VI. Dokumente

Aussagen F. Dzierżyńskis zum Fall "Mord am deutschen Gesandten Graf Mirbach" (RGASPI, fond 76, opis' 3, de-lo 21)

Vorbereitet und kommentiert von Boris Chavkin (vgl. dazu Die Ermordung des Grafen Mirbach in diesem Heft)


Ungefähr Mitte Juni d. J.[1] erhielt ich von Gen. Karachan Nachrichten, die von der deutschen Botschaft ausgingen und die Gerüchte von einem in Vorbereitung befindlichen Attentat auf das Leben von Mitgliedern der deutschen Botschaft und von einer Verschwörung gegen die Sowjetmacht bestätigten. Mitglieder der deutschen Botschaft lieferten eine Liste von Adressen, an denen verbrecherische Aufrufe und die Verschwörer selbst zu entdecken waren; neben dieser Liste wurde der Text von zwei Aufrufen in deutscher Übersetzung geliefert. Diese Sache wurde zwecks Untersuchungen an die Genossen Peters[2] und Lacis weitergeleitet. Aber trotz solch konkreter Hinweise wurde bei den von der Kommission unternommenen Hausdurchsuchungen nichts entdeckt, so daß alle im Zusammenhang mit dieser Sache Verhafteten entlassen werden mußten. Ich war überzeugt, daß den Mitgliedern der deutschen Botschaft jemand wissentlich falsche Nachrichten zwecks ihrer Erpressung oder zu anderen, komplizierteren politischen Zielen zuschiebt. Meine Überzeugung beruhte nicht nur auf die Tatsache, daß die Durchsuchungen nichts ergaben, sondern auch darauf, daß die uns gelieferten Aufrufe in der Stadt nirgends verbreitet wurden. Dann übergab mir Gen. Karachan Ende Juni (am 28.) ein neues Material über in Vorbereitung befindliche Verschwörungen, das er aus der deutschen Botschaft erhalten hatte. Wie mitgeteilt wurde, seien außer jedem Zweifel in Moskau Attentate auf Mitglieder der deutschen Botschaft und Vertreter der Sowjetmacht in Vorbereitung, und es sei möglich, alle Fäden dieser Verschwörung mit einem Schlag zu enthüllen. Dazu sei es nur notwendig, noch am selben Tage, das heißt, am 28. Juni, genau um 9 Uhr abends zuverlässige (unbestechliche) Leute zu einer Hausdurchsuchung in der Petrovka 19, Whg. 35, zu entsenden. Es gelte, auf das sorgfältigste absolut alles in der Wohnung Befindliche zu untersuchen: jeden Fetzen Papier, Bücher, Zeitschriften usw. Falls etwas Chiffriertes gefunden werde, sei es der Botschaft zuzustellen: Dort werde man das sofort entschlüsseln. In der Wohnung, die Dr. I. I. Andrijanov gehöre, wohne der Engländer F. M. Whyber, der Hauptorganisator der Verschwörung. Nach Erhalt dieser Nachrichten entsandten die Gen. Peters und Lacis einen Trupp von Genossen, die volles Vertrauen verdienen, an den genannten Ort zwecks Hausdurchsuchung. Mehrere Personen wurden festgehalten, darunter der Englischlehrer Whyber. Bei ihm wurden in einem Buch auf dem Tisch sechs chiffrierte Blätter gefunden. Sonst wurde nichts entdeckt, was ihn hätte kompromittieren können. Beim Verhör erklärte der Bürger Whyber, daß er sich nicht mit Politik befasse und nicht wisse, auf welchem Wege die chiffrierten Blätter in sein Buch geraten seien, und daß er selber darüber erstaunt sei. Gen. Karachan übergab eines der gefundenen Blätter, das mit einer Chiffre begann,[3] den Mitgliedern der deutschen Botschaft zwecks Dechiffrierung nach dem ihnen verfügbaren Schlüssel. Sie schickten uns dieses Blatt in schon dechiffrierter Form sowie den dazugehörigen Schlüssel zurück. Die übrigen Blätter haben wir (ich, Karachan und Peters) bereits entschlüsselt. Nachdem ich den Inhalt dieser Blätter gelesen hatte, kam ich zu der Überzeugung, daß jemand sowohl uns als auch die deutsche Botschaft erpreßte und daß möglicherweise der Bürger Whyber ein Opfer dieser Erpressung war. Um meine Zweifel zu beseitigen, bat ich Gen. Karachan, mich unmittelbar mit jemandem aus der deutschen Botschaft bekanntzumachen. Ich traf mich mit Dr. Riezler und Leutnant Müller. Ihnen gegenüber äußerte ich all meine Zweifel und meine beinahe volle Überzeugung davon, daß jemand sie erpresse. Dr. Riezler sagte, das sei schwer anzunehmen, weil die Personen, die ihm die Nachrichten übergäben, kein Geld von ihm bekämen. Ich verwies darauf, daß auch politische Motive der vermutlichen Mystifikation mit im Spiel sein könnten wie zum Beispiel der Wunsch der Feinde, uns auf die falsche Spur zu bringen; ich war um so mehr überzeugt, daß es sich um irgendeine Intrige handelte, als ich durchaus glaubwürdige Nachrichten bekommen hatte, daß gerade dem Dr. Riezler mitgeteilt worden war, in Fällen, bei denen es sich um unmittelbar gegen die Sicherheit der Mitglieder der deutschen Botschaft gerichtete Verschwörungen handele, sähe ich nur durch die Finger, was natürlich eine Erfindung und Verleumdung ist. Mit diesem Mißtrauen gegen mich erklärte ich die sonderbare Tatsache, die mich bei der Entlarvung der Verschwörer oder Intriganten an Händen und Füßen bindet, daß ich von der Quelle der Nachrichten und den in Vorbereitung befindlichen Attentaten in Kenntnis gesetzt wurde; mit diesem Mißtrauen, das von jemandem künstlich aufrechterhalten wird, erklärte ich auch die Tatsache, daß uns der Schlüssel zur Chiffre nicht sofort geschickt wurde, daß wir Dr. Riezler erst davon überzeugen mußten, uns diesen Chiffreschlüssel der Verschwörer zu geben, und daß er ursprünglich vorschlug, das ganze aufgefundene Material an die Botschaft zu richten. Es war mir klar, daß dieses Mißtrauen von Personen geweckt wurde, die damit ein bestimmtes Ziel verfolgten: mich an der Entlarvung der wirklichen Verschwörer zu hindern, an deren Existenz ich aufgrund aller mir verfügbaren Angaben nicht zweifelte. Ich befürchtete Attentate auf das Leben von Graf Mirbach seitens der monarchistischen Konterrevolutionäre, die eine Restauration durch die Militärmacht des deutschen Militarismus herbeiwünschten, sowie seitens der konterrevolutionären Savinkov-Leute und der Agenten der englischen und französischen Bankiers. Das Mißtrauen gegen mich seitens der Personen, die mir das Material lieferten, band mich an Händen und Füßen. Die Ergebnisse der Haussuchung, der Inhalt der chiffrierten Blätter, die Art der Chiffrierung (eine kinderleichte Chiffre: Jeder Buchstabe hat nur ein Zeichen, Wort wird von Wort getrennt, Gebrauch von Satzzeichen usw.) und die fehlende Kenntnis der Quelle lieferten mir keine Fäden für eine weitere Untersuchung. Meine Erfahrungen aber zeigten mir, daß man unbekannten Quellen, die nicht zu bestrafen und nicht zu überprüfen sind, in keinem Fall vertrauen darf. Außerdem war das Mißtrauen in diesem Fall erst recht angebracht, weil eine gewisse, im chiffrierten Schreiben erwähnte Benderskaja, offenbar eine Teilnehmerin der Verschwörung, zugleich, wie Dr. Riezler mir (und Gen. Karachan) sagte, eine Informantin der Botschaft war, und weil Dr. Riezler den Wunsch äußerte, sie möge nicht sofort verhaftet werden, da sie dann nicht imstande sein werde, über den Verlauf der Verschwörung mehr zu erfahren und darüber mehr zu informieren, es sei also nützlich, ihre Verhaftung etwas aufzuschieben. Ich muß darauf hinweisen, daß in dem in der deutschen Botschaft entschlüsselten ersten Blatt der Familienname „Benderskaja“ durch Punkte (... ... .) ersetzt war (ich gab bei einer Zusammenkunft Dr. Riezler dieses entschlüsselte Blatt zurück). Ich bat Dr. Riezler, seinen Informanten zu fragen, woher dieser wisse, daß bei einer Durchsuchung um genau 9 Uhr, nicht früher und nicht später, Materialien zu finden seien, woher er die Chiffre habe, welche Bestimmung die aufgefundenen chiffrierten Blätter hätten, wen er von den Verschwörern kenne, usw. Über Gen. Karachan bestand ich dann darauf, daß man mich mit dem Informanten persönlich zusammenführe. Der Familienname des wichtigsten Informanten wurde mir nicht genannt, was die Benderskaja betrifft, so wurde bei ihr, als sie zum ersten Mal in die Botschaft kam, ein Revolver entdeckt und ihr weggenommen. (Benderskaja war kurz vor der Entdeckung der chiffrierten Blätter in irgendeiner belanglosen Angelegenheit vor unsere Kommission zitiert und sofort entlassen worden.) Die Untersuchung wurde vom Ermittler Wiesner, Leiter des Kriminaldezernats, durchgeführt. Letzten Endes war Dr. Riezler bereit, mich mit seinen Informanten bekanntzumachen. Ein paar Tage vor dem Attentat (an das genaue Datum erinnere ich mich nicht) kam ich mit ihm zusammen. Zu Beginn unserer Unterhaltung war auch Leutnant Müller zugegen. Ich fragte den Informanten aus, und gleich bei seinen ersten Antworten sah ich, daß sich meine Zweifel bestätigten, daß seine Antworten unsicher waren, daß er Angst vor mir hatte und verworren sprach; er versuchte offenbar, zugleich Leutnant Müller gegen mich mißtrauisch zu machen, um sich vor mir abzusichern. Wie sich herausstellte, war er es, der beim ersten Mal die Adressen und Hinweise geliefert hatte, und in meiner Anwesenheit sprach er plötzlich davon, daß wir unter diesen Adressen die Aufrufe aufgefunden, jedoch aus irgendeinem Grund kein Verfahren eingeleitet hätten. Leutnant Müller wohnte unserem Gespräch nicht lange bei, und als er am Gehen war, sprang der Informant, beunruhigt, auf, um ebenfalls zu gehen, und erst die Versicherung des Leutnants, er habe nichts zu befürchten, ihm passiere nichts, beruhigte ihn einigermaßen, und er blieb da. Er erzählte mir folgendes (ich gebe das nach dem Gedächtnis und einzelnen Notizen wieder, die ich mir bei meinem Gespräch mit ihm machte). Er heiße Vladimir Iosifovič Ginč (seine Adresse nannte er nicht, übrigens bestand ich nicht darauf), sei Bürger Rußlands, lebe in Moskau seit ungefähr sieben Jahren und sei Filmschaffender. Die Organisation, der er beigetreten sei, heiße „Sojuz sojuznikov“ [Bündnis der Verbündeten], d. h. „SS“ (siehe die chiffrierten Blätter) beziehungsweise „Spasenie Rossii“ [Rußlands Rettung]. Die Haussuchung an den von ihm der deutschen Botschaft beim ersten Mal genannten Adressen habe deshalb keine genügenden Materialien ergeben, weil sie in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag hätte vorgenommen werden sollen, dabei aber in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag (früher als notwendig) geschehen sei. Während der Haussuchung an der von ihm genannten Adresse im Nierensee-Haus (Bol’šoj Gnezdnikovskij 10) habe der Leiter der Abteilung, die die Haussuchung durchführte, Kuznecov, die Aufrufe gefunden. Er selbst sei über einen gewissen Mameljuk (ein Franzose), den er zufällig kennengelernt habe, in eine Fünfergruppe der Kämpfer von „Sojuz spasenija“ eingeführt worden. Savinkov bilde Fünfergruppen (das ist falsch, Savinkov bildet Vierergruppen, nach dem militärischen Schema. Anm. von mir – F. D.). Zu dieser Fünfergruppe gehören angeblich: 1. Mameljuk, Olsuf’evskij 3, Angestellter einer Fabrik (Pljuščicha 19), 2. Morane, 3. Fejchis (Petrovka 17, Whg. 98 oder 89), der, wie er wisse, von der Kommission entlassen werden solle, ebenso wie Whyber, für seine Entlassung sei ein Riesenbetrag bereitgestellt worden, der Anwalt habe 50.000 Rubel bekommen (in den Listen der Verhafteten habe ich einen solchen nicht gefunden – F. D.), 4. Bjutel’ (Bol’šaja Dmitrovka 20 oder 22, Ecke Stolešnikov, Whg. 8). Die Aufrufe der Verschwörer seien in sieben Druckereien gedruckt worden. Unter anderem in der Nikitskaja 4, wo die Kommission die Aufrufe gefunden habe, ferner in der Kommerčeskij-Gasse, der Serebrjannikovskij-Gasse 5, bei Antonova, bei der Mameljuk die Aufrufe in Auftrag gab. In dieser letztgenannten Druckerei habe er von einem jungen Boten zwei oder drei schon gedruckte Aufrufe bekommen und sie an die Botschaft übergeben; aber eben vom Boten und nicht von Mameljuk, denn man habe bemerkt, daß er die Botschaft besuche, und ihm das Vertrauen entzogen. Bei der Aufnahme in die Fünfergruppe habe man von ihm den Eid verlangt, daß er, wenn ertappt, keinen von der Fünfergruppe verrate, sonst werde er selber getötet. Die Verschwörer hätten ihm die Aufrufe zwecks Verbreitung geben sollen, dazu hätten sie ihm eine chiffrierte Adresse gegeben, sie ihm jedoch wieder weggenommen. Auch habe er 20.000 Rubel für die Teilnahme am „Sojuz“ und dafür bekommen, daß er mit ihnen zur Station Fili und von dort mit einer Droschke irgendwohin gefahren sei und nach Moskau vier Kästen mitgebracht habe. Viele Aufrufe seien auf Schreibmaschinen irgendwo in der Lubjanka getippt worden. Zur Chiffre soll er folgenderweise gekommen sein: Vor etwa drei Wochen sei er bei Mameljuk gewesen und habe auf dessen Tisch die Chiffre gesehen, und als Mameljuk für ein paar Minuten aus dem Zimmer gegangen sei, habe er sie für sich abgeschrieben. Er habe der deutschen Botschaft bei der Dechiffrierung des Briefes, der bei Whyber entdeckt worden sei, geholfen. Über Whyber habe ihn Benderskaja informiert. Er habe ihr Vertrauen gewonnen, und sie habe die Sache ausgeplaudert. Er bat, sie nicht zu verhaften, zumindest nicht bis Sonnabend, man brauche sie. Er zeigte ihren Brief an ihn, worin sie von irgendwelchen 800 Rubeln schrieb (er fragte mich zuvor, ob ich ihre Handschrift kenne, weil sie doch von uns verhaftet worden war) und davon, daß sie festgehalten und entlassen worden sei. Der Brief war vom 28.VI. datiert. Im Brief wurde ihre Adresse genannt; ich sagte ihm, ich wolle mir diese Adresse notieren, aber er bat, das nicht zu tun, weil man sie zumindest bis Sonnabend nicht brauchen werde. Die Adresse habe ich mir, ohne daß er gemerkt hätte, daß es sich um die Adresse handelte, doch aufgeschrieben. Nach der Zusammenkunft mit diesem Herrn hatte ich keine Zweifel mehr, die Tatsache einer Erpressung stand für mich fest. Nur konnte ich das Ziel nicht verstehen, ich dachte, sie wollten „lediglich die Kommission irreleiten“ und ihr eine überflüssige Beschäftigung aufzwingen. Übrigens habe ich vergessen zu vermerken, daß er am Ende des Gesprächs, als ich aufstand, um zu gehen, mich um einen Ausweis für die Kommission bat (er sei dort mehrmals mit Nachrichten gewesen, man habe ihm jedoch nicht zuhören wollen, auch sei er in der Abteilung Popov gewesen, aber ebenfalls ohne sein Ziel erreicht zu haben). Nach diesem Treffen teilte ich der deutschen Botschaft über Gen. Karachan mit, daß ich die Verhaftung von Ginč und Benderskaja für notwendig hielt, bekam jedoch keine Antwort. Beide wurden erst am Sonnabend nach der Ermordung von Graf Mirbach verhaftet.

Aleksandrovič wurde im Dezember vorigen Jahres[4] auf kategorische Forderung der Mitglieder des Rates der Volkskommissare der linken Sozialrevolutionäre hin als stellvertretender Vorsitzender in die Kommission eingeführt. Er hatte die gleichen Rechte wie ich, hatte das Recht, alle Papiere zu unterschreiben und statt mir Anweisungen zu erteilen. Er bewahrte das große Siegel, mit dem die gefälschte Bescheinigung angeblich in meinem Namen gestempelt war, die Bescheinigung, die Bljumkin und Andreev den Mord zu begehen half. Bljumkin wurde auf Empfehlung des ZK der linken Sozialrevolutionäre in die Kommission aufgenommen, und zwar zu dem Zweck, in der Abteilung zur Bekämpfung der Konterrevolution eine Gegenaufklärung zum Kampf gegen die Spionage zu organisieren.

Einige Tage zuvor, vielleicht eine Woche vor dem Attentat, bekam ich von Raskol’nikov[5] und Mandel’štam[6] (arbeitete in Petrograd bei Lunačarskij) die Nachricht, daß es sich diese Person erlaubt, gesprächsweise folgende Dinge zu sagen: Das Leben von Menschen sei in seinen Händen, er brauche nur ein Papier zu unterschreiben – und nach zwei Stunden sei ein Menschenleben vorbei; da sitzt bei mir Bürger Puslovskij ein, ein Dichter, ein großer Kulturwert, ich unterschreibe sein Todesurteil, wenn es aber meinem Gesprächpartner auf dieses Leben ankommt, werde ich es ihm lassen, usw. Als Mandel’štam protestierte, drohte Bljumkin ihm, wenn er jemandem etwas verrate, werde er sich an ihm unter Einsatz all seiner Kräfte rächen. Ich übergab diese Nachrichten sofort Aleksandrovič, er sollte vom ZK Erklärungen sowie Angaben über Bljumkin verlangen, um diesen vor Gericht zu stellen. Noch am selben Tag wurde in einer Versammlung der Kommission auf meinen Vorschlag hin beschlossen, unsere Gegenaufklärung aufzulösen und Bljumkin vorläufig aus jedem Amt zu entlassen. Vor Erhalt der Erklärungen seitens des ZK der linken Sozialrevolutionäre beschloß ich, die Angaben, die gegen Bljumkin sprachen, vorläufig nicht zu melden. Ich habe Bljumkin nicht näher gekannt und nur selten getroffen.

Die Nachricht über den Mord an Graf Mirbach erhielt ich gegen 3 Uhr nachmittags des 6. Juli vom Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare über direkte Verbindung. Zusammen mit dem Genossen Karachan, einer Abteilung Ermittlern und Kommissaren fuhr ich sofort in die Botschaft, um die Festnahme der Mörder zu organisieren.

Leutnant Müller empfing mich mit dem laut ausgesprochenen Vorwurf: „Was sagen Sie jetzt, Herr Dzierżyński?“ Mir wurde ein Papier gezeigt, eine mit meinem Namen unterschriebene Bescheinigung. Die auf dem Vordruck der Kommission geschriebene Bescheinigung bevollmächtigte Bljumkin und Andreev, in einer dienstlichen Angelegenheit um eine Audienz beim Grafen Mirbach zu ersuchen. Eine solche Bescheinigung habe ich nicht unterschrieben; ich sah mir meine Unterschrift und die vom Genossen Ksenofontov genau an und begriff, daß unsere Unterschriften kopiert, gefälscht waren. Sofort verstand ich alles.

Im Lichte der Entlarvung Bljumkins durch Raskol’nikov und Mandel’štam wurde sofort klar, daß er ein Provokateur war. Ich hatte die Partei der linken Sozialrevolutionäre noch nicht in Verdacht, vielmehr nahm ich an, daß Bljumkin ihr Vertrauen getäuscht hatte. Ich verfügte, ihn sofort zu finden und zu verhaften (wer Andreev war, wußte ich nicht). Einer der Kommissare, Genosse Belen’kij, teilte mir darauf mit, daß er vor kurzem, schon nach dem Mord, Bljumkin in der Abteilung Popov gesehen habe. Inzwischen verfügte ich die sofortige Verhaftung von Ginč, der vorgeschlagen hatte, Benderskaja bis zum (schicksalhaften) Sonnabend nicht zu verhaften [...]. Belen’kij kehrte mit der Nachricht zurück, Popov habe ihm mitgeteilt, daß Bljumkin angeblich mit einer Droschke ins Krankenhaus gefahren sei (wie es hieß, habe er sich ein Bein gebrochen), aber er, Belen’kij, zweifele an der Wahrheit von Popovs Worten, dieser verberge ihn aus kameradschaftlichen Gefühlen heraus; darauf beriet ich mich mit dem Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare sowie mit dem Vorsitzenden des VCIK und fuhr mit drei Genossen (Trepalov, Belen’kij und Chrustalev) selbst zu der Abteilung, um die Wahrheit herauszufinden sowie Bljumkin und die Leute, die ihn versteckten, zu verhaften. In der Abteilung angekommen, fragte ich Popov, wo Bljumkin sei, jener antwortete, Bljumkin sei krank und mit einer Droschke fort; ich fragte ihn, wer das gesehen habe; Popov berief sich auf den Verwalter. Der wurde herbestellt und bestätigte Popovs Worte. Ich fragte ihn, in welches Krankenhaus er gefahren sei, der antwortete, er wisse das nicht. Seine Antworten waren frech, er log offensichtlich. Ich bestellte die Wachposten her, sie sollten bestätigen, Bljumkin beim Wegfahren gesehen zu haben; das konnte keiner von ihnen. Dabei ist zu sagen, daß die bis an die Zähne bewaffneten Soldaten offenbar mobilisiert waren, sie drängten sich im Stab und vor dem Stab, und daß überall Posten standen. Ich verlangte von Popov das Ehrenwort eines Revolutionärs, damit er sagte, ob Bljumkin bei ihm sei oder nicht. Darauf antwortete er mir: „Ich gebe mein Wort darauf, daß ich nicht weiß, ob er hier ist.“ (Bljumkins Mütze lag auf dem Tisch.) Ich begann also mit der Ortsbesichtigung, wobei ich den Genossen Chrustalev bei Popov ließ, und verlangte, daß alle Anwesenden auf ihren Plätzen blieben. Mit den Genossen Trepalov und Belen’kij besichtigte ich die Räume. Mir wurde alles aufgeschlossen, die Tür zu einem der Räume mußte aufgebrochen werden. In einem der Zimmer befragte Genosse Trepalov einen dort befindlichen Finnen, und dieser sagte, ein solcher [Bljumkin?] sei da. Darauf traten Proš’jan und Karelin an mich heran und erklärten, ich solle nicht nach Bljumkin suchen, Graf Mirbach sei von ihm auf Beschluß des ZK ihrer Partei getötet worden, und das ZK übernehme die ganze Verantwortung. Darauf sagte ich ihnen, ich erklärte sie für verhaftet, und wenn sich Popov weigere, sie mir auszuliefern, würde ich ihn als Verräter töten. Proš’jan und Karelin sagten dann, daß sie sich unterordneten, aber statt in meinen Wagen einzusteigen, liefen sie ins Zimmer des Stabes und von dort in ein anderes Zimmer. An der Tür stand ein Posten, er ließ mich nicht zu ihnen hinein; hinter der Tür bemerkte ich Aleksandrovič, Trutovskij, Čerepanov, Spiridonova, Fišman, Kamkov und andere, mir nicht bekannte Personen. Im Stabszimmer befanden sich 10–12 Matrosen, ich wandte mich an sie und verlangte Unterordnung unter meine Anweisungen und Beistand bei der Verhaftung der Provokateure. Sie redeten sich darauf hinaus, daß sie Befehl erhalten hätten, niemanden in jenes Zimmer einzulassen. In diesem Moment tritt Sablin ein und auf mich zu und verlangt die Abgabe der Waffen; ich gab sie ihm nicht her und wandte mich wieder an die Matrosen, fragte sie, ob sie es erlaubten, daß dieser Herr mich, ihren Vorsitzenden, entwaffne, sagte ihnen, daß man versuche, sie für ein niederträchtiges Ziel auszunutzen, daß meine gewaltsame Entwaffnung – die Entwaffnung eines vom Rat der Volkskommissare hierher Entsandten – der Kriegserklärung an die Sowjetmacht gleichkomme. Die Matrosen gerieten ins Schwanken, und Sablin stürzte aus dem Zimmer. Ich verlangte nach Popov, jener kam nicht; das Zimmer füllte sich mit Matrosen, auf mich trat Popovs Stellvertreter Protopopov zu, faßte mich an beiden Armen, und ich wurde entwaffnet. Wieder wandte ich mich an die Matrosen. Darauf trat Spiridonova ein und erklärte auf ihre Art, weshalb wir festgehalten würden: weil wir auf Mirbachs Seite stünden. Übrigens sagte Trepalov mir, er sei von Spiridonova eigenhändig entwaffnet worden: Während die Matrosen seine Arme festhielten, holte sie aus seiner Tasche den Revolver hervor. Nach der Entwaffnung wurden wir unter Bewachung gestellt, und sie selbst veranstalteten im Nebenraum eine Kundgebung, man hörte von dort Spiridonovas Stimme und Beifall. Ihnen ging es darum, sich selbst und die Matrosen von der Last des Verrats zu befreien (den empfanden alle während unserer Entwaffnung), und zwar mit Hilfe ihrer Phrasen und Aufrufe. Ich muß noch hervorheben, daß Popov erst dann das Zimmer betrat, als wir entwaffnet waren, und als ich ihm „Verräter!“ entgegenwarf, sagte er, immer habe er meine Anweisungen ausgeführt, jetzt aber handele er laut Beschluß seines ZK. Er beschuldigte uns, unsere Dekrete auf Befehl „seiner Exzellenz Graf Mirbach“ geschrieben und die Schwarzmeerflotte verraten zu haben. Die Matrosen ihrerseits warfen uns vor, daß wir angeblich den Armen Mehl wegnähmen, die Flotte verräterisch zugrunde gerichtet hätten, die Matrosen entwaffneten und in den Hintergrund drängten, obwohl sie die ganze Last der Revolution getragen hätten. Einzelne Stimmen schrien, daß man sie – die Anarchisten – entwaffnet habe, daß im Butyrki-Gefängnis  über 70 Menschen erschossen worden seien, [...] daß man überall in den Dörfern die Sowjetmacht hasse. Dann kamen Čerepanov und Sablin herein. Der erste rieb sich zufrieden die Hände und sagte schadenfroh: „Ihr habt eure Oktobertage erlebt – und wir erleben jetzt unsere Julitage, ich habe 12 Jahre wissenschaftliche Arbeit hinter mir. [...] Der Frieden ist gebrochen, das ist ein Fakt, ob ihr es wollt oder nicht, wir streben die Macht nicht an, soll es doch wie in der Ukraine sein, wir gehen in die Illegalität, sollen doch die Deutschen Moskau besetzen.“ Popov sagte, jetzt werde man nicht gegen die Tschechoslowaken Krieg führen müssen. Darauf wurden Lacis, Dabol[7] u. a., dann Žavoronkov (Muralovs Sekretär), ein Mitglied des Seekollegiums (den Familiennamen kenne ich nicht) und in der Nacht noch Smidovič, Vinglinskij u. a. als Verhaftete ins Zimmer hereingeführt. Popov freute sich und rannte immer wieder mit Nachrichten zu uns herein: „Die Abteilung Vinglinskij hat sich uns angeschlossen, die Pokrovskie-Kasernen verhaften die Kommissare und schließen sich uns an, die Letten schließen sich uns an, das ganze Zamoskvoreč’e ist mit uns, 2.000 Donkosaken sind aus Voronež eingetroffen, Murav’ev[8] fährt zu uns, das Martov-Regiment ist mit uns. Schon haben wir 6.000 Mann, die Arbeiter schicken ihre Delegationen zu uns.“ Ihre rosige Stimmung wurde durch die Nachricht getrübt, daß ihre Fraktion und Spiridonova verhaftet worden seien. Popov stürzte ein: „Für Marija werde ich den halben Kreml, die halbe Lubjanka, das halbe Theater in die Luft sprengen.“ Tatsächlich fuhren viele Leute mit mehreren Wagen fort, um den Verhafteten herauszuhelfen. Konserven, Stiefel und Lebensmittel wurden verteilt, Unterwäsche und Kringel hergebracht. Den Leuten war anzusehen, daß sie getrunken hatten. Unsere Gespräche mit den Matrosen zeigten, daß sie fühlten: Sie waren im Unrecht, wir dagegen im Recht. Es sprang ins Auge, daß da von Ideentreue keine Rede war, daß aus ihnen nur die Bereicherungsabsicht von Menschen sprach, die sich von den Interessen der werktätigen Massen schon losgelöst hatten, von Berufssoldaten, die als Sieger vom Rausch der Macht und unbekümmerter Versorgung bereits gekostet hatten. Viele von ihnen – die am stärksten betrunkenen – hatten 3 bis 4 Ringe an den Fingern.

Wie kamen solche Leute in unsere Abteilung? Das ist ein Werk von  Ale­ksandrovič, Popov und dem ZK der linken Sozialrevolutionäre. Ich habe Aleksandrovič voll und ganz vertraut, mit ihm die ganze Zeit in der Kommission zusammengearbeitet, er stimmte mir fast immer zu, und ich habe nichts von Doppelzüngigkeit bemerkt. Dieser Glauben hatte mich getäuscht und war der Grund allen Übels. Ohne dieses Vertrauen hätte ich ihm den Fall Bljumkin nie aufgetragen, auch nicht die Untersuchung von Beschwerden über die Abteilung Popov, die manchmal eingingen, ohne dieses Vertrauen hätte ich ihm nicht geglaubt, wenn er sich für Popov in den Fällen verbürgte, da sich bei mir bei Gerüchten von seinen Trinkgelagen Zweifel regten. Ich kann mich auch jetzt nicht mit dem Gedanken abfinden, daß er ein ganz bewußter Verräter ist, obwohl alle Fakten vorliegen und es nach allem Vorgefallenen keine zwei Meinungen über ihn geben kann. Was seine Abteilung betrifft, so hat sie sich folgenderweise in eine Bande verwandelt: Nach der Verlegung der Finnen an die tschechoslowakische Front[9] blieben nur wenige von ihnen in der Abteilung übrig; Popov entließ viele von den politisch bewußteren Leuten, die noch da waren, und nahm neue auf, wobei er schon ein bestimmtes Ziel verfolgte. Aleksandrovič fuhr nun immer wieder zur Abteilung. Es kamen Matrosen der Schwarzmeerflotte, ich erhielt von Gen. Cjurupa die Auskunft, daß es sich um eine Bande handelte. So beauftragte ich Popov, die Lage zu klären. Die Abteilung Popov erhielt immer die Aufträge, Banden zu entwaffnen, und er erfüllte solche Aufträge immer glänzend; im Ergebnis nahm er ohne Wissen von Kommissionen bis zu 150 Mann in seine Abteilung auf, aus eigener Initiative und für eigene Zwecke nahm er auch Matrosen der Baltischen Flotte auf. Zwei oder drei Tage vor dem verhängnisvollen Sonnabend versetzte Popov seine Abteilung in volle Gefechtsbereitschaft und machte alle mit den Nachrichten seiner „Aufklärung“ nervös, die deutschen Konterrevolutionäre hätten die Entwaffnung der Abteilung und die Verhaftung von Popov selbst vor. In der Nacht vom Freitag zum Sonnabend schlug Popov besonders viel Alarm mit der Behauptung, der Überfall sei für diese Nacht vorbereitet worden. Die Richtigkeit seiner Angaben bestätigte er durch die schon nicht mehr erdachte Tatsache, daß er von der Kommission die Vorladung bekommen hatte, sich am Sonnabend um 2 Uhr nachmittags zu einem Verhör einzustellen. Die Vorladung war von der Kommission im Zusammenhang mit der Beschuldigung geschickt worden, beim Erhalt von Konserven in der Intendantur Mißbräuche zugelassen zu haben. Er erhielt weit mehr davon, als ihm zustand. Die dagebliebenen Finnen waren uns in ihrer Mehrheit bis zum Ende treu.

Ich muß noch hinzufügen, daß ich bei meinem Aufenthalt im Raum noch Magerovskij, ebenfalls einen der führenden linken Sozialrevolutionäre, sah. Er trat in unser Zimmer ein und bat einen von unseren lettischen Aufklärern, die von ihnen festgehalten wurden, zu unseren Leuten zu gehen und zu sagen, all das sei ein Mißverständnis. Wie sich herausstellte, übergab Aleksandrovič, nachdem er einem Verhafteten 544.000 Rubel zwecks Abgabe an das Vorratslager weggenommen hatte, dieses Geld an das ZK seiner Partei. Außerdem versuchte er, Zaks[10] gegenüber Mißtrauen hervorzurufen, indem er mir erklärte, daß sein ZK ihm nicht vertraue.

10. Juli 1918

F. Dzierżyński

 

(Übersetzung: Nina Letneva)

 



[1] Des Jahres 1918.

[2] Peters, Ja. Ch.: Bolschewik, Mitglied des Kollegiums und stellvertretender Vorsitzender der VČK (hier und im weiteren gelten die Angaben für den Moment der Erwähnung der jeweiligen Person im Text des Dokumentes).

[3] Im Original werden die Buchstaben, die Chiffre und einzelne Geheimzeichen angeführt.

[4] Ein Irrtum von Dzierżyński: Der linke Sozialrevolutionär V. A. Aleksandrovič gehörte der VČK-Kommission seit Januar 1918 an.

[5] Raskol’nikov, F. F.: Bolschewik, stellvertretender Volkskommissar für die Seeflotte und Mitglied des Kriegsrates der Ostfront. Ehemann der Schriftstellerin und Kommissarin der Ostfront Larisa Rejsner. Dzierżyński irrt sich: An ihn persönlich wandte sich Raskol’nikov nicht mit einer Beschwerde über Bljumkin.

[6] Wenige Tage vor Mirbachs Ermordung beschwerten sich Larisa Rejsner und der Dichter Osip Mandel’štam bei Dzierżyński über Bljumkin. Raskol’nikov verhalf ihnen zu einer Zusammenkunft mit Dzierżyński. Als Vorwand zur Zusammenkunft diente ein Streit zwischen Mandel’štam und Bljumkin im Moskauer „Kafe poetov“. Mandel’štams Frau Nadežda schrieb in ihren Erinnerungen, wie Bljumkin vor ihrem Mann mit seiner Allmacht geprahlt und erzählt habe, irgendeinen verhafteten Kunstwissenschaftler als einen „miserablen Intelligenzler“ erschießen zu wollen. Bljumkins zynische Prahlerei empörte Mandel’štam. Nach dem Gespräch im Café wandte er sich zusammen mit Rejsner an Dzierżyński um Hilfe. Im Ergebnis wurde der unglückselige Kunstwissenschaftler vermutlich entlassen (Mandel’štam, N. Ja.: Vospominanija. Moskau 1999, S. 121).

[7] Dabol, Ja. M.: Leiter der Kommandanturabteilung der VČK.

[8] Murav’ev, M. A.: Linker Sozialrevolutionär, Oberbefehlshaber der Ostfront. Nach den Ereignissen vom 6. Juli 1918 versuchte er, mit der Waffe in der Hand gegen die Bolschewiki vorzugehen. Bei der Verhaftung leistete er Widerstand und wurde getötet.

[9] Eine von S. P. Černov, Mitglied des VČK-Kollegiums, geleitete kommunistische finnische VČK-Abteilung wurde an die Ostfront zum Kampf gegen das meuternde Tschechoslowakische Korps verlegt. Festgestellt sei, daß ein bedeutender Teil der deutschen Militärhilfe zum Kampf gegen die Tschechoslowaken verwendet wurde, damit sie nicht aus Rußland evakuiert werden konnten, da das Korps nach der Heimkehr an den Kriegshandlungen an der Westfront auf der Seite der Entente hätte teilnehmen sollen.

[10] Zaks, G. D.: Linker Sozialrevolutionär, stellvertretender Vorsitzender und Kollegiumsmitglied der VČK. Nach den Ereignissen vom 6.7.1918 brach er mit seiner Partei und bildete eine Partei der Narodniki-Kommunisten, die im November 1918 in die KPR(B) eingegliedert wurde.