843, I, S. 5), und später sogar eine "positive Deutung des Christentums" planen (Die russische Kirche. Charlottenburg 1855, S. 9 ff.). Obwohl er Atheist ist, kritisiert Bauer also nicht die Überzeugung von der Wahrheit des christlichen Glaubens, sondern deren gängige Begründung in der Exegese. Dies ist nicht ohne Bedeutung für das Verständnis von Bauers Antisemitismus: Das Judentum ist für ihn seit dem Entstehen des Christentums überholt, auch kulturell nichts als ein Überbleibsel ohne jede Bedeutung; das Überholtsein des Christentums setzt dagegen erst im 18. Jahrhundert an und ist noch nicht endgültig vollendet.
 
[20] Sie lautete in Berlin und vermutlich auch in Bonn (wo Bauer sich umhabilitieren mußte) "für Religionsphilosophie und Altes Testament". In Berlin las Bauer vor allem über das AT, erst ab dem SS 1839 mehr über das NT, in Bonn vornehmlich über das NT. An beiden Universitäten hatte er nie mehr als 9, oft nur 3 Zuhörer. Vgl. Barnikol, S. 531 ff.
 
[21] Vgl. über ihn Lenz, M.: Geschichte der Kgl. Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin. Halle 1918, II, 1, S. 326-47. 1827 gründete er die Berliner Evangelische Kirchenzeitung, die zu einem Organ der Hegelianer-Kritik der protestantischen Orthodoxie wurde. Sein Hauptwerk war die Christologie des Alten Testamentes. Berlin 1829 ff., die wenige Jahre später auch auf englisch erschien.
 
[22] Über seine Dogmatik vgl. Weber, A.: Le systčme dogmatique de Marheineke. Paris 1857, und die Leipziger Dissertation von E. Ihle (1938). Zahlreiche Informationen enthält Gebhardt, J.: Politik und Eschatologie. Studien zur Geschichte der Hegelschen Schule in den Jahren 1830-1840. München 1963.
 
[23] Vgl. Hegel: Werke, ed. Glockner, XV, S. 8.
 
[24] Es erschienen nur 6 Nummern (1836-38). Zur Geschichte der Gründung vgl. die Berliner Dissertation (1959) von Hertz-Eichenrode, D.: Der Junghegelianer Bruno Bauer im Vormärz, S. 16 f.
 
[25] Sie erschienen in wöchentlichen Lieferungen bis 1846. - Die Spaltung der Hegelschule in eine Rechte, eine Linke und ein Zentrum entzündete sich bekanntlich zunächst am Leben Jesu; die politische Diskussion begann A. Ruge 1842 in den Hallischen Jahrbüchern. Der Beginn der Auseinandersetzung dreht sich ausschließlich um die Frage, wie sich die spekulative Idee im Sinne Hegels zur historisch verstandenen biblischen Geschichte verhält. Vgl. Gebhardt, op.cit., auch meine Überlegungen in Theory and Practice. London 1967, S. 187 ff.
 
[26] Eine differenzierte Zusammenfassung von Strauß' zentralem Gedanken, der Gottmensch sei die Menschheit, vgl. Das "Leben Jesu" kritisch bearbeitet. Tübingen 1935/6, II, S. 734 ff., findet man bei Sandberger, J.F.: David Friedrich Strauß als theologischer Hegelianer. Göttingen 1972, S. 91 ff.
 
[27] Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik II, 1836, S. 702.
 
[28] Ebd. III (1837), S. 7 ff.
 
[29] In welchem Sinne Bauer je ein gläubiger Christ war, läßt sich nicht feststellen; vieles spricht dafür, daß er anfangs zwar die Glaubensaussagen für wahr hielt, bei ihm aber nie - wie z.B. beim jungen Engels - so etwas wie eine emotionale Bindung bestand.
 
[30] Vgl. vor allem das anonym erschienene Buch Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen. Leipzig 1841, auch - ebenfalls anonym - Hegels Lehre von der Religion und Kunst von dem Standpunckte des Glaubens aus beurtheilt. Leipzig 1842 (Reprint Aalen 1967).
 
[31] Bauer ließ sich 1839 von der Berliner Universität nach Bonn versetzen, weil seine Kritik der Exegese Hengstenbergs ihm eine Karriere in Berlin verbaut hatte. Dort wurde er von der Theologischen Fakultät, die wenig von Hegel beeinflußt war, mit Mißtrauen empfangen. Schon bald begannen Versuche, ihn zu entfernen. Für Einzelheiten, zumal die vom Berliner Ministerium eingeholten Gutachten, vgl. Barnikol, S. 136 ff. Der Brief des Dekans Bleek, in dem dieser Bauer die Rücknahme der licentia docendi mitteilt, ist vom 29.3.1842 datiert; Bauer hatte vom SS 1834 bis zum SS 1839 in Berlin, vom WS 1839/40 bis zum WS 1841/42 in Bonn gelehrt und insgesamt über 40 Veranstaltungen angeboten; bei seiner Entlassung hatte er noch nicht das 33. Lebensjahr erreicht.
 
[32] Geschichte der Leben Jesu-Forschung. 9. Aufl. Tübingen 1984, S. 190. Eine detaillierte Analyse der Schritte, die Bauer dabei durchlaufen hat, gibt es m.W. noch nicht; am nächsten kommt ihr Koch, L.: Humanistischer Atheismus und gesellschaftliches Engagement. Stuttgart 1971.
 
[33] Bauer neigt zu einer Überschätzung der Rolle der Juden im Römischen Reich; sogar Horaz hält er für einen Anhänger des jüdischen Glaubens. Über deren wirkliche (und keineswegs bedeutungslose) Rolle vgl. z.B. Giordano, C. / Kahn, I.: The Jews in Pompei, Herculaneum, Stabiae and in the cities of Campania Felix. 3. Aufl. Rom 2001, auch Squarciapino, M.F.: Ebrei a Roma e ad Ostia, Studi Romani XI (1963), 2, S. 129-141.
 
[34] Vgl. Engels 1883 in MEW, XXI, S. 10: "Wenn wir in der Tat Philo den geistigen Vater des Christentums nennen können, so war Seneca der Onkel".
 
[35] Vgl. Christus und die Caesaren. Reprint Hildesheim 1968, S. 299.
 
[36] Diese Vorstellung dürfte wohl von Hegel beeinflußt sein. In den Vorlesungen über die Philosophie der Religion, an deren 2. Aufl. Bauer wie schon erwähnt mitgewirkt hatte, schiebt Hegel zwischen der Darstellung der "Religion der Erhabenheit" der Juden und jener des "realisierten Begriffs der Religion" der Christen die Analyse der griechischen "Religion der Schönheit" und der römischen "Religion der Zweckmäßigkeit oder des Verstandes". Diese Gliederung ist bei Hegel keineswegs zeitlich gemeint; allerdings fällt auf, wie wenig Hegel in seinem Gesamtwerk die jüdische Herkunft Jesu betont.
 
[37] Loc .cit., S. 325.
 
[38] H.J. Holtzmann in seinem Nachruf in der Protestantischen Kirchenzeitung, 1882, S. 540-543. Holtzmann war einer der prominentesten evangelischen Exegeten seiner Zeit, vgl. u.a. seinen einflußreichen Handkommentar zum Neuen Testament.
 
[39] MEW, XIX, S. 297 ff., XXII, S. 446 ff. Die Änderung betraf u.a. die Datierung der Offenbarung des Johannes; während Bauer meinte, sie sei ein später Text, betrachtete sie Engels wegen ihrer angeblich "barbarischen Sprache" als das älteste, schon 68/69 entstandene Buch der ganzen christlichen Literatur. Ein Vermittler zwischen den Aussagen von Engels und jenen des Marxismus-Leninismus ist Kautsky, K.: Der Ursprung des Christentums. Stuttgart 1908.
 
[40] Vgl. z.B. die Enzyklopädie Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Freiburg 1966 ff., I, S. 995 ff., dort S. 1010 ff. auch eine ausführliche Bibliographie.
 
[41] Vgl. Gibellini, R.: Handbuch der Theologie im 20. Jahrhundert. Regensburg 1995, S. 11ff., S. 33. Ein unmittelbareres Echo fanden Bauers Theorien in den 1930er Jahren im Umkreis der von Ernst Niekisch herausgegebenen national- bzw. konservativ-revolutionären, damals oft als nationalbolschewistisch verstandenen Zeitschrift Der Widerstand, mit der u.a. auch Ernst Jünger zusammenarbeitete, vgl. z.B. Petras, op. cit., S. 35: "Bruno Bauer hat das Verdienst, als erster klar erkannt zu haben, daß die Existenz stoischer Philosophen nach der Art Senecas eine der seelischen Voraussetzungen für die Entstehung der urchristlichen Literatur war" (Petras war einer der Mitarbeiter der Zeitschrift und des Verlages Der Widerstand). Auf den Einfluß Bauers auf Niekisch hat schon 1939 K. Löwith hingewiesen (Von Hegel zu Nietzsche. 4. Aufl. Stuttgart 1958, S. 125, S. 433). Laut der Göttinger Dissertation über Niekisch von F. Kabermann (Widerstand und Entscheidung eines deutschen Revolutionärs. Koblenz 1993, S. 167) hat auf Niekisch vor allem Rußland und das Germanenthum. Charlottenburg 1853, und zwar in Zusammenhang mit der Theorie "imperialer Figuren", gewirkt. Unter "imperialen Figuren" verstand Niekisch - ähnlich wie E. Jünger in Der Arbeiter. Hamburg 1932, oder C. Schmitt in Theorie des Partisanen. Berlin 1963 - Gestalten, die eine historische Epoche definieren, vgl. sein Buch Die dritte imperiale Figur. Berlin 1935 (diese dritte Figur war nach dem "ewigen Römer" und dem "ewigen Juden" "der Arbeiter"; nach dem Zweiten Weltkrieg diagnostizierte Niekisch eine weitere solche Figur, den "Clerk", vgl. Politische Schriften. Köln 1965, S. 289-347). Einen direkten Zusammenhang mit Bauer vermag ich freilich nicht zu sehen; Bauer verstand unter den "Imperatoren" mehr oder weniger konkrete "Herrscher", nicht wie Niekisch "weltgeschichtliche Symbole", vgl. Kabermann, S. 198 ff.
 
[42] Und zwar ausschließlich die protestantische; obwohl er öfter giftige Bemerkungen über Jesuiten (und Irländer und Polen) fallen läßt, scheint Bauer die katholische Theologie und Exegese seines Jahrhunderts nur auf dem Umweg über Ernest Renan gekannt zu haben, der von Katholiken schon bald nach seiner Dissertation über Averroes (1852) nicht nur in Frankreich als Apostat, Häretiker und Kirchenfeind angesehen wurde. Da Renan uneingeschränkt den semitischen Ursprung des Christentums bejahte, schätzte Bauer ihn freilich nicht.
 
[43] Z.B. Die gute Sache der Freiheit und meine eigene Angelegenheit. Zürich 1842, S. 33; auch Anekdota (vgl. Anm. 90), II, S. 150.
 
[44] Die gute Sache etc., S. 39.
 
[45] Die sorgfältigste Analyse dürfte immer noch Stuke, H.: Philosophie der Tat. Stuttgart 1963, S. 124-187, sein. Für Abweichungen von Hegel vgl. auch Moggach, op. cit.
 
[46] Bauer gebraucht den Ausdruck "Kritik" in einem an Kant erinnernden Sinn: Kritik ist nicht eo ipso destruktiv, sondern primär grenzenbestimmend, relativierend. So hindert seine Kritik des Christentums Bauer nicht, das Christentum gegen das Judentum zu verteidigen. Dies ist schon in den Texten über die Judenfrage aus dem Jahre 1843 deutlich (und kann als solches wohl noch nicht, wie Leopold [vgl. Anm. 54] meint, als antisemitisch gedeutet werden); im Lexikonbeitrag "Juden in der Fremde" wird Bauer später hervorheben, der Christ setze seiner Überzeugung "kühn und sicher der allgemeinen Kritik aus", während der Jude "gegen die Kritik so empfindlich" sei, vgl. Hermann Wageners Staats- und Gesellschafts-Lexikon. Berlin 1862, X, S. 628 ff. Diese Vorstellung wird Bauer in der zweiten Jahrhunderthälfte erlauben, sich - obwohl er Atheist ist - gleichsam kulturell als Christ zu verstehen, gelegentlich kann er sogar schreiben "mein Christentum", Die russische Kirche. Charlottenburg 1855, S. 9.
 
[47] Kuno Fischer wies in Hegels Leben. Werke und Lehre. Heidelberg 1901, Nachdruck der 2. Aufl. 1963, II, S. 1169, nicht ohne Unrecht darauf hin, daß Bauers "reine Kritik [...] den Standpunkt, den sie noch heute hatte gelten lassen, morgen umwarf", und zieht eine Linie von Bauer zu "dem Russen Bakunin und seinen Anhängern"; "nun sollte die vernichtende Negation [...] als das Endziel aller Entwicklung gelten, die Hegelsche Philosophie aber als der Weg zum Nihilismus und Anarchismus". Bauer selbst betonte wiederholt, die Kritik müsse sich immer wieder auch gegen sich selbst wenden.
 
[48] Vgl. Barnikol, S. 520.
 
[49] Bauer spricht zwar nicht wie Marx von einem "ehernen Gesetz", deutet aber mehrmals auch nach 1848 an, daß die Geschichte dieses Ziel sicher erreichen wird.
 
[50] Vgl. Koch, S. 159 ff.; daß Bauer Comte gelesen hat, läßt sich allerdings nicht nachweisen.
 
[51] Bauer betont mehrmals, daß der Talmud kein Fortschritt sei, er diene nur dazu, das Gesetz (das Bauer des öfteren dem paulinischen Begriff der Gnade entgegenstellt) "illusorisch" zu machen und zugleich dennoch am Gesetz als Illusion festzuhalten, z.B. Wageners Lexikon, X, S. 638. "Keinen Buchstaben der Satzung hat der Talmud aufgeben wollen, aber er hat ihn in seiner sophistischen und rationalistischen Weise conserviert", S. 640.
 
[52] Vgl. den Brief an Ruge v. 27.10.1842, mit dem er seinen Text über die Judenfrage für die Hallischen Jahrbücher übersandte, veröffentlicht aufgrund des Manuskripts in der Dresdner Landesbibliothek in der Dissertation von Dannemann, S. 225.
 
[53] Sie ist Ausfluß und zugleich Motor des "Selbstbewußtseins", das entfernt an Kants transzendentales Bewußtsein erinnert, nur eben geschichtlich ist. Insofern ist Marxens Vorwurf, z.B. MEW, II, S. 147 und III, S. 82, Bauer falle hinter Hegel zu Fichtes subjektivem Idealismus zurück, nur z.T. berechtigt: Bauer denkt nicht wie Fichte an das Selbstbewußtsein je einzelner Menschen, er versteht es als geschichtlich. Dies ist auch der Unterschied zwischen Bauer und Feuerbach. Zwar nimmt er um ein paar Jahre Feuerbachs These vorweg, daß "das Wesen der Theologie das transcendente, außer den Menschen hinausgesetzte Wesen des Menschen" (Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie, in: Werke, ed. Jodl, II, S. 226) sei, aber dieser Prozeß der Vergegenständlichung menschlicher Eigenschaften mitsamt deren Rücknahme ist für Bauer nicht ein einmaliger, am Ende nur Religion und deren Vollendung in der spekulativen Philosophie erklärender Vorgang, sondern die Art und Weise, wie der Mensch in seiner Kulturgeschichte nach und nach seine Freiheit verwirklicht. Geschichte ist nicht nur für den Bauer der 40er Jahre ein sich ständig wiederholender Kreislauf geistiger bzw. kultureller Produktion und Destruktion, Vergegenständlichung und Aufhebung, Entäußerung und Wiederaneignung, eine fortdauernde Umwälzung der Wirklichkeit, vgl. Stuke, S. 137, Moggach, S. 86, S. 128. Es ist dieses Schema, das - freilich schon positivistisch verstanden - Bauer später erlauben wird, Parallelen z.B. zwischen dem Zeitalter Bismarcks und dem "aufsteigenden römischen Imperatorentum" zu sehen, vgl. das Vorwort zu einer seiner letzten Veröffentlichungen Zur Orientierung über die Bismarck'sche Ära. Chemnitz 1880.
 
[54] "Zur Judenfrage", Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst V (1842), Nr. 302 f., als Buch Braunschweig 1843; "Die Fähigkeit des heutigen Juden und Christen, frei zu werden", in Herwegh, G.: Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz. Zürich-Winterthur, S. 56-71. Für eine Analyse der antisemitische Aspekte dieser beiden Texte vgl. D. Leopold, The Hegelian antisemitism of Bruno Bauer, in: History of European Ideas XXV, S. 179-206 (leidet ein wenig darunter, daß der Verf. nicht auf Zeitströmungen und nicht auf Einzelheiten der linkshegelianischen Vorstellungen eingeht).
 
[55] MEW, I, S. 347-377. Über die Frage von Marxens Antisemitismus ist viel geschrieben worden, eine Zusammenfassung bietet Lamm, H.: Karl Marx und das Judentum. München 1969.
 
[56] Vgl. den Abschnitt in Vom Wesen des Christentums, in dem Feuerbach nicht nur den Egoismus als Prinzip des Schöpfungsgedanken beschreibt, sondern ausführt, der Nutzen sei das oberste Prinzip des Judentums, Werke, VI, S. 133 ff. In Das entdeckte Christentum, ed. Barnikol. Jena 1927, S. 134 ff. dehnte Bauer diese Behauptung auf alle Gläubigen aus: Nur der Atheist kann sich wirklich der Arbeit für die Menschheit hingeben. "Das Vorgeben des Religiösen, daß er Gott liebe, ist im Grunde nur das Geständnis, daß er die Menschheit hasse", S. 136. Den Vorwurf, dies sei im Judentum in besonderer Weise der Fall, begründet Bauer mit dem Hinweis, der Jude würde sich noch deutlicher als der Christ weigern, über sich hinauszuwachsen und damit das Prinzip der Geschichte, "sich selbst kennenzulernen", verleugnen, z.B. Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, 1842, S. 1100 ff.
 
[57] "Das Christentum ist das mit sich fertig gewordene Judenthum und dieses das noch unvollendete, unfertige Christentum", Deutsche Jahrbücher etc., 1842, Nr. 279, S. 1113.
 
[58] Insgesamt erschienen zu dieser Frage in Deutschland 1843/44 über 80 Aufsätze und Druckschriften; vgl. das liberale Staats-Lexikon von Rotteck und Welcker (Altona 1846 ff.) IV, S. 309: "Unter allen Fragen des öffentlichen Interesses giebt es nicht leicht eine andere, welche eine so reichhaltige Literatur darbietet als die gegenwärtige". Obwohl es die Juden als "heimatlose Abkömmlinge eines morgenländischen Volksstammes" und damit als "Einwanderer" und "Fremde" beschreibt, plädiert dieses Lexikon im Namen der "Humanität" und unter Hinweis auf die "verhältnismäßig sehr geringe Anzahl der Juden" für deren bürgerliche Gleichstellung, vgl. IV, S. 309 ff., VII, S. 657 ff. Die Juden machten 1816 in Preußen etwa 1,2 %, 1861 etwa 1,4 % der Bevölkerung aus, freilich aufgrund des Zuzugs aus den vormals polnischen Gebieten mit leicht steigender Tendenz, vgl. die Statistiken bei Nipperdey, Th.: Deutsche Geschichte 1866-1918. München 1990, I, S. 396 ff.; auch Birnbaum, P. / Katznelson, I. (Hrsg.): Paths of Emancipation. Princeton 1995, S. 64; Frankel, J. / Zipperstein, S.J. (Hrsg.): Assimilation and Community. Cambridge 1992, S. 180. Das Wagener'sche Lexikon (vgl. Anm. 68, X, S. 682) gibt im Jahre 1862 für Preußen 1,25 % der Gesamtbevölkerung an.
 
[59] Marx faßt diesen Punkt gut zusammen, wenn er Bauer mit den Worten paraphrasiert: "So lange der Staat christlich und der Jude jüdisch ist, sind beide ebenso wenig fähig, die Emanzipation zu verleihen als zu empfangen", MEW, I, S. 348. Man beachte das Ungleichgewicht: nicht die Juden ihr Jüdischsein und die Christen ihr Christsein, sondern die Juden ihr Jüdischsein und der Staat sein Christlichsein. Bauer hat nicht viel dagegen, daß Christen, sofern sie nicht den Staat prägen, Christen bleiben; die Juden jedoch müssen ihr Judentum aufgeben, weil sie das noch nicht völlig verschwundene Alte mit seinem beschränkten Verständnis des Menschseins repräsentieren, vgl. Leopold, S. 184 ff.
 
[60] The Present Position of the Jews, New York Herald Tribune v. 7.6.1852, vgl. Moggach, S. 55, S. 227; ich konnte diesen Text nicht einsehen.
 
[61] Band X (Berlin 1862), S. 614-671; vgl. Juden in der Fremde. Berlin 1863.
 
[62] Gewisse Einzelheiten kann man entnehmen Shanahan, W.O.: Der deutsche Protestantismus vor der sozialen Frage. München 1962, S. 420 ff., auch Hahn, A.: Historische Studien, Heft 241 (Berlin 1934, Reprint Vaduz 1965), S. 88 ff.
 
[63] Und zwar offenbar für die ganzen acht Jahre.
 
[64] Nipperdey, Th.: Deutsche Geschichte, spricht von einem "Zweck-Antisemitismus" der Konservativen, z.B. II, S. 306 ff.
 
[65] Vgl. ebd., S. 294 ff.
 
[66] Um Genaueres über die Auswirkung von Bauers Antisemitismus zu sagen (etwa, ob er ein erwähnenswerter Schritt in Richtung auf den Holocaust ist) müßte man a) sorgfältig antisemitische Texte derselben Zeit und b) die Auflage und das Echo von Wageners Lexikon untersuchen. Außerdem müßte man c) nach Kriterien suchen, die zu entscheiden erlauben, welche der zahllosen Artikel Bauer selbst verfaßt hat. Es fällt auf, daß Bauer in Untersuchungen über den deutschen Antisemitismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum je erwähnt wird.
 
[67] Rund 230tsd. Buchstaben. Der Artikel wird von zwei kürzeren begleitet: über die Geschichte des Judentums bis zu Christi Geburt (15 S.) und über das "Judenthum in der Gegenwart, in statistischer Beziehung" (21 S.), der u.a. Bemerkungen über die spätere jüdische Geschichte enthält. Diese Artikel, von denen der erste vergleichsweise sachlich ist, sind wohl nicht aus Bauers Feder, obwohl einige Formulierungen an seine Denkweise erinnern.
 
[68] Staats- und Gesellschafts-Lexikon, hrsg. von Hermann Wagener. Berlin 1859 ff., X, S. 614.
 
[69] Ebd.
 
[70] Ebd., S. 618, S. 627. Zur abschätzigen Bedeutung von "Erdgeist" vgl. Hegels Phänomenologie des Geistes, Werke II, S. 279: "der Erdgeist, dem das Seyn nur, welches die Wirklichkeit des einzelnen Bewußtseyns ist, als die wahre Wirklichkeit gilt". Die Wendung "Geist der Erde" findet man schon in Goethes Urfaust, vgl. den Kommentar in Werke (Jubiläumsausgabe). Darmstadt 1998, III, S. 672 ("der im inneren der Erde wohnte und die Ewigkeit und den Chaos zum Gefährten hatte"). Schon Thomasius, Chr.: Versuch vom Wesen des Geistes. Halle 1699, S. 109, kontrastiert den "reinen Gottesgeist, welcher Licht ist", mit der "irdischen Luft" des "Geists der Erden", eine Formulierung, die Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion beim Vergleich der jüdischen mit der persischen Religion (abgeändert) aufzugreifen scheint, vgl. Werke XVI, S. 45 ff. in Anschluß an XV, S. 422 ff. (das von den Persern verehrte Licht ist eine Vorform des jüdischen Gottes). Bauers Wendung von dem Juden als einem "bloßen", "abgeschlossenem, verheidnischtem Naturwesen", "mit starrem, unaufgeschlossenem und von stumpfen Mißvergnügen überzogenem Gesicht" vgl. loc .cit., S. 626 ff., auch S. 639, weist in dieselbe Richtung. Der Jude ist "vorzeitig reif", "fertig in seiner Unfertigkeit", "mit dem Abschluß im Knabenalter höchlichst zufrieden", S. 627. Hegel hatte demgegenüber noch betont, im jüdischen Glauben sei "der Geist [...] sich erhebend, erhoben über die Natürlichkeit", Werke XVI, S. 43.
 
[71] Loc. cit., S. 616.
 
[72] Ebd., S. 616 ff.
 
[73] Ebd., S. 621.
 
[74] Schon in den 40er Jahren sieht Bauer einen der größten Fehler Hegels darin, daß er sich nicht von Spinozas Substanzbegriff befreit, sondern ihn nur mit dem Subjektbegriff ergänzt habe, und wirft z.B. Feuerbach vor, diesen Fehler verstärkt fortgesetzt zu haben, z.B. Wigands Vierteljahrschrift III (1845), S. 86 ff. Er denkt dabei u.a. an die berühmte Stelle in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes, in der es heißt, alles komme darauf an, "das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken", Werke II, S. 22. Vgl. zur Frage Moggach, S. 107 ff., S. 181 ff.
 
[75] Bauer war stets ein großer Verehrer von Beethoven, u.a. deshalb, weil dessen Musik "stürmerisch" sei, vgl. etwa die Besprechung eines Quartettkonzerts im Feuilleton der Rheinischen Zeitung v. 1.3.1842, in der angedeutet wird, daß dieserart Musik das künstlerische Gegenstück des "Selbstbewußtseins" sei. Vgl. auch Moggach, S. 37 ff., dessen Bauer-Interpretation stark durch das Studium von Bauers Berliner Preisschrift De pulchri principiis aus dem Jahre 1829 beeinflußt ist (er hat sie zusammen mit W. Schultze 1996 im Berliner Akademie-Verlag erstmals herausgegeben).
 
[76] Loc. cit., S. 629 ff.
 
[77] Ebd., 623, vgl. S. 669. Bauer nennt u.a. Auerbach, Börne und Heine; keiner von ihnen sei ein deutscher Dichter. Ähnlich negativ urteilt Bauer über jüdische Wissenschaftler: Bei aller Rührigkeit hätte keiner von ihnen "zu einer Reform, Restauration oder Revolutionierung der Wissenschaft den Grund gelegt", S. 630, dennoch sei die "medizinische Journalliteratur" in jüdischen Händen.
 
[78] Ebd., S. 671. Bauer gibt keine Quelle an.
 
[79] Heer, F.: Europa - Mutter der Revolutionen. Stuttgart 1964, S. 314. Heer (1916-1983), der an der Universität Wien lehrte, galt nach dem Krieg als "Linkskatholik", da er, obwohl er ein treuer Gläubiger war, sich nicht scheute, der Kirche massive Vorwürfe zu machen, auch und gerade in Zusammenhang mit dem Holocaust.
 
[80] Vgl. Enzyklopädie § 393, Werke X, S. 70 ff. Schon bei Kant findet man Andeutungen der Auffassung, daß es unter den Rassen "Vollkommenheitsunterschiede" gibt, vgl. seine Vorlesungen über Physische Geographie, 2.T. 1.Abs. § 3 ff. (Akademie-Ausg. IX, S. 195 ff.), auch die lange Fußnote in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), § 43, Werke, ed. Weischedel, VI, S. 517 ff., laut welcher Juden eine "Nation von lauter Kaufleuten" und insofern eine "Nation von Betrügern" seien. Dies sei kein "Fluch", sondern eine "Segnung", "zumal der Reichtum derselben, als Individuen geschätzt, wahrscheinlich den eines jeden anderen Volks von gleicher Personenzahl jetzt übersteigt".
 
[81] Es handelt sich um folgende Schriften, die alle im Verlag des Bruders in Charlottenburg erschienen: Rußland und das Germanenthum. 2 Hefte, 1853, 121 und 84 S.; (anonym) Die Aufklärung der Nationalzeitung über B. Bauer. 1853, 15 S.; Rußland und England.1854, VI + 107 S.; engl. Übersetzung desselben, 1854, IV + 88 S.; Die jetzige Stellung Rußlands. 1854, 24 S.; französ. Übersetzung desselben unter dem Titel De la dictature occidentale. 1854, V + 38 S.; Aberdeen, 1854, 15 S.; Deutschland und das Russenthum. 1854, 29 S.; Die russische Kirche. Schlußheft. 1855, 35 S. Zur Abfolge der Schriften vgl. Barnikol, S. 310-346.
 
[82] Vgl. z.B. Christus und die Cäsaren, S. 2: "der Weltherr, der auf seinem Thron zu Rom alle Rechte in sich verschlossen hielt und das Maass von Allem in sein Urtheil faßte", hat im Herrn der evangelischen Geschichte "zwar seinen feindlichen Bruder, aber doch einen Verwandten".
 
[83] Der Ausdruck, den Bauer (im Gegensatz zu "Imperatorentum") erst in den späten Jahren gebraucht (z.B. im Titel des Buches Disraelis romantischer und Bismarcks sozialistischer Imperialismus. Chemnitz 1882, auch Zur Orientierung über die Bismarck'sche Ära, 4-13), hatte im 19. Jahrhundert zunächst nicht unbedingt eine negative Bedeutung; er bezeichnete einfach die Regierungsform, die Napoleon III. Frankreich gegeben hatte, die von den meisten Franzosen mit innenpolitischer Stabilität, sozialer Gleichheit und nationaler Würde gleichgesetzt wurde. Von (vor allem englischen) Kritikern wurde diese Staatsform freilich mit der Herrschaft militärischen Pomps, Appell an den Mob und Einfluß der Börse identifiziert, auch mit Kolonialherrschaft. 1865 erschien in Leipzig ein anonymes Pamphlet, das unter dem Titel Imperialismus und die Congress-Idee den unaufhaltsamen Vormarsch napoleonischer Ideen in Europa voraussagte.
 
[84] Christus und die Caesaren, S. 387: "Das Schwerdt des Glaubens, mit welchen die Apostelfürsten ihrer Gemeinde durch die Kaiserzeit Rom's den Weg bahnten und gegen die Ansätze des Mittelalters zur Militärdiktatur beistanden, haben sie von den Stoikern geerbt [...] Daßelbe Schwerdt wird in der Hand der Nachfolger der Stoa blitzen, so lange und so oft eine politische Gewalt im Zusammensturz einer veralteten Weltordnung nur den Freibrief ihres Vorrechts und nicht das Werk einer allgemeinen Befreiung erblickt". Zur Orientierung über die Bismarck'sche Ära, S. 2: "meine Überzeugung von der Parallele der Gegenwart und der römischen Imperatorenzeit". C. Schmitt spricht in diesem Zusammenhang von einer "historischen", "weltgeschichtlichen", "großen Parallele" und faßt unter diesem Gesichtspunkt Bruno Bauer und Donoso Cortés zusammen: "In Bruno Bauer schlug [...] die Text- und Bibelkritik in die Zeitkritik um", op. cit., S. 100. Schmitt behauptet zwar, "die Parallele" komme - anders als die außenpolitische Prognose und die innenpolitische Diagnose - "erst heute zu ihrer Geltung", S. 88, entlehnt aber die Vorstellung wohl Bauer. Was genau Schmitt von Bauer gelesen hat, konnte ich nicht feststellen.
 
[85] Insbesondere Geschichte Deutschlands und der Französischen Revolution. Charlottenburg 1846.
 
[86] Vor allem Zur Orientierung über die Bismarck'sche Ära.
 
[87] Insofern entspricht Bauers Konzentration auf den Imperialismus dem ständigen Ausschauhalten von Marx und Engels nach "ihrer" Revolution. - Über Bauers Ansichten zur "russischen Frage" gibt es nur zwei ausführlichere Untersuchungen: die Heidelberger Dissertation von Jakob Helfinger von 1954 (Bruno Bauer und Rußland) und der entsprechende Abschnitt in Groh, D.: Rußland und das Selbstverständnis Europas. Neuwied 1967, S. 263-274. Z.T. geht auf das Thema auch die Dissertation von Ch. Dannemann, S. 135-144 ein, die S. 145 ff. auch den Begriff der "großen historischen Parallele" zu klären versucht.
 
[88] Vgl. die Belege bei Helfinger, S. 35.
 
[89] Die russische Kirche, Vorwort. Dem alternativen Bild der Liberalen begegnet man bei Heine (der allerdings in seinen frühen Jahren in einer Herrschaft Rußlands die Chance der "Zerstörung des Alten" gesehen hatte, vgl. Groh, S. 176): "das Haupt der Medusa, das uns versteinernd angrinst", Lutezia I, S. 11, Heines Werke, ed. Friedmann u.a. Berlin u.a. o.J., XIII, S. 68. Heine sah in den 40er Jahren schaudernd die Möglichkeit einer "russisch-griechisch-orthodoxen Weltherrschaft" voraus, "die von dem Bosporus aus über Europa, Asien und Africa ihre Arme ausbreitet", ebd.
 
[90] Über den Unterschied vgl. z.B. meinen Aufsatz Die philosophische Idee der Demokratie und deren Bedeutung, in: Europa Forum Philosophie, Febr. 2002, S. 5-21. Es ist nicht unwichtig zu sehen, daß in Deutschland das 19. Jahrhundert keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Demokratie und Monarchie sah; in gewissem Sinne ist dies bis heute der Fall, so daß z.B. Hartmann, K.: Politische Philosophie. Freiburg 1981, durchaus plausibel vertreten konnte, man könne - wenn man sie vom metaphysischen Brimborium befreit - Hegels Vorstellung vom Staat leicht mit heutigen liberalen Staatsvorstellungen vereinen. Bauer spricht zwar selten von Demokratie (dies taten vornehmlich die Liberalen, die er verachtete), aber seine Vorstellung von Republik enthält deutliche demokratische Züge. So spricht er etwa von Volkssouveränität, z.B. in einer Rezension in Ruge, A. (Hrsg.): Anekdota zur neuesten deutschen Philosophie und Publizistik (1843). Zürich/Winterthur, II, S. 185. Wichtiger als Gleichheit ist für ihn allerdings in gerechte Gesetze eingebundene persönliche Freiheit, deshalb war er - obwohl er die "soziale Frage" genau sah, vgl. etwa Allg. Lit. Zeitung v. Dez. 1843, S. 30, und Mai 1844, S. 35 - schon in den 40er Jahren ein Gegner des Sozialismus. Moggach, S. 168, legt nahe, Bauers Betonung der (politischen) Freiheit nehme Vorstellungen von John St. Mill vorweg; er polemisiert gegen alle Partikularismen, ebenso der Bourgeoisie wie des Proletariats, nicht zuletzt auch der Nationalisten.
 
[91] "denn Nichts ist gewisser als dieser Untergang", Rußland und das Germanenthum, S. 7. Bauer denkt dabei vor allem an Deutschland, gelegentlich auch an Frankreich und an Disraelis England. Länder wie Italien oder Spanien interessieren ihn nicht, Polen hält er für irrelevant. Was Deutschland betrifft, mißt er dessen Entwicklung an Hegels Vorstellung, als das Land "der Gesetze des Rechts" und der protestantischen Kirche habe "die germanische Welt" den Gipfel des "wirklichen Werdens des Geistes" erreicht, vgl. Werke, XI, S. 567 ff. In Juden in der Fremde kontrastiert er laufend das Jüdische mit dem Germanischen, auch dies ist ein Echo von Hegels Philosophie der Geschichte, vgl. z.B. ebd., XIX, S. 118: "den germanischen Nationen hat der Weltgeist [...] die Arbeit (aufgetragen), einen Embryo zur Gestalt des denkenden Mannes zu vollführen". Diese Vorstellung hat - nicht zuletzt unter dem Eindruck der Politik Bismarcks - in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg weitergewirkt, vgl. z.B. den ersten Teil von Losurdo, D.: Die Gemeinschaft, der Tod, das Abendland. Stuttgart 1995.
 
[92] Rußland und das Germanenthum, S. 71.
 
[93] Die russische Kirche, S. 44.
 
[94] 1842 erwähnt Bauer im selben Zusammenhang Amerika, "denn der Kampf der europäischen Staaten wird bald einem größeren weichen, dem Kampf der Welttheile", Rezension eines Buches über "Deutschlands Beruf in Gegenwart und Zukunft" in Rheinische Zeitung v. 7.6.1842 (Nr. 158, Beiblatt). Im selben Jahr hatte Bauer offenbar Tocquevilles Démocratie en Amérique gelesen; der Franzose weist seinerseits am Ende des ersten Bandes darauf hin, daß nicht nur die "Anglo-Américains" sondern auch "les Russes" "aufgrund einer verborgenen Absicht der Vorsehung" berufen seien, "à tenir un jour dans ses mains les destinées de la moitié du monde", OEuvres complčtes, ed. J.P. Mayer, I, 1, S. 430 ff. 1853 hat Bauer diesen Gedanken nochmals aufgegriffen: Die beiden Weltmächte der Zukunft seien Rußland und Nordamerika, beide würden "an der obersten Entscheidung der Weltfragen teilnehmen", Rußland und das Germanenthum II, S. 72.
 
[95] Die russische Kirche, S. 16.
 
[96] Der Russe sei der "unwiderstehlichste und ausdauerndste Colonist, den die Welt bis jetzt gekannt hat", Rußland und das Germanenthum, S. 10 ff.
 
[97] Ebd., S. 121.
 
[98] Ebd., II, S. 84, S. 121.
 
[99] Die russische Kirche, S. 24., ähnlich schon Rußland und das Germanenthum, S. 121.
 
[100] "Nur mit Deutschland und in Deutschland gewinnt es (sc. Rußland) die Aggressivität gegen den Westen, die es alleine nicht besitzt", Deutschland und das Russenthum, S. 13.
 
[101] Rußland und das Germanenthum, S. 11.
 
[102] "Wesen" ist wohl ein Druckfehler.
 
[103] Ebd., S. 16, vgl. S. 121, auch Die russische Kirche, 6; Die jetzige Stellung Rußlands. Charlottenburg 1854, S. 18 ff.
 
[104] Die russische Kirche, S. 8.
 
[105] Brief an Engels v. 28.5.1895, MEW, XXIX, S. 445: "Er erhielt 300 Friedrichsdor von dem russischen Gesandten von Budberg. Der clown war als Helfershelfer engagiert". Daß nicht nur Marx Bauer verdächtigte, von Rußland bestochen worden zu sein, kann man dem Nekrolog von E. Schläger entnehmen, S. 394 ff.
 
[106] Vgl. Varnhagen von Ense, K.A.: Tagebücher. Hamburg 1868, X, S. 170 (9.6.1853): "Bauer [...] versichert mich, daß er keinen Russen kenne, Herrn von Budberg nie gesehen habe". Baron A.F. v. Budberg (1817-1881) war ab 1848 russischer Geschäftsträger in Frankfurt, 1852-56 und 1858-62 Botschafter in Berlin.
 
[107] Studien über die inneren Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Rußlands. I, II, Hannover 1847; III, Berlin 1852. Das Werk erschien gleichzeitig auch auf französisch und schon 1856 unter dem Titel The Russian Empire auf englisch. Bei Helfrich, S. 49 ff. ein ausführlicher Vergleich von Textstellen; allerdings betont H. die Unabhängigkeit von Bauers Urteil.
 
[108] Die russischen Intellektuellen, etwa Herzen und Černyševskij, wurden auf diese Thema durch Haxthausen aufmerksam, vgl. Scheibert, op. cit., S. 118 ff.. Der berechtigte Hinweis des Juristen B.N. Či𐄍erin, der Mir sei nicht Ausdruck einer besonderen Gesinnung des russischen Volkes, sondern verdanke seine Entstehung fiskalischen Gründen, verhallte weitgehend ungehört. Vgl. zur Frage Groh, op. cit., S. 206 ff., über Či𐄍erin Tschižewskij, op. cit., S. 301-312.
 
[109] Haxthausen war ein kompetenter Spezialist für Agrarverfassungen.
 
[110] Zitiert nach Groh, S. 210.
 
[111] Helfrich, S. 21.
 
[112] Rußland habe die Ideale der "alten Griechen und Römer, die für den Staat lebten", und der Germanen, die "nur persönliche Verhältnisse und Beziehungen" anerkennen, "auf das Strengste verbunden", Rußland und das Germanenthum, S. 24. - Es wäre lohnend, freilich auch schwierig, Bauers Freiheitsverständnis nachzugehen. Freiheit ist für ihn offenbar nicht die Möglichkeit, zu tun, was man möchte oder einem paßt, sondern eine das Vernünftige anerkennende und anstrebende Unabhängigkeit. In einem "wirklichen Staat" wäre sie wohl nicht von diesem eingeschränkt, sondern höchstens von falschen Vorurteilen. Zuweilen hat man den Eindruck, daß für Bauer Freiheit am meisten von so etwas wie einem Heidegger'schen "Man", einer political correctness eingeschränkt wird, die sich freilich in Institutionellem niederschlagen kann. Ein "Freund der Freiheit" ist ein "Freund der Forschung", d.h. des unabhängigen und objektiv richtigen Urteils, vgl. Einfluß des englischen Quäkertums auf die deutsche Cultur und auf das englisch-russische Projekt einer Weltkirche. Berlin 1878, S. 236. Diese Schrift, die ich nicht weiter berücksichtigen konnte, zählt zu Bauers interessantesten geistesgeschichtlichen Untersuchungen, da sie zu zeigen versucht, daß der Weg vom orthodoxen Luthertum zu Hegel über den Pietismus führt, der durch seinen Subjektivismus maßgeblich zur Säkularisierung der Theologie beigetragen habe (dem Schriftwort der Bibel werde das im Herzen des Menschen wirkende Wort Gottes entgegengestellt, wodurch das Kirchenbekenntnis gleichgültig wird, S. 42 ff). Barnikol, S. 374, spricht von einem Bauer "willkommenen Prozeß der Selbstausklammerung und ,geistigen Verdünnung` aussterbender Theologie und Religion". Was das "Projekt der Weltkirche" betrifft, hat Bauer Baronin Krüdeners pietistischen Einfluß auf Zar Alexander I. vor Augen.
 
[113] Die russische Kirche, S. 14.
 
[114] Ebd., S. 19 ff.
 
[115] Vgl. sein curriculum vitae für die Bonner Fakultät aus dem Jahre 1839 bei Barnikol, S. 515, auch seine enge Beziehung zu seinem Bruder Edgar. Zur Bedeutung der Familie in Rußland vgl. Rußland und das Germanentum, S. 11 ff., S. 24. Die Familie sei "das Urbild und das Abbild des nationalrussischen Volksstaates", zusammen mit der Gemeinde und der Nation sei sie "die Lebenssubstanz des Russen".
 
[116] Ein Beispiel ist die gewissenhafte, wohl von 1844 bis 1869 dauernde Rückzahlung eines Darlehens von 2000 Talern für die Buchhandlung bzw. den Verlag des Bruders an die Frau und später Witwe von Max Stirner (er starb 1856 an einer Blutvergiftung), vgl. Mackay, J.H.: Max Stirner. 3. erw. Aufl. Berlin-Charlottenburg 1914 (ursprünglich 1898), S. 129, S. 198 f. Überhaupt scheint Bauer bei aller Heftigkeit seiner schriftlichen Äußerungen persönlich ein friedfertiger Mensch und guter Freund gewesen zu sein, im Gegensatz zu Marx (vgl. z.B. L. Schwartzschild, The Red Prussian. New York 1947) entdeckt man bei ihm kaum giftige Bemerkungen über persönliche Feinde. Dies kommt auch in seinem Antisemitismus zum Ausdruck: Kritisch-verächtlich spricht er über Zeitgenossen eigentlich nur über Disraeli, und zwar vor allem - nicht ganz unberechtigt - angesichts dessen sentimentalen Romanen.
 
[117] Ob dies eine späte Entwicklung ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Der Bericht von Marx an Engels nach Bauers Besuch in London (auch dieser spricht für Bauers Anhänglichkeit, schließlich hatte ihn Marx öffentlich lächerlich gemacht), vgl. MEW, XXIX, S. 6, spricht dafür. Eine gewisse Sympathie für den Bauernstand und dessen Schicksal im Gegensatz zur Bourgeoisie oder dem Adel ist allerdings schon in den 40er Jahren zu bemerken, z.B. Geschichte der Politik usw. I, S. 314.
 
[118] Rußland und das Germanenthum, S. 9. Sein erster Biograph Eduard Schläger spricht sogar von einer "Voreingenommenheit für die slawische Rasse", loc. cit., S. 395.
 
[119] Literarisches Central-Blatt für Deutschland, IV (1954), S. 443. Die Zeitschrift war von dem später prominenten Germanisten und Mediävisten F.K.T. Zarnke gegründet worden und besprach verschiedenste Veröffentlichungen.
 
[120] Vgl. Marx' Brief an Engels v. 8.12.1854, MEW, XXVIII, S. 419. Obwohl Marx nach einem Verleger suchte, kam das Projekt nie zustande, was nicht ausschließt, daß es in Moskau vorbereitende Skizzen gibt.
 
[121] Bauer erwähnt diese "ehrenvolle Aufforderung" im Vorwort.
 
[122] Die Zusammenarbeit begann im August 1851 und dauerte bis März 1862.
 
[123] Vgl. seinen Leitartikel "Worum es in der Türkei wirklich geht" in der New-York Daily Tribune v. 12.4.1853, MEW, IX, S. 17. Mit dem Problem des Mir wird sich Marx erst fast ein Vierteljahrhundert später auseinandersetzen, vgl. den Entwurf seines Briefes an die Redaktion von Otečestvennye Zapiski vom November 1877, MEW, XIX, S. 107 ff., den Brief an Vera Zasulič vom 8.3.1881, XXXV, S. 166 ff., und die von Engels mitverfaßte Vorrede zur 2. russ. Ausgabe des Manifests v. Januar 1882, XIX, S. 296. Er war der Meinung, es gebe den Mir möglicherweise nur in Haxthausens Buch, und falls es ihn wirklich gegeben haben sollte oder gar noch immer gebe, würde er die Entwicklung des Kapitalismus nicht überleben.
 
[124] Helfrich, S. 23.
 
[125] In Deutschland und das Russenthum, S. 27, stellt Bauer dies klar: er habe das Thema "Rußland" nicht gesucht, sondern es habe sich im aufgedrängt, da es bei ihm "um die neue Culturform" geht, die ihn seit seinen ersten wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt habe.
 
[126] Die russische Kirche, S. 20.
 
[127] Zur Orientierung über die Bismarck'sche Ära, S. 302-310.
 
[128] Ebd., S. 2 ff.
 
[129] Ebd., S. 105: "so schnell wie kaum jemals ein anderes Meteor der Geschichte" erlosch "der Glanz der Bismarck'schen Ära nach den auswärtigen Erfolgen ihrer ersten Jahre".
 
[130] Ebd., S. 3.
 
[131] Vgl. Moggach, S. 139.
 
[132] In Geschichte der Politik usw., VII legt Bauer 1845 nahe, die Französische Revolution sei u.a. deshalb gescheitert, weil die Franzosen, die selbst das Privileg der Nationalität aufheben wollten, andere Länder als Nation überfielen. Vgl. Moggach, S. 153.
 
[133] MEW, XXIX, S. 6.