Boris Chavkin
Am 6. Juli 1918 geschah in Moskau, in Denežnyj pereulok, 5 am Arbat, ein Terrorakt. Im Roten Saal der Villa der deutschen Botschaft wurde der Botschafter Kaiser Wilhelms II. in Sowjetrußland, Wilhelm Graf von Mirbach-Harff, ermordet.[1] Die Mörder waren Jakov Bljumkin und Nikolaj Andreev, Mitglieder der Partei der linken Sozialrevolutionäre, die bis März 1918 neben den Bolschewiki der Regierungskoalition angehörte. Das Ziel des Mordes an Graf Mirbach, der in Sowjetrußland äußerst unpopulär war, bestand darin, den von der Regierung Lenin in Brest-Litovsk unterzeichneten Frieden mit den Deutschen zu unterminieren. Gegen diesen Vertrag traten sowohl die Gegner der Bolschewiki als auch ihre Verbündeten aus dem revolutionären Lager auf: die linken Sozialrevolutionäre, die Internationalisten, auch der linke Flügel der bolschewistischen Partei sprach sich vehement gegen den Brester Friedensvertrag aus. Die Ursachen des Mordes an Graf Mirbach sind nicht nur in der innenpolitischen Situation in Rußland 19171918, sondern auch in der Entwicklung der internationalen, einschließlich der sowjetisch-deutschen Beziehungen zu suchen. Diese Beziehungen zogen sich immer mehr zu einem Gordischen Knoten zusammen, und am 6. Juli 1918 wurde er durchhauen. 1918 verlor Deutschland den Ersten Weltkrieg im Westen, gewann ihn jedoch im Osten, was der Frieden von Brest-Litovsk bewies. Aber durch ihre Unterstützung der Macht der russischen Bolschewiki mittels dieses Friedens brachte die deutsche militärisch-politische Elite unweigerlich die Revolution im eigenen Lande näher. Die Bolschewiki fühlten sich vom Frieden mit den deutschen Imperialisten zwar bedrückt und empfanden ihn als „schimpflich“, „räuberisch“ und „knechtend“, mußten den Vertrag jedoch einhalten, weil die Geschicke der russischen Revolution nunmehr vom deutschen Kaiser sowie von seinen Militärs und Diplomaten abhingen. Graf Mirbach wurde Geisel einerseits der Politik der notgedrungen zustande gebrachten Partnerschaft des Reiches mit den Bolschewiki, andererseits aber der Suche nach politischen Alternativen zur Regierung Lenin sowie der Unterstützung der antisowjetischen Kräfte in Rußland.[2] Somit sah sich der Botschafter gezwungen, gleichzeitig zwei einander ausschließende politische Linien zu verfolgen, und eben das ermöglichte die politische Provokation, der er zum Opfer fiel. Diese Tatsache, die im Schicksal des deutschen Diplomaten eine verhängnisvolle Rolle spielte, wird von der russischen Historiographie nicht in Betracht gezogen. Die im heutigen Rußland üblichen Vorstellungen von Graf Mirbach und den mit seinem Tod verbundenen Umständen beschränken sich gewöhnlich auf eine Sammlung von sowjetischen Klischees.[3] Die nicht sehr zahlreichen Quellen über den Aufenthalt von Graf Mirbach in Sowjetrußland beurteilen seine Persönlichkeit und seine Tätigkeit unterschiedlich. Laut den Erinnerungen des deutschen Botschaftsrates in Moskau Dr. Gustav Hilger war Mirbach ein recht mittelmäßiger Diplomat;[4] deutsche Zeitungen nannten ihn einen „Aristokraten der alten Schule“, einen „Feudalherrn“ und „einen Rokoko-Grafen“.[5] Aber die Materialien des politischen Archivs des deutschen Auswärtigen Amtes, Dokumente des Kaisers Wilhelm II., des Reichskanzlers Graf Georg von Hertling oder des Staatssekretärs für Auswärtige Angelegenheiten R. Kühlmann zeigen, daß sie seine Tätigkeit als deutscher Botschafter in Moskau hoch einschätzten.[6] Die Moskauer Dienstschreiben von Graf Mirbach an Berlin zeigen alles in allem, daß er die Situation in Sowjetrußland adäquat beurteilte; allerdings überschätzte er ihnen nach die prodeutschen Stimmungen im Lande.[7] Der Rechenschaftsbericht von Graf Mirbach über sein Gespräch mit Lenin vom 16. Mai 1918 ist eines der wenigen Dokumente, aus dem zu ersehen ist, daß Lenin das Fiasko der Politik von Brest-Litovsk zugab.[8] Hierbei vertrat Mirbach die Auffassung, daß die Interessen Deutschlands nach wie vor seine Orientierung auf die Leninsche Regierung erforderten, weil die Kräfte, von denen die Bolschewiki möglicherweise abgelöst würden, danach streben würden, sich mit Hilfe der Entente mit den Territorien wieder zu vereinigen, die von Rußland laut Brest-Litovsker Frieden abgetrennt worden waren. Am 18. Mai 1918, zwei Tage nach seinem Treffen mit Lenin, äußerte Mirbach in einem Telegramm nach Berlin seine Besorgnis über die Situation in Rußland und betonte, daß nach seinen Schätzungen ein einmaliger Betrag von 40 Mio. Reichsmark nötig sei, um Lenin an der Macht zu halten; noch ein paar Tage später, am 3. Juni, telegraphierte der deutsche Botschafter an das Auswärtige Amt, darüber hinaus seien noch 3 Mio. RM monatlich erforderlich, um Lenins Regierung zu stützen.[9] Der Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten Kühlmann wies Mirbach an, den Bolschewiki finanziell weiter zu helfen. Doch waren weder Kühlmann noch Mirbach davon überzeugt, daß Lenin mit Hilfe der deutschen Gelder, die den Bolschewiki im Oktober 1917 zur Macht verholfen hatten, auch weiter imstande sein werde, sich an der Macht zu halten. Der deutsche Botschafter war im Sommer 1918 davon überzeugt, daß die Tage der Bolschewiki gezählt waren. Deshalb schlug Mirbach vor, sich für den Fall des Sturzes der Regierung Lenin abzusichern und im voraus in Rußland eine prodeutsche antisowjetische Regierung zu bilden.[10] Berlin billigte den Vorschlag. Am 13. Juni 1918 meldete Mirbach nach Berlin, daß sich verschiedene Politiker an ihn wandten, um zu klären, inwiefern die deutsche Regierung den antisowjetischen Kräften beim Sturz der Bolschewiki werde helfen können. Den Sturz Lenins verknüpften diese Kräfte mit einer Revision des Friedens von Brest-Litovsk durch Deutschland. Am 25. Juni 1918 schrieb Mirbach in seinem letzten Brief an Kühlmann, er könne den Bolschewiki keine günstige Diagnose stellen. Zweifellos stehe man am Bett eines Schwerkranken, der dem Tod geweiht sei. Hiervon ausgehend, schlug der Botschafter vor, die „entstandene Leere“ durch neue Regierungsorgane auszufüllen, die „wir bereithalten und die uns voll und ganz zu Diensten stehen werden“.[11] Die Veränderung der Position Deutschlands und die aktiveren Kontakte Mirbachs mit den antibolschewistischen Kräften blieben in Moskau nicht unbemerkt.[12] Schon ab Mitte Mai stellten Vertreter der im Oktober 1917 gestürzten politischen Kräfte, die sogenannten „Rechten“, fest, daß „die Deutschen, welche die Bolschewiki nach Rußland geführt hatten und für die der Frieden mit diesen die einzige Grundlage ihres Bestehens bildete, auch selbst bereit waren, die Bolschewiki zu stürzen.“[13] Nicht nur die russischen „rechten“ Kreise und ausländische Diplomaten waren über die antisowjetische Tätigkeit der deutschen Botschaft in Rußland informiert. Auch die Sowjetregierung wußte von der veränderten Einstellung der Deutschen. Nicht von ungefähr wurde zu der Zeit, da in Berlin und der deutschen Botschaft in Moskau die Vorbereitungen auf einen Kurswechsel in der deutschen Ostpolitik begannen, in der vom linken Kommunisten und Gegner des Friedens von Brest-Litovsk Felix Dzierżyński geleiteten Gesamtrussischen Außerordentlichen Kommission (VČK), und zwar in ihrer wichtigsten Abteilung, der zum Kampf gegen die Konterrevolution, eine Abteilung der Gegenaufklärung gebildet. Sie war auf die Arbeit gegen die deutsche Botschaft orientiert. Dieser „Abteilung zur Bekämpfung der deutschen Spionage“ stand der 19jährige Jakov Bljumkin vor, und ein Mitarbeiter (Photograph) dieser Abteilung war Nikolaj Andreev: Mirbachs Mörder waren nicht einfach linke Sozialrevolutionäre, sondern auch ČK-Leute. Am 10. Juli 1918 sagte Dzierżyński, der in das Untersuchungsverfahren im Fall des Mordes an Mirbach und der „Meuterei“ der linken Sozialrevolutionäre verwickelt war, offiziell vor einer Kommission des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees (VCIK) aus.[14] In seinen Aussagen vor der Untersuchungskommission wies Dzerżyński u. a. auf folgendes hin: „Bljumkin wurde in die Kommission [VČK B. Ch.] auf Empfehlung des ZK der linken Sozialrevolutionäre aufgenommen, und zwar zu dem Zweck, in der konterrevolutionären Abteilung [Abteilung zum Kampf gegen die Konterrevolution B. Ch.] die Gegenaufklärung zur Bekämpfung der Spionage zu organisieren.“[15] Es kann angenommen werden, daß dies Ende Mai 1918 geschah. Doch läßt sich das genaue Datum der Schaffung der Gegenaufklärung der ČK und der Ernennung Bljumkins zu ihrem ersten Chef nicht nennen. Im Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes (CA FSB) Rußlands haben sich die Sitzungsprotokolle des wichtigsten Organs der VČK des VČK-Präsidiums für Ende Mai bis September 1918 nicht erhalten.[16] Somit sind die im RGASPI aufbewahrten und von uns hier publizierten Aussagen Dzierżyńskis vor der Untersuchungskommission des VCIK eine einzigartige Quelle nicht nur über den Mordfall Mirbach, sondern auch über die Geschichte der Schaffung der ČK-Gegenaufklärung im allgemeinen und ihrer „deutschen Linie“ im besonderen. Das Dokument „Aussagen F. Dzierżyńskis zum Fall Mord am deutschen Gesandten Graf Mirbach“ stellt einen von Dzierżyński handgeschriebenen Text auf 12 Blättern dar, den er eigenhändig am 10. Juli 1918 datierte und unterschrieb. Das Dokument weist eine Archivnummer und den später aufgedruckten Stempel „Archiv F. Ė. Dzierżyńskis“ auf.[17] Im Archiv haben sich ferner eine nicht durch Unterschrift beglaubigte und nicht datierte maschinengeschriebene Kopie von Dzierżyńskis Aussagen auf 10 Blättern und ein Blatt seiner handgeschriebenen Kladde[18] erhalten. Wie präsentiert sich also die Geschichte der Vorbereitung des Attentats der ČK-Leute auf den Grafen Mirbach? Kraft seiner Dienststellung verfügte Bljumkin über umfangreiche Informationen über die deutsche Botschaft in Moskau. Es gelang ihm, seinen Mitarbeiter Jakov Fišman als Elektriker in die Botschaft einzuschleusen.[19] Im Ergebnis erhielt Bljumkin einen Plan der Räume und des Innenschutzes der Botschaft. Martin Lacis, Leiter der VČK-Abteilung zum Kampf gegen die Konterrevolution und unmittelbarer Vorgesetzter Bljumkins, erinnerte sich: „Bljumkin prahlte, daß seine Agenten ihm alles, was er nur will, liefern und daß er auf diesem Wege Kontakte mit allen deutschorientierten Personen herstellt.“ Aber um Mirbach ermorden zu können, mußten Bljumkin und Andreev persönlich in das gut bewachte Botschaftsgebäude eindringen, das juristisch als deutsches Territorium galt, und eine Zusammenkunft mit dem Botschafter bewerkstelligen. Als Vorwand zu einem Treffen mit dem Grafen Mirbach benutzte Bljumkin den von ihm fabrizierten „Fall“ eines angeblichen Neffen des Botschafters, des „österreichischen Kriegesgefangenen“ Robert Mirbach, den die ČK-Leute der Spionage beschuldigten. In Wirklichkeit war Robert Mirbach weder österreichischer Kriegsgefangener noch deutscher Spion, vielmehr entweder ein Namensvetter oder ein sehr weitläufiger Verwandter des deutschen Botschafters. Der Deutsche Robert Mirbach, der seit langer Zeit in Rußland lebte und weder in der österreichisch-ungarischen noch in der deutschen Armee gedient hatte, war russischer Untertan, lebte bis zu seiner Verhaftung in Petrograd und arbeitete in einer Wirtschaftsabteilung von Smol’nyj. Laut den Erinnerungen von Lacis „zeigte Bljumkin ein starkes Streben nach der Erweiterung der Abteilung zur Bekämpfung der Spionage und legte der Kommission wiederholt entsprechende Entwürfe vor“. Doch der einzige „Fall“, mit dem sich Bljumkin tatsächlich beschäftigt habe, sei der „Fall des österreichischen Mirbach“ gewesen, wobei sich Bljumkin „in diese Sache hineinkniete“ und „nächtelang über den Verhören von Zeugen saß“. Durch Bljumkins Eifer verwandelte sich der bescheidene Verwalter in einen österreichisch-ungarischen Offizier, der angeblich im 37. Infanterieregiment der Armee von Franz Joseph gedient hatte, in russische Gefangenschaft geraten war und nach Ratifizierung des Brest-Litovsker Friedensvertrages befreit wurde. In Erwartung der Ausreise in die Heimat mietete er sich ein Zimmer in einem Moskauer Hotel und wohnte dort bis Anfang Juni 1918, als die schwedische Schauspielerin Landström, die im selben Hotel abgestiegen war, sich plötzlich das Leben nahm. Ob die ČK-Leute bei dem Selbstmord die Hand im Spiel hatten oder nicht, läßt sich schwer sagen. Inzwischen erklärte die VČK, Landström habe wegen ihrer konterrevolutionären Tätigkeit Selbstmord begangen, und verhaftete alle Bewohner des Hotels. Unter ihnen sei auch der „Neffe des deutschen Botschafters“ gewesen. Über die Verhaftung Robert Mirbachs benachrichtigte die VČK unverzüglich das dänische Konsulat, das in Rußland die Interessen von Österreich-Ungarn vertrat. Am 15. Juni leitete das dänische Konsulat Unterredungen mit der VČK „in Sachen des verhafteten Offiziers der österreichischen Armee Graf Mirbach“ ein. Während dieser Unterredungen spielten die ČK-Leute dem Vertreter des Konsulats die Version der Verwandtschaft zwischen Robert Mirbach und dem deutschen Botschafter zu. Am 17. Juni überreichte das dänische Konsulat den ČK-Leuten ein Dokument, auf das sie so sehr gewartet hatten:
„Hiermit setzt das königlich-dänische Generalkonsulat die Gesamtrussische Außerordentliche Kommission davon in Kenntnis, daß der verhaftete Offizier der österreichisch-ungarischen Armee Graf Robert Mirbach, gemäß einer an das dänische Generalkonsulat gerichteten schriftlichen Nachricht der deutschen diplomatischen Vertretung in Moskau, tatsächlich einer Familie angehört, die mit dem deutschen Botschafter Graf Mirbach verwandt ist und in Österreich lebt.“[20]
Offenbar hatte man in der deutschen Botschaft beschlossen, den unbekannten Grafen Robert Mirbach doch lieber als mit dem deutschen Boschafter verwandt gelten zu lassen, in der Hoffnung, das Los des unglücklichen österreichischen Offiziers dadurch zu erleichtern, daß man ihn sofort entlassen werde, zumal die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen nicht ernst schienen. Die Teilnahme des deutschen Botschafters am Fall des „Neffen“ beschränkte sich offenbar auf die von ihm erteilte Erlaubnis, Robert Mirbach als seinen Verwandten zu führen. Aber Robert Mirbach wurde nicht entlassen: Der „Fall Neffe“ bildete die Grundlage eines Dossiers gegen die deutsche Botschaft und den Botschafter persönlich. Das Hauptindiz war in Bljumkins Händen ein Dokument, das angeblich von Robert Mirbach unterschrieben worden war:
„Verpflichtung. Ich, der Unterzeichnende, ungarischer Untertan, kriegsgefangener Offizier der österreichischen Armee Robert Mirbach, verpflichte mich freiwillig und auf persönlichen Wunsch, der Gesamtrussischen Außerordentlichen Kommission zum Kampf gegen die Konterrevolution geheime Angaben über Deutschland und die deutsche Botschaft in Rußland zu liefern. Alles was hier geschrieben steht, entspricht der Wahrheit [...] Graf R. Mirbach.“[21]
Doch weder als ehemaliger Offizier der k. u. k. Armee noch als Wirtschaftskader des Smol’nyj-Instituts konnte Mirbach den ČK-Leuten „geheime Angaben über Deutschland und die deutsche Botschaft in Rußland“ mitteilen: Er kannte sie einfach nicht. Davon, daß die „Verpflichtung“ Robert Mirbachs ein Dokument von zweifelhafter Glaubwürdigkeit ist, zeugt schon ihr Aussehen: Der Text ist in russischer Sprache von ein und derselben Hand (offenbar der von Bljumkin), der letzte Satz in Russisch und in Deutsch (mit Fehlern),[22] die Unterschriften in Russisch und in Deutsch dagegen von einer anderen Hand geschrieben. Der „Fall Robert Mirbach“ lieferte den ČK-Leuten den Vorwand zu einem Treffen mit dem Botschafter seiner kaiserlichen Majestät. Auf einem VČK-Vordruck tippte Bljumkin eine Bescheinigung:
„Die Gesamtrussische Außerordentliche Kommission bevollmächtigt ihr Mitglied Jakov Bljumkin und den Vertreter des Revolutionären Tribunals Nikolaj Andreev, mit dem Herrn Deutschen Botschafter in der Russischen Republik Verhandlungen über einen Fall einzuleiten, der in unmittelbarer Beziehung zum Herrn Botschafter steht. Vorsitzender der Gesamtrussischen Außerordentlichen Kommission F. Dzerżyński. Sekretär Ksenofontov.“[23]
Diese Bescheinigung und die Mappe mit der Überschrift „Fall Robert Mirbach“ ließen Andreev und Bljumkin in der deutschen Botschaft liegen. Nach dem Attentat bildeten sie die Hauptindizien. Gemäß den schriftlichen Aussagen Dzierżyńskis für die Untersuchungskommission des VCIK war seine Unterschrift in der Bescheinigung gefälscht,[24] er selbst folglich an der Ermordung des deutschen Botschafters nicht beteiligt. Aber neue Angaben zeugen davon, daß der linke Kommunist und Gegner des Brest-Litovsker Friedens Dzierżyński, ein polnischer Adeliger, dessen Heimat von den Deutschen okkupiert war, sein eigenes politisches Spiel trieb. Es war kein Zufall, daß Dzierżyński am Tag nach Mirbachs Ermordung von Lenin vom Posten des VČK-Vorsitzenden abgesetzt wurde: Offenbar betrachteten Lenin, Sverdlov und Trockij die Ereignisse vom 6. Juli 1918 als eine gemeinsame Verschwörung von ČK-Leuten und Sozialrevolutionären. Am 7. Juli 1918 reichte Dzierżyński beim Rat der Volkskommissare eine offizielle Erklärung über seinen Rücktritt vom Posten des VČK-Vorsitzenden ein, weil er „im Fall der Ermordung des deutschen Gesandten Graf Mirbach einer der Hauptzeugen“ sei.[25] Dzierżyńskis Absetzung wurde auf einer Sondersitzung des ZK der KPR(B) erörtert. Offenbar zu dem Zweck, die Deutschen etwas zu beruhigen, verlieh man dem Beschluß über Dzierżyńskis Absetzung einen demonstrativen Charakter: Das Dokument wurde nicht nur in den Zeitungen veröffentlicht, sondern auch in Moskau an die Mauern geklebt. Das VČK-Kollegium wurde für aufgelöst erklärt und unterlag einer Reorganisation binnen einer Woche. Dzierżyńskis Aussagen stellen einen recht verworrenen und widersprüchlichen Text, im Grunde einen Versuch der Selbstrechtfertigung dar. Die Verdächtigungen des deutschen Botschaftsrates Dr. Kurt Riezler, daß Dzierżyński „in Fällen, bei denen es sich um unmittelbar gegen die Sicherheit der Mitglieder der deutschen Botschaft gerichtete Verschwörungen handele“, „nur durch die Finger sähe“, nennt Dzierżyński „Erdichtung und Verleumdung“[26] Doch gemäß einer Behauptung des Adjutanten des deutschen Militärattachés Leonhard Müller habe sich Anfang Juni 1918 ein Filmschaffender namens Vladimir Ginč an die Botschaft gewandt und erklärt, daß die illegale Organisation „Bund der Verbündeten“, der er beigetreten sei, den Mord am Grafen Mirbach vorbereite. Dr. Riezler teilte die erhaltenen Nachrichten dem stellvertretenden Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten L. Karachan mit, der seinerseits Dzierżyński informierte. Die ČK-Leute interessierten sich nicht für die Verschwörer, eher schon für die Informanten der deutschen Botschaft: eine „gewisse Benderskaja“ und Ginč. „Meine Erfahrungen aber zeigten mir, daß man unbekannten Quellen, die nicht zu bestrafen und nicht zu überprüfen sind, in keinem Fall vertrauen darf“, schreibt Dzierżyński.[27] Als Ginč wiederholt die deutsche Botschaft warnte und ungefähr zehn Tage vor dem Attentat das Datum des in Vorbereitung befindlichen Terroraktes zwischen dem 5. und dem 6. Juli 1918 nannte, nahm Dzierżyński persönlichen Kontakt mit ihm auf. Bei einer Zusammenkunft im Hotel Metropol’ sagte Ginč Dzierżyński, in den Fall seien VČK-Mitarbeiter verwickelt. Am 28. Juni benachrichtigte Dr. Riezler bei gleichzeitiger Übergabe der entsprechenden Materialien Karachan (und dieser dann Dzierżyński) erneut über das in Vorbereitung befindliche Attentat. Auf Dzierżyńskis Anweisung wurde an der von den Deutschen genannten Adresse eine Haussuchung durchgeführt und der britische Untertan Whyber „der Hauptorganisator der Verschwörung“ verhaftet.[28] Während der Haussuchung entdeckten die ČK-Leute bei Whyber „sechs chiffrierte Blätter“.[29] Nachdem sich Dzierżyński mit ihrem Inhalt bekannt gemacht hatte, kam er zu dem Schluß, daß „jemand sowohl uns als auch die deutsche Botschaft erpreßte und daß möglicherweise der Bürger Whyber ein Opfer dieser Erpressung war“.[30] Von seinen Zweifeln sprach Dzierżyński mit Dr. Riezler und Leutnant Müller. Demnach wußte Dzierżyński „ungefähr seit Mitte Juni des laufenden Jahres“ (d. h. 1918) von einem „in Vorbereitung befindlichen Attentat auf das Leben von Mitgliedern der deutschen Botschaft und von einer Verschwörung gegen die Sowjetmacht“,[31] unternahm jedoch nichts zur Verhinderung des Attentats und der Verschwörung, weil sein Beobachtungsobjekt nicht die realen Verschwörer aus der VČK, sondern ungewisse „Erpresser“ und „Mystifikatoren“ waren. Der VČK-Vorsitzende behauptete, daß er „Attentate auf das Leben von Graf Mirbach seitens der monarchistischen Konterrevolutionäre, die eine Restauration durch die Militärmacht des deutschen Militarismus herbeiwünschten, sowie seitens der konterrevolutionären Savinkov-Leute und der Agenten der englischen und französischen Bankiers“ befürchtet habe.[32] Unterdessen schlossen Dzierżyńskis Untergebene die Vorbereitung des Terroraktes gegen den Botschafter des deutschen Kaisers ab. Was wußte der VČK-Vorsitzende aber von seinen Mitarbeitern, die den deutschen Botschafter ermorden sollten? „Wer Andreev ist, wußte ich nicht“, was Bljumkin angeht, so habe er „Bljumkin nicht näher gekannt und nur selten getroffen“, behauptet Dzierżyński.[33] Mag sein, daß der VČK-Vorsitzende vom einfachen Photographen Andreev tatsächlich nichts wußte, aber Bljumkin, den Leiter einer so überaus wichtigen Richtung der sowjetischen Gegenaufklärung wie der Abteilung zur Bekämpfung der deutschen Spionage hätte Dzierżyński schon von Dienst wegen kennen und ihn oft treffen müssen. Dzierżyńskis Aussagen werden von Bljumkin im April 1919 selbst widerlegt:
Seine gesamte „Arbeit in der VČK zur Bekämpfung der deutschen Spionage verlief, offenbar kraft ihrer Bedeutung, unter beständiger Beobachtung des Vorsitzenden der Kommission Gen. Dzierżyński und des Gen. Lacis. Über all meine Maßnahmen (wie zum Beispiel die innere Aufklärung in der Botschaft) beriet ich mich stets mit dem Präsidium der Kommission, mit dem Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten Gen. Karachan und dem Vorsitzenden von Plenbež [Zentralkommission für Angelegenheiten der Kriegsgefangenen und Flüchtlinge beim Volkskommissariat für militärische Angelegenheiten der RSFSR B. Ch.] Gen. Unšlicht.“[34]
Wir können nicht behaupten, daß Bljumkin auf direkte Weisung Dzierżyńskis handelte. Doch indirekte Angaben weisen darauf hin, daß Dzierżyński von Bljumkins Absichten wußte. Dzierżyński schrieb in seinen Aussagen, vom Mord am Grafen Mirbach habe er gegen 3 Uhr nachmittags des 6. Juli telefonisch von Lenin erfahren, darauf sei er „sofort in die Botschaft“ gefahren, „um die Festnahme der Mörder zu organisieren;[35] laut Aussagen von Lacis aber wußte die VČK bereits um 3.30 Uhr, daß „Gen. Dzierżyński Bljumkin der Ermordung von Mirbach verdächtigte“.[36] Trotz seines noch vor dem Mord am Grafen Mirbach geäußerten Vorschlags, „unsere Gegenaufklärung aufzulösen und Bljumkin vorläufig aus jedem Amt zu entlassen“, beschloß Dzierżyński, vor einer Erklärung seitens des ZK der linken Sozialrevolutionäre Bljumkin nicht vor Gericht zu stellen. Doch sobald die Ermordung des deutschen Botschafters geschehen war, wurde „im Lichte der Entlarvung Bljumkins [...] sofort klar, daß er ein Provokateur war“.[37] Wenn Bljumkin noch vor dem Mord am deutschen Botschafter durch Dzierżyński von seinem Posten abgesetzt wurde, wie konnte er am Morgen des 6. Juli von Lacis die Untersuchungssache Robert Mirbachs erhalten,[38] sich und Andreev die Bescheinigung ausstellen lassen, den Dienstwagen bestellen und sich in die deutsche Botschaft begeben, um den Grafen Mirbach zu ermorden? Folglich bereitete Bljumkin, der formell vom seinem Posten abgesetzt war, in Wirklichkeit mit Dzierżyńskis stillschweigendem Einverständnis den Terrorakt weiter vor. Es ist offensichtlich, daß es Dzierżyński, zufällig oder absichtlich, seinen Untergebenen „erlaubte“, den Grafen Mirbach zu ermorden, und dadurch eine außerordentlich akute innenpolitische und internationale Krise provozierte, die für Lenins Gegner, die den Brester Frieden unterminieren wollten, günstig war. Aber paradoxerweise profitierte gerade Lenin mehr als alle anderen von Mirbachs Ermordung, denn ihm gelang es, mit Hilfe des offiziellen Berlin[39] den Brester Frieden zu erhalten und das letzte Hindernis auf dem Weg zur alleinigen Diktatur der bolschewistischen Partei die Partei der linken Sozialrevolutionäre zu vernichten. G. A. Solomon, ein Mitarbeiter der sowjetischen Bevollmächtigten Vertretung in Berlin, erzählte, wie ihm der Volkskommissar für Handel und Industrie L. B. Krasin, der sich bald nach den Moskauer Juliereignissen zwecks Vorbereitung eines Wirtschaftsabkommens nach Deutschland begab,[40] gesagt habe, daß er einen „so tiefen und grausamen Zynismus“ bei Lenin „nicht ahnen konnte“. Lenin, der am 6. Juli 1918 Krasin davon erzählte, wie er sich aus der durch den Mord an Mirbach ausgelösten Krise herauszuwinden beabsichtigte, habe „mit einem verschmitzten Lächeln“ gesagt: „Wir werden bei den Genossen linken Sozialrevolutionären eine innere Anleihe aufnehmen und so die Unschuld bewahren und zu Kapital kommen.“[41] Wie der Volkskommissar für Bildungswesen A. V. Lunačarskij bezeugt, erteilte Lenin in seinem Beisein sofort nach dem Attentat auf Mirbach telefonisch folgenden Befehl über die Verhaftung der Mörder: „Suchen, sehr sorgfältig suchen, aber nicht finden.“ Später, Mitte der zwanziger Jahre, behauptete Bljumkin in einem Privatgespräch mit seiner Hausnachbarin Rozanel’-Lunačarskaja, der Gattin des Volkskommissars, im Beisein ihrer Cousine Tatjana Sac, Lenin habe sehr wohl vom Plan des Attentats auf Mirbach gewußt. Freilich habe sich Bljumkin mit dem Führer der Bolschewiki persönlich nicht über dieses Thema unterhalten. Dafür habe er es detailliert mit Dzierżyński besprochen.[42] Selbst wenn Bljumkins Worte, der sowjetische Regierungschef habe vom Plan des Attentats auf den Botschafter des Kaisers gewußt, eine leere Prahlerei waren, konnte Lenin mit der Entwicklung der Ereignisse nach dem Mord an Mirbach zufrieden sein und „verzieh“ Dzierżyński bald seine Schuld: Einen besseren Leiter des roten Terrors hätte er nicht finden können. Das neue VČK-Kollegium wurde unter unmittelbarer Teilnahme Dzierżyńskis gebildet, und schon am 22. August 1918 lag das „strafende Schwert der Revolution“ erneut in der Hand des „eisernen Felix“. Zum Sündenbock im Mordfall Mirbach wurde der stellvertretende VČK-Vorsitzende und Mitglied des ZK der Partei der linken Sozialrevolutionäre V. Aleksandrovič, der das Mandat Bljumkins und Andreevs mit einem Stempel versorgte und über ihre Pläne, den deutschen Botschafter zu töten, informiert war.[43] In der Nacht zum 8. Juli 1918 wurde Aleksandrovič erschossen. Dzierżyński schrieb über Aleksandrovič, er habe ihm „voll und ganz vertraut, mit ihm die ganze Zeit in der Kommission [der VČK B. Ch.] zusammengearbeitet, [...] und ich habe nichts von Doppelzüngigkeit bemerkt. Dieser Glaube hatte mich getäuscht und war der Grund allen Übels“.[44] Nicht ausgeschlossen ist, daß seine Kollegen den stellvertretenden VČK-Vorsitzenden erschossen, um „den Forderungen der Deutschen nachzukommen“.[45] Dem offiziellen Berlin bot sich nach dem Mord an Mirbach die Gelegenheit, auf die Stützung der Regierung Lenin zu verzichten. Deutschland stellte der Sowjetregierung sogar ein Ultimatum, aber Wilhelm II. hatte keine Kräfte mehr zur Wiederaufnahme des Krieges gegen Rußland. Mehr noch, der Kaiser sprach sich gegen den Bruch der Beziehungen zu Rußland aus und forderte dazu auf, „die Bolschewiken“ unter allen Umständen zu unterstützen. Im Sommer 1918 waren die Deutschen, wie Berichte der deutschen Botschaft an Berlin bezeugen, für die meisten Russen die Hauptstütze des bestehenden Regimes, dessen Sturz dem deutschen Einfluß auf Rußland einen Schlag versetzen würde.[46] Nicht von ungefähr führt Dzierżyński in seinen Aussagen die Worte Popovs[47] an, daß die Dekrete der Bolschewiki auf Befehl „Seiner Exzellenz Graf Mirbach“ geschrieben würden.[48] Wie ging also der Terrorakt in der Denežnyj-Gasse vor sich? Um 14.15 Uhr des 6. Juli 1918 fuhr ein dunkler Packard der VČK, in dem sich Bljumkin und Andreev befanden, vor dem Haus der deutschen Botschaft vor. Bljumkin stieg aus und wies den Fahrer an, den Motor nicht abzustellen. Dem Pförtner der Botschaft zeigten die Mörder die VČK-Bescheinigung vor und verlangten eine persönliche Zusammenkunft mit dem Grafen Mirbach. Man führte sie durch das Vestibül in einen Saal hinein und forderte sie auf, sich ein wenig zu gedulden. Der Botschafter, der von dem in Vorbereitung befindlichen Attentat gehört hatte, vermied sonst Treffen mit Besuchern, erfuhr jedoch, daß offizielle VČK-Vertreter gekommen waren, und beschloß, sie zu empfangen. Mirbach schlossen sich Dr. Riezler und Leutnant Müller, dieser als Dolmetscher, an.[49] Die Unterhaltung dauerte über 25 Minuten. Bljumkin legte dem Botschafter Papiere vor, die angeblich von der Spionagetätigkeit des „Verwandten des Botschafters“ zeugten. Mirbach bemerkte, er sei diesem Verwandten nie begegnet und sein Schicksal sei ihm gleichgültig. Andreev fragte, ob der Graf nicht von den Maßnahmen erfahren wolle, die die Sowjetregierung vorhabe. Der Graf nickte. Darauf holte Bljumkin seinen Revolver hervor und schoß. Er gab drei Schüsse ab: auf Mirbach, auf Riezler und auf Müller, aber alle drei Male verfehlte er das Ziel. Mirbach sprang von seinem Sessel auf und lief weg. Andreev warf eine Bombe, aber sie detonierte nicht. Darauf schoß Andreev auf Mirbach und verwundete ihn tödlich. Blutüberströmt fiel Mirbach auf den Teppich. Bljumkin aber hob die Bombe auf, die nicht detoniert war, und warf sie heftig noch einmal. Eine Explosion ertönte, unter deren Deckung die Mörder zu entfliehen suchten. Die Terroristen ließen die VČK-Bescheinigung, den „Fall Robert Mirbach“ und die Mappe mit einer vorrätigen Sprenganlage auf dem Tisch liegen, sprangen durch das durch die Detonation eingeschlagene Fenster hinaus und rannten durch den Garten auf den Wagen zu. Wenige Sekunden später saß Andreev im Wagen, Bljumkin aber hatte sich beim Sprung aus dem Fenster ein Bein gebrochen. Mühsam versuchte er, über den Zaun zu klettern. Vom Botschaftshaus aus eröffneten die Deutschen ein unregelmäßiges Feuer. Eine Kugel traf Bljumkin am Bein, aber auch er konnte den Wagen noch erreichen. Der Fahrer drückte das Gaspedal voll durch, und der VČK-Packard raste in die Trjochsvjatitel’skij-Gasse zum Stab von Popovs VČK-Abteilung. Hier wurde Bljumkin das Kopfhaar geschnitten, der Bart abrasiert, er selbst in eine Rotarmistenuniform gesteckt und in ein in der Nähe gelegenes Lazarett überführt. „Daran, daß wir aus der Botschaft entfliehen konnten, ist ein unvorhergesehener, ironischer Zufall schuld“, schrieb Bljumkin.[50] Um 3.15 Uhr starb Graf Mirbach. Er war 47 Jahre alt. Dzierżyński berichtete Lenin unverzüglich über den vermutlichen Mörder Jakov Bljumkin und darüber, wo er sich versteckt halte. Allerdings stimme, wie Dzierżyński vermerkte, die Beschreibung des Äußeren Bljumkins mit der des Mörders nicht überein. Den 19jährigen Bljumkin habe Leutnant Müller für einen 35jährigen Mann gehalten. Damals wußte Dzierżyński noch nicht, daß Bljumkin ohne jede Schminke sein Gesicht binnen weniger Sekunden älter oder jünger machen konnte. Diese Fähigkeit rettete ihm mehr als nur einmal das Leben. Um den Brester Frieden zu erhalten und den äußeren Schein der diplomatischen Formen zu wahren, begaben sich Sverdlov, Lenin und Čičerin in die deutsche Botschaft, um anläßlich der Ermordung des Botschafters offiziell zu kondolieren. Trockij weigerte sich kategorisch, zu den Deutschen zu fahren: Seine Formel „Weder Krieg noch Frieden“ verlangte keine Beileidsbezeigung wegen des Mordes an dem „Imperialisten und Feind der Weltrevolution“ Mirbach.[51] Ein luxuriöser Rolls-Royce aus der einstigen Zarengarage brachte das Oberhaupt des Sowjetstaates, den Regierungschef und den Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten in die Denežnyj-Gasse. Lenin war in einer ausgezeichneten Stimmung: Der Graf Mirbach, der über die dunklen Geschäfte der Bolschewiki mit dem Kaiserreich informiert war; der Graf Mirbach, der sich bemüht hatte, die Zarenfamilie zu retten;[52] der Graf Mirbach, der die Erniedrigung des revolutionären Rußland durch den deutschen Imperialismus verkörpert hatte, war nicht mehr am Leben. Lenin scherzte: „Ich habe schon mit Radek vereinbart, daß ich ‚Mitleid‘ sage, es gehört sich aber ‚Beileid‘“, und lachte über den eigenen Scherz.“[53] In der Denežnyj-Gasse hielt Lenin eine kurze Ansprache in Deutsch, in der er der deutschen Seite die Entschuldigungen der Regierung Sowjetrußlands wegen des Geschehnisses innerhalb der deutschen Botschaft, d. h. auf einem von der Sowjetregierung nicht kontrollierten Territorium, vorbrachte. Selbstverständlich fügte Lenin hinzu, daß „die Sache sofort untersucht werden wird und die Schuldigen der verdienten Strafe nicht entgehen werden“.[54] Die Worte blieben leere Versprechungen, so daß die Rede nicht von Beileid und nicht einmal von Mitleid, sondern eher schon von Mitschuld sein konnte. Weder Andreev noch Bljumkin wurde verhaftet. Die deutsche Regierung schickte mehrmals Proteste dagegen, daß „der Mord am Grafen Mirbach nicht durch die entsprechende Bestrafung der Schuldigen und Konspiratoren des Verbrechens gesühnt wurde“ und die Terroristen „nicht festgehalten wurden“. Andreev und Bljumkin waren einfach verschwunden. Bald verschlug es Andreev in die Ukraine, und dort starb er an Typhus. Ein anderes Schicksal war dagegen Bljumkin beschieden. Das Todesurteil über den ČK-Mann und Terroristen fällte 1918 nicht die Sowjetmacht, vielmehr taten das die von ihr ausgeschlossenen linken Sozialrevolutionäre, die sich an Bljumkin rächten. Selbstverständlich nicht wegen des Mordes an Mirbach, sondern wegen der hierauf folgenden Abrechnung, die die Bolschewiki mit ihrer Partei hielten, wobei die Aktion als „Unterdrückung der Meuterei der linken Sozialrevolutionäre“ dargestellt wurde. Im übrigen mißlang das Attentat der linken Sozialrevolutionäre: Bljumkin blieb am Leben. Im Mai 1919 kam Bljumkin nach Moskau und stellte sich im Präsidium des VCIK ein, um sein Geständnis abzulegen, und das Komitee verzieh dem Mörder des deutschen Botschafters, der in Abwesenheit zu drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden war, seine Tat. In dem entsprechenden Beschluß des Präsidiums des VCIK vom 16. Mai 1919 hieß es: „In Anbetracht der freiwilligen Selbststellung Ja. G. Bljumkins und der von ihm gelieferten ausführlichen Erklärung der Umstände des Mordes am deutschen Botschafter Graf Mirbach beschließt das Präsidium, Ja. G. Bljumkin zu amnestieren.“[55] Das Auftauchen Bljumkins in Moskau wurde von der deutschen Seite sehr wohl bemerkt, und sie forderte, den Mörder von Mirbach zu bestrafen. Der Volkskommissar für militärische Angelegenheiten Trockij formulierte in einem geheimen Telegramm an Lenin, Čičerin, Krestinskij und Bucharin seine Einstellung zu dieser Forderung wie folgt:
„Es ist notwendig, gegen die törichte deutsche Forderung nach einer Bestrafung wegen Mirbach Vorkehrungen zu treffen. Falls diese Forderung offiziell gestellt wird und wir uns werden in Erklärungen einlassen müssen, werden recht unangenehme Erinnerungen zutage treten (an Aleksandrovič, Spiridonova u. a.) [...] Die Zeitungen könnten diese Forderung in Prosa und Gedichten verspotten, und per Rundfunk würde ein Echo auch Berlin erreichen. Das ist viel günstiger als bei Verhandlungen über das Wesen der Frage in offizieller Weise Erklärungen abzugeben.“[56]
Dennoch zogen es die Gönner Bljumkins vor, ihn eine Zeitlang weitab von Moskau zu wissen. Er wurde in die Verfügungsgewalt des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten abkommandiert und zur Arbeit im Ausland entsandt. Im Juni 1920 traf er im Nordiran ein. Sich für einen persönlichen Freund von Trockij, Dzierżyński (auf dessen Empfehlung Bljumkin in die Partei der Bolschewiki aufgenommen wurde) und überhaupt von allen Mächtigen dieser Welt ausgebend, erarbeitete Bljumkin einen Plan des Staatsstreiches im Iran, nahm persönlich daran teil und wurde Mitglied des ZK der Kommunistischen Partei des Iran. Die Regierung Kütschük Khan wurde gestürzt. Im Iran kam eine neue Regierung an die Macht, und Bljumkin wurde darin ein hoher militärischer Posten angetragen. Diese ganze Riesenarbeit hatte Bljumkin in nur vier Monaten bewältigt. Moskau belohnte den initiativ- und erfolgreichen Mitarbeiter: Er wurde mit einem Kampforden ausgezeichnet und in die Akademie des Generalstabs der Roten Armee aufgenommen. 1922 wurde Bljumkin von der Akademie abberufen und in Trockijs Sekretariat entsandt. Im Oktober 1923 nahm Dzierżyński Bljumkin in Anerkennung seiner ehemaligen Erfolge in die ausländische Abteilung der OGPU auf. Bljumkin leitete die sowjetische Aufklärung in Tibet, der Mongolei, den nördlichen Gebieten von China und dem Nahen Osten. In den zwanziger Jahren war Bljumkin einer der berühmtesten Bürger Sowjetrußlands. Die Große Sowjetische Enzyklopädie gestand ihm über 30 Zeilen zu. Sergej Esenin, Nikolaj Gumilev und Vadim Šeršenevič widmeten ihm ihre Gedichte, und Valentin Kataev verlieh in seiner Erzählung Schon war Werther geschrieben der Hauptfigur, Naum Besstrašnyj (der Furchtlose), Bljumkins Züge und ein ihm ähnliches Äußeres. Doch spielte Bljumkins Ehrgeiz ihm übel mit. 1929 begegnete er in Istanbul seinem ehemaligen Vorgesetzten und Freund Trockij, dem schlimmsten Feind von Stalin, der Trockij des Landes verwiesen hatte. Bljumkin unternahm es, einen Brief von Trockij in die Sowjetunion zu übergeben. Sofort wurde er nach Moskau abberufen. Am 3. November 1929 wurde der „Fall“ des Trotzkisten Bljumkin auf einer Gerichtssitzung der OGPU verhandelt. Das Urteil lautete auf Erschießung. Im Dezember 1929 wurde Jakov Bljumkin erschossen. Beiliegende russische Quellen zu diesem Beitrag: 1. Fotokopie des handgeschriebenen Textes der „Verpflichtung“ Robert Mirbachs zur freiwilligen Zusammenarbeit mit der VČK vom 10. Juni 1918. 2. Fotokopie eines Schreibens (auf dem Vordruck und mit dem Siegel des kaiserlich-dänischen Generalkonsulats, unterschrieben vom dänischen Generalkonsul in Moskau) an die VČK vom 17. Juni 1918 darüber, daß Graf Robert Mirbach tatsächlich „Mitglied einer dem deutschen Botschafter Graf Mirbach verwandten Familie ist“. 3. Fotokopie der Bescheinigung von Bljumkin und Andreev (auf dem Vordruck und mit dem Stempel der VČK, unterschrieben von dem Vorsitzenden und einem Sekretär der VČK) vom 6. Juli 1918, die Bljumkin und Andreev am Tatort liegenließen. 4. Aussagen F. Dzierżyńskis zum Fall „Mord am deutschen Gesandten Graf Mirbach“ vom 10. Juli 1918 (mit Kommentaren und Anmerkungen) siehe in der Rubrik „Dokumente“ in diesem Heft. [1] Graf Wilhelm von Mirbach-Harff: Rat des deutschen Auswärtigen Amtes, deutscher Gesandter in Athen, Berater für politische Fragen beim Stab des deutschen Kommandos in Bukarest. 19081911 Botschaftsrat in Sankt Petersburg; vom 16.12.1917 bis zum 10.2.1918 stand er der deutschen Gesandtschaft in Petrograd vor, die nach Unterzeichnung des Waffenstillstands in Brest-Litovsk eingerichtet wurde; vom 2.4.1918 bis zu seiner Ermordung Botschafter in Sowjetrußland. Rittmeister d.R. des Westfälischen Kürassierregiments, Ehrenritter des Malteserordens. [2] Die Bolschewiki verfolgten eine ambivalente Politik gegenüber Deutschland: Einerseits hatten sie den Separatfrieden von Brest-Litovsk abgeschlossen und dadurch dem Kaiser geholfen, den Krieg im Westen fortzuführen, andererseits aber entfachten sie in Deutschland einen Herd der Weltrevolution. [3] Z.B. der Artikel im Russischen Enzyklopädischen Wörterbuch: „Mirbach, Wilhelm (18711918), deutscher Diplomat. Ab April 1918 Botschafter in Moskau bei der Regierung der RSFSR. Ermordet vom linken Sozialrevolutionär Ja.G. Bljumkin, welcher Umstand als Signal zu einer bewaffneten Meuterei der linken Sozialrevolutionäre im Juli 1918 in Moskau diente“ (Rossijski ėnciklopedičeskij slovar’, Buch 1, Moskau 2000, S. 956). Dabei wurde Mirbach nicht von Bljumkin, sondern von Nikolaj Andreev (genauer: von beiden) ermordet, und die bewaffnete Aktion der linken Sozialrevolutionäre, die sogenannte „Meuterei der linken Sozialrevolutionäre“, war keine Reaktion auf den Mord an Mirbach, sondern eine Antwort auf die bewaffneten Aktionen der Bolschewiki gegen sie. [4] Hilger, G.: Wir und der Kreml. Frankfurt a.M.-Bonn 1964, S. 1112. [5] Dokumenty germanskogo posla v Moskve Mirbacha, in: Voprosy istorii, Heft 9/1971, S. 120. [6] Siehe: Baumgart, W.: Deutsche Ostpolitik. 1918. Von Brest-Litowsk bis zum Ende des I. Weltkrieges. Wien-München 1966. [7] „Moskau, eine heilige Stadt, das Symbol der Zarenmacht und ein Heiligtum der rechtgläubigen Kirche, ist in den Händen der Bolschewiki zum Symbol eines himmelschreienden Bruchs von Geschmack und Stil geworden, der durch die russische Revolution verursacht ist ... Das Leitmotiv des ganzen Bildes ist Arbeitsscheu und Müßiggang ... Um die Sicherheit ist es ganz schlecht bestellt ... Die Verzweiflung der Vertreter der alten herrschenden Klasse ist unendlich, aber sie sind außerstande, genügend Kräfte zusammenzubringen, um dem organisierten Raub ein Ende zu setzen. [...] Der Wunsch, Ordnung [...] zu schaffen, erstreckt sich bis auf die niedrigsten Schichten, und das Gefühl der eigenen Machtlosigkeit läßt sie hoffen, daß die Rettung von Deutschland kommen werde. Die gleichen Kreise, die früher [...] uns mit falschen Beschuldigungen überschütteten, sehen in uns jetzt wenn nicht die Engel, so doch mindestens eine Polizeikraft“, schreibt Mirbach (Rückübers. nach: Fel’štinskij, Ju.G.: Voždi v zakone. Moskau 1999, S. 105106). Vgl.: Heresch, E.: Kuplennaja revolucija. Tajnoe delo Parvusa. Moskau 2004, S. 339. [8] Die russische Übersetzung des Rechenschaftsberichtes wurde in der UdSSR in gekürzter und redigierter Form veröffentlicht: Dokumenty (wie Anm. 5), S. 124. [9] Heresch (wie Anm. 7), S. 330, 331. [10] Nach Meinung des Historikers W. Baumgart sei Mirbach in den ersten drei Wochen seines Aufenthaltes in Moskau ein „leidenschaftsloser Beobachter“ gewesen, habe sich dann aber auf das Bündnis mit den Gegnern der Bolschewiki umorientiert (Baumgart, W.: Die Mission des Grafen Mirbach in Moskau. AprilJuni 1918, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. München, Heft 1/1968, S. 6768). [11] Rückübers. aus Dokumenty (wie Anm. 5), S. 125. Eine Kopie der ersten Seite dieses Briefes führt die österreichische Wissenschaftlerin Elisabeth Heresch an (wie Anm. 7), S. 341. [12] Als einen Anwärter auf die Rolle des Chefs einer neuen, prodeutschen Regierung, die Lenin hätte ersetzen sollen, betrachtete Mirbach den Exponenten der Rechtskräfte, Ex-Landwirtschaftsminister der Provisorischen Regierung Krivošein, einen Oktobristen. Dieser unterhielt Kontakte mit Mirbach über den Freiherrn von Nolde, ehemaliger Stellvertreter des Außenministers in der Provisorischen Regierung, sowie über Leont’ev, ehemaliger Stellvertreter des Innenministers in der Provisorischen Regierung. [13] Zit. nach: Fel’štinskij (wie Anm. 7), S. 120. [14] Dzierżyńskis Aussagen wurden im ersten Band des Rotbuches der VČK (Krasnaja kniga VČK) veröffentlicht. Doch war die Publikation unvollständig. Die Schlüsselmomente der Aussagen, die Bljumkin betrafen, wurden zusammenredigiert (siehe: Krasnaja kniga VČK, Bd. 1. Moskau 1989, S. 252261). [15] Pokazanija F. Dzierżyńskogo po delu ubijstva germanskogo poslannika gr. Mirbacha: Russisches Staatliches Archiv für sozialpolitische Geschichte (im weiteren: RGASPI), Bestand 76, Inventurliste 3, Akte 21, Blatt 4, Rückseite; Blatt 12, Rückseite. [16] Nach dem Sitzungsprotokoll des VČK-Präsidiums vom 20.5. folgt im Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes (CA FSB) ein Protokoll vom 1.10.1918. Vernichtet wurden die Dokumente nicht nur über die Schaffung der Gegenaufklärung, die Ernennung von Bljumkin, die Ermordung Mirbachs, die sogenannte Meuterei der linken Sozialrevolutionäre und die Verhaftung von Diplomaten der Alliierten, darunter Lockharts, sondern auch über den Mord am Vorsitzenden der Petrograder ČK Urickij, das Attentat auf Lenin und die Verkündung des roten Terrors. Siehe dazu: Zdanovič, A.A.: Svoi i čjužie intrigi razvedki. Moskau 2002, S. 105. [17] RGASPI, Bestand 76, IL. 3, Akte 21, Bl. 27, Rückseite. [18] Ebenda, Bl. 816 sowie Bl. 17. [19] Fišman, Mitglied des ZK der Partei der linken Sozialrevolutionäre, stellte zwei Sprengladungen her, die er am 6.7.1918 neben zwei Revolvern Andreev und Bljumkin übergab. 1919 wurde Fišman verhaftet und zu drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt, nach einem halben Jahr jedoch entlassen. 1920 trat er in die kommunistische Partei ein und diente in der Verwaltung Aufklärung der Roten Armee. Ab 1925 Leiter der Militärischen Verwaltung der Roten Armee für Chemiewesen und aktiver Teilnehmer der sowjetisch-deutschen Zusammenarbeit, die der Entwicklung und Erprobung von chemischen Waffen und Schutzmitteln gegen diese galt. 1937 den Repressalien zum Opfer gefallen. [20] Krasnaja kniga VČK, Bd. 1, S. 197. Siehe das Faksimile auf S. 113. [21] Ebenda, S. 200. Siehe das Faksimile auf S. 112. [22] Die letzten Worte, die in Deutsch in einer sehr kleinen und unleserlichen Schrift geschrieben sind, lassen daran zweifeln, daß ein wirklicher Graf Robert Mirbach so viele grammatische und syntaktische Fehler gemacht hätte. [23] Krasnaja kniga VČK, Bd. 1, S. 195. Siehe das Faksimile auf S. 114. [24] Bei einer Vernehmung 1919 sagte Bljumkin aus: „Die Unterschrift des Sekretärs (Gen. Ksenofontov) wurde von mir, und die Unterschrift des Vorsitzenden (Dzierżyński) von einem ZK-Mitglied nachgemacht“ (ebenda, S. 196). Wer in Wirklichkeit die Unterschrift des VČK-Vorsitzenden gefälscht hat (wenn überhaupt), steht bis jetzt nicht fest. Möglicherweise war es das Mitglied des ZK der linken Sozialrevolutionäre P. Prošjan. [25] Fel’štinskij (wie Anm. 7), S. 165. [26] RGASPI, Bestand 76, IL. 3, Akte 21, Bl. 2, Rückseite; Bl. 9. [27] Ebenda, Bl. 3, Rückseite; Bl. 10. [28] Ebenda, Bl. 2, Bl. 8. Im weiteren wurde die Tatsache einer Teilnahme Whybers an der Vorbereitung des Attentats nicht bestätigt. Im Juli 1918 wurde er entlassen und aus der Sowjetunion ausgewiesen. [29] Ebenda, Bl. 2, Rückseite; Bl. 8. [30] Ebenda, Bl. 2, Rückseite; Bl. 9. [31] Ebenda, Bl. 2, Bl. 8. [32] Ebenda, Bl. 3, Bl. 910. [33] Ebenda, Bl. 5, Bl. 12, Rückseite. [34] Krasnaja kniga VČK, Bd. 1, S. 297; siehe auch: Zdanovič (wie Anm. 16), S. 109. [35] RGASPI, Bestand 76, IL. 3, Akte 21, Bl. 5, Bl. 12, Rückseite. [36] Krasnaja kniga VČK, Bd. 1, S. 261. [37] RGASPI, Bestand 76, IL. 3, Akte 21, Bl. 5, Bl. 12, Rückseite [38] „Bljumkin nahm das Mirbach-Dossier bei mir um 11 Uhr morgens des 6. Juli, um irgendeine Frage zu klären. Ich habe die Mappe nicht zurückbekommen. Daher wurde mir klar, daß das Attentat auf Mirbach tatsächlich von Bljumkin verübt wurde“, schrieb Lacis in seinen Aussagen (Krasnaja kniga VČK, Bd. 1, S. 261). [39] Wie Karl Freiherr von Bothmer, 1918 Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Rußland, in seinem Tagebuch schrieb, wisse man aus Berlin nur soviel, daß mit Joffe, dem Bevollmächtigten Vertreter in Berlin, über die Verantwortung verhandelt werde und daß die deutsche halbamtliche Presse die Idee des Friedens unterstütze und feststelle, daß dem russischen Nachbar das Geschehnis leid tue (Karl von Bothmer: S grafom Mirbachom v Moskve. Dnevnikovye zapisi i dokumenty za period s 19 aprelja po 24 avgusta 1918 [Mit Graf Mirbach in Moskau. Tagebuchaufzeichnungen und Aktenstücke vom 19. April bis zum 24. August 1918]. Moskau 1996, S. 93. [40] Gemäß dem am 27.8.1918 in Berlin unterzeichneten sowjetisch-deutschen Abkommen hatte Sowjetrußland Deutschland eine Kontribution von 6 Md. Goldmark zu zahlen und Rohstoffe in einem beträchtlichen Umfang zu liefern. Die kaiserliche Regierung verpflichtete sich ihrerseits, die „Weißen“ nicht zu unterstützen und den Bolschewiki in ihrem Kampf gegen die Entente zu helfen. Siehe dazu: Luks, L.: Geschichte Rußlands und der Sowjetunion. Regensburg 2000, S. 87. [41] Solomon, G.A.: Sredi krasnych voždej. Moskau 1995, S. 5657. [42] Siehe: Šlaen, A.A.: Krasnaja čuma. Zerkalo nedeli, Heft 43/2000; Savčenko, A.V.: Terrorist Bljumkin „igrok so smertju“. Avantjuristy graždanskoj vojny. Moskau 2000. [43] Die Aussagen von Aleksandrovič wurden von den ČK-Leuten nicht veröffentlicht. Jurij Fel’štinskij (wie Anm. 7), S. 174, Anm. 127, nimmt an, daß die Bolschewiki die Aussagen von Aleksandrovič, ebenso wie die in Krasnaja kniga VČK veröffentlichten Aussagen der leitenden linken Sozialrevolutionärin Marija Spiridonova, die die Verantwortung für den Mord an Mirbach auf sich nahm, nach Berlin übersandten. Darauf weist die Randbemerkung „Berlin“ hin; Fel’štinskij entdeckte sie in einer maschinengeschriebenen Kopie von Krasnaja kniga VČK im Archiv des Hoover Institute (USA). [44] RGASPI, Bestand 76, IL. 3, Akte 21, Bl. 6, Rückseite bis 7, Bl. 15. [45] Solomon (wie Anm. 41), S. 8283. [46] Siehe: Vatlin, A.Ju.: Germanija v XX veke. Moskau 2002, S. 31 f. [47] Popov, D.I., linker Sozialrevolutionär, 1918 Mitglied des VCIK, Mitglied des VČK-Kollegiums, Leiter der Moskauer Abteilung der VČK. Im Juli 1918 traf er als Antwort auf die von den Bolschewiki auf dem 5. Sowjetkongreß vorgenommene Verhaftung der Fraktion der linken Sozialrevolutionäre eine Reihe von Maßnahmen, darunter die Verhaftung Dzierżyńskis, die durch die Sowjetregierung insgesamt als Meuterei der linken Sozialrevolutionäre qualifiziert wurden. Nach der Zerschlagung seiner Abteilung durch die Bolschewiki floh er in die Ukraine. 1919 diente er im Heer von Machno und vermittelte u.a. bei dessen Unterredungen mit den Bolschewiki über gemeinsame Handlungen gegen die Weißen. Im November 1920, nach dem Bruch des Bündnisses mit Machno durch die Bolschewiki, wurde Popov von ukrainischen ČK-Leuten verhaftet und nach Moskau transportiert, wo er dann 1921 erschossen wurde. [48] RGASPI, Bestand 76, IL. 3, Akte 21, Bl. 14. [49] Die Aussagen von Leutnant Müller und Dr. Riezler wie auch die von Bljumkin siehe: Krasnaja kniga VČK, Bd. 1, S. 201206, 295305. [50] Ebenda, S. 301. [51] In einem am Tag nach dem Mord veröffentlichten Befehl schrieb der Volkskommissar für militärische Angelegenheiten Trockij, der sehr wohl wußte, daß der deutsche Botschafter tot war und daß seine Mörder Bljumkin und Andreev, ČK-Leute und linke Sozialrevolutionäre, waren: „Unbekannte Personen warfen eine Bombe in die deutsche Botschaft. Wie gemeldet wird, sei Botschafter Mirbach schwer verwundet. Das offensichtliche Ziel ist das Streben, Rußland in einen Krieg gegen Deutschland einzubeziehen. Dieses Ziel verfolgen bekanntlich alle konterrevolutionären Elemente: die Weißgardisten, die rechten Sozialrevolutionäre und ihre Verbündeten“ (Izvestija VCIK vom 7.7.1918). [52] Den politischen Beschluß über das Schicksal Nikolaus’ II. und seiner Familie, die von den Bolschewiki 11 Tage nach dem Mord an Mirbach in Ekaterinburg erschossen wurden, faßten in Moskau Lenin, Sverdlov und der Anführer der Uraler Bolschewiki Gološčekin gleich nach der Ermordung des deutschen Botschafters. Offensichtlich hing dieser Beschluß auch mit den Versuchen deutscherseits zusammen, dem russischen Zaren zu helfen. In den Tagebuchaufzeichnungen Freiherr von Bothmers heißt es, daß die deutsche Seite „gewisse Versuche“ unternommen habe, „der Zarenfamilie auf diplomatischem Wege zu helfen“(Bothmer, S grafom Mirbachom v Moskve, S. 107). Wie der Fachmann für die Erforschung der Geschichte von Geheimdiensten L.P. Zamojskij schreibt, „nahm Mirbach Verbindung mit der illegalen prodeutschen Gruppe von Nejdgart und Benkendorf und über sie mit der Gruppe ‚Baltikum‘-‚Konsul‘ auf, die ihre Abzweigungen im Apparat von Kolčak und ihre Agenten in unmittelbarer Nähe von Ekaterinburg hatte. Eine aktive Rolle spielte bei den Handlungen zwecks Befreiung des Zaren Kurt Riezler, alias Ruedorffer, der mit Mirbach nach Moskau gekommen war. Kein anderer als er unterschrieb im Juli 1918 eine Meldung an das Auswärtige Amt Deutschlands über die Notwendigkeit, der Sowjetmacht eine Vorstellung bezüglich ‚einer relativ schonenden Behandlung der Zarin als deutsche Prinzessin‘ zu machen. Diese Demarche wurde in Berlin durch von Kühlmann, mit dem Mirbach ständig korrespondierte, gebilligt. Von Kühlmann betonte in seiner Antwort: ‚Unter keinen Umständen können die deutsche Prinzessin und ihre Kinder, darunter der Thronfolger, als von der Mutter untrennbar, ihrem Schicksal überlassen werden‘ Mirbach selbst aber erklärte, wie Nejdgart bezeugt, auf einer geheimen Beratung, als er von der Absicht der Behörden erfuhr, den Zaren vor Gericht zu stellen: ‚Unsere Position: Keinen Prozeß zuzulassen, die Familie zu befreien und nach Deutschland auszuführen.‘ Ernst Ludwig, Großherzog von Hessen, ein Cousin der Zarin, wandte sich an die sowjetische Botschaft in Berlin mit dem Versprechen, eine eventuelle Offensive der deutschen Truppen gegen Moskau zu verhindern und die Kontribution, die der Brester Frieden Sowjetrußland auferlegt, unter der Bedingung zu annullieren, falls die Zarenfamilie befreit wird und nach Deutschland ausreist“ (Zamojskij, L.P.: Povoroty sud’by carskoj semji. Rossija vom 21.5.2004). [53] Fel’štinskij (wie Anm. 7), S. 149. [54] Bonč-Bruevič, V.D.: Vospominanija o Lenine. Moskau 1969, S. 303304. [55] Zit. nach: Kolpakidi, A., Prochorov D.: KGB: prikazano likwidirovat’. Specoperacii sovetskich specslužb 19181941. Moskau 2004, S. 43. [56] Ebenda.
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