Vladimir Kantor

Aus der Sicht eines Vertriebenen.
Ein Brief von Fedor Stepun an Heinrich Rickert aus dem Jahr 1932



Ein Emigrant lebt zwischen zwei Welten. Unwillkürlich stellt er immerzu Vergleiche an zwischen seiner eigenen Kultur und der Kultur, in der er Aufnahme gefunden hat. Wurde er gegen seinen Willen außer Landes verwiesen, ist seine Situation noch komplexer. Sein Zustand des gleichzeitig Drinnen- und Draußenseins, wie er im übrigen für große Künstler kennzeichnend ist,[1] schärft in der Fremde möglicherweise Blick und Urteilskraft des notgedrungen auf sich Gestellten, sowohl in bezug auf die zurückgelassene Heimat als auch auf das aufnehmende Land. Dies ist sicher einer der Gründe für das wachsende Interesse an der intellektuellen Leistung der russischen Emigration, nicht nur an Texten, die für die Öffentlichkeit bestimmt waren, sondern auch an den Tagebüchern und Briefen. In der Tat können die in solchen Schriftzeugnissen niedergelegten Einschätzungen der politischen und geistigen Situation dem Kulturhistoriker Denkanstöße und Verständnishilfen bieten.

Die Bezeichnung Westeuropas als „Fremde“ paßt im Fall der russischen Schriftsteller und Denker, die 1922 von den Bolschewiki nach Westeuropa ausgewiesen wurden, nicht so ganz. Sie waren praktisch alle zuvor in Europa gewesen, beherrschten souverän europäische Sprachen und verfügten über alte Kontakte und Verbindungen. Auch nahm der Westen die ungewöhnliche Exilantengruppe, die ihrer Gesinnung wegen aus der Heimat vertrieben worden war, anfangs freundlich auf. Zwar hatte es ähnliche Fälle bereits zuvor gegeben, doch gerade an dieser vergleichsweise milden Aktion wurde für den Westen besonders deutlich erkennbar, wie ernst es den regierenden Bolschewiki war.

Deutschland, für fast alle Exilanten die erste Station, hatte schwere Zeiten hinter sich. Berdjaev berichtet:

„Es begann ein völlig neuer Lebensabschnitt. Bei der Ankunft in Berlin empfingen uns die deutschen Organisationen sehr freundlich und halfen uns bei der vorläufigen Unterbringung. Die Vertreter der russischen Emigration empfingen uns nicht. Ich habe Westeuropa immer geliebt, reiste seit Kindertagen häufig ins Ausland, auch wenn mich die westeuropäische Bürgerlichkeit abstieß. Ich ging durch Berlin mit einem starken Gefühl des Kontrastes verschiedener Welten. Das Exil deprimierte mich nicht, aber ich empfand ständig Heimweh nach Rußland. Deutschland war damals ein unglückliches Land. Berlin war voller Kriegsinvaliden. Der Wert der Mark sank ins Bodenlose. Die Deutschen sagten: ‚Deutschland ist verloren.‘ Ich habe in meinem Leben das Zerbrechen von Welten und die Geburt neuer Welten gesehen. Bei Menschen habe ich ungewöhnliche Transformationen erlebt; die Ersten wurden die Letzten, die Letzten wurden die Ersten.“[2]

Fedor Stepun mochte sich in Deutschland noch selbstsicherer als andere fühlen: Der Herkunft nach Deutscher, hatte er einige Jahre an der Heidelberger Universität studiert,[3] kannte viele deutsche Freunde, Kollegen und Professoren, die sich gut an den begabten Studenten erinnerten und gern den Kontakt mit ihm wieder aufnahmen. Bald nach der Ankunft (1924) besuchte er Heidelberg und Frankfurt und schrieb darüber einen Artikel (Dva Gejdel’berga [Zwei Heidelberg]). Auf das deutsche Thema werden wir noch zurückkommen. Es steht gewissermaßen im Zentrum dieser Publikation. Zuvor aber noch einige Worte über die Gruppe von Philosophen, mit der Stepun nach Deutschland ausgewiesen wurde, sowie über die erstaunliche Weitsicht der Tschekisten.

Im Mai 1922 wird auf Vorschlag Lenins in das Strafgesetzbuch ein Passus über die „Ausweisung außer Landes“ aufgenommen. Eine Materialsammlung, die 2003 in der Zeitschrift Otečestvennye archivy [Vaterländische Archive, Nr. 1, S. 65-96] präsentiert wurde, dokumentiert, wie sorgfältig das Politbüro und die Tscheka das System der Ausweisung außer Landes vorbereiteten. Man sammelte Namen von auszuweisenden Personen, wobei zu jeder eine detaillierte Charakteristik angefertigt wurde. In der „Resolution des Politbüros des ZK der RKP(b) über die Bestätigung der Liste der aus Rußland auszuweisenden Intellektuellen“ vom 10. August 1922 wird Stepun, den man auf die Ergänzungsliste gesetzt hatte, wie folgt charakterisiert:

„7. Stepun Fedor Avgustovič. Philosoph, mystische und sozialistisch-revolu­tionäre Gesinnung. War zu Zeiten Kerenskijs unser erbitterter aktiver Feind und arbeitete in der Zeitung der rechten S[ozialisten]-R[evolutionäre] Volja naroda [Volkswille]. Kerenskij wurde auf ihn aufmerksam und machte ihn zu seinem politischen Sekretär. Lebt heute bei Moskau in einer Kommune werktätiger Intellektueller. Würde sich im Ausland sehr wohlfühlen und könnte unter unseren  Emigranten großen Schaden anrichten. Ist ideologisch verbunden mit den Landesflüchtigen Jakovenko und Gessen, mit denen er seinerzeit Logos herausgab. Mitarbeiter des Verlags Bereg [Das Ufer]. Die Charakteristik wurde von der Literaturkommission erstellt. Gen. Sereda ist für die Verbannung. Die Gen. Bogdanov und Semaško dagegen.“[4]

Man hatte demnach verstanden, daß Stepun sich in der Emigration als ernstzunehmender Gegner erweisen könnte. Nur wenig später, am 23. August, taucht er als Nummer 8 in der „Liste der Nicht-Verhafteten“ auf – einer Liste, die fast unheimlicher wirkt als die Liste der Verhafteten:[5] Der Mensch lebt, geht seines Weges, denkt seine Gedanken – und doch sind seine Tage gezählt. Eine Situation, wie sie für die Tragik und den schwarzen Humor der totalitären Epoche typisch war. Bei Vysockij heißt es: „Aber von oben – an der Spitze – war alles vorentschieden: / Wir zappelten schon im Visier der Schützen. / Das hat Humor, das ist zu komisch (Byl pobeg na ryvok [Ausbruchsversuch], 1977). Dabei darf nicht vergessen werden, daß es der inständige Wunsch der Betroffenen war, in Rußland zu bleiben. Aus den Akten der unlängst geöffneten Archive der Tscheka geht ihre einhellig negative Einstellung zur Emigration deutlich hervor.

Im Protokoll der Vernehmung von F. A. Stepun vom 22. September 1922 heißt es: „Ich habe eine negative Einstellung zur Emigration. Auch meine kranke Ehefrau bleibt meine Ehefrau, sie wird niemals die Frau des französischen Doktors sein, der sie behandelt. Die Emigration, die die Revolution zu Hause nicht erlebt hat, beraubt sich selbst der Möglichkeit tätiger Teilhabe am Wiederaufbau des geistigen Rußland.“[6] Es lassen sich auch spätere Zeugnisse anführen; Berdjaev äußert etwa:

„Eine Gruppe von Schriftstellern, Gelehrten und Politikern, deren Bekehrung zum kommunistischen Glauben man als aussichtslos einschätzte, wurde außer Landes verwiesen. Dies war eine äußerst seltsame Maßnahme, die ohne Wiederholung blieb. Meine Ausweisung erfolgte nicht aus politischen, sondern aus ideologischen Gründen. Als man mir sagte, daß ich ausgewiesen werde, verfiel ich in eine schwermütige Stimmung. Ich wollte nicht auswandern. Ich hatte eine Abneigung gegen die Emigration und wollte ihr nicht angehören. Aber zugleich gab es das Gefühl, in eine freiere Welt zu kommen und freier atmen zu können. Ich ahnte nicht, daß mein Exil 25 Jahre dauern würde.“[7]

Berdjaev hatte recht: Die Ausweisung wurde nicht aus politischen, sondern aus ideologischen Gründen veranlaßt. Die Bolschewiki scheinen für einen bestimmten Moment fremde Ideen gefürchtet zu haben. Offenbar befanden sie sich noch im Bann der Illusion, daß sie ihren Sieg einer Idee verdankten, auch wenn sie sich in Wirklichkeit weniger auf eine Idee stützten als auf die primitiven Masseninstinkte, die sie mit der Erlaubnis, „das Geraubte zu rauben“, entfachten.

Kehren wir zu dem „ideologischen Porträt“ zurück, das die Tschekisten von Stepun angefertigt hatten. Zusammenfassend heißt es in dem Dossier der GPU vom 30. September 1922 in bezug auf F. A. Stepun:

„Vom Moment des Oktoberumsturzes an bis zum heutigen Zeitpunkt hat er sich weder mit der seit 5 Jahren in Rußland existierenden Arbeiter- und Bauernmacht versöhnt noch auch nur für einen Moment in den Momenten äußerer Schwierigkeiten für die RSFSR von seiner antisowjetischen Tätigkeit abgelassen.“[8]

Hier ist zunächst einmal festzuhalten, daß die Oktoberrevolution von den Tschekisten selbst als „Oktoberumsturz“ bezeichnet wird. Noch interessanter aber sind die Übereinstimmungen dieses Textes mit dem Bild Stepuns, das ein deutsches Denunziationsschreiben der Nazi-Ära zeichnete. Gleich den Bolschewiki duldeten die Nationalsozialisten Stepun fünf Jahre ihrer Regierungszeit, d.h. so lange, bis sie sich endgültig davon überzeugt hatten, daß es bei Professor Stepun keinen Gesinnungswandel geben würde. In der Denunziation von 1937 heißt es:

„Die Versetzung Professor Stepuns in den Ruhestand auf Grund der Paragraphen 4 oder 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ist schon im Jahre 1933 erwogen worden. Sie ist jedoch seinerzeit nicht durchgeführt worden, da zunächst abgewartet werden sollte, wie sich Professor Stepun zum nationalsozialistischen Staate einstellen und seine Tätigkeit einrichten würde. Stepun hat aber seither jede ernste Bemühung um eine positive Einstellung zum Nationalsozialismus vermissen lassen. Stepun lehnt vielmehr in seinen Vorlesungen die Anschauungen des Nationalsozialismus vor allem hinsichtlich des Totalitätsanspruchs der nationalsozialistischen Idee sowie der Bedeutung der Rassenfrage, ebenso hinsichtlich der Judenfrage und insbesondere deren Bedeutung bei der Kritik des Bolschewismus ab.“[9]

Bevor die Nationalsozialisten begonnen hatten, sich mit ihm zu beschäftigen, beobachtete Stepun seinerseits bereits den Nationalsozialismus und Deutschland aufmerksam. Natürlich war ihm anfangs noch nicht klar, daß es sich um eine neue Bewegung handelte, die ganz Deutschland erfassen würde. Man hat sie häufig mit dem Bolschewismus verglichen, viele jedoch wollten in ihr auch einen Selbstschutz vor der „Sowjetisierung“ des deutschen Staates sehen, die deutsche Reaktion auf das bolschewistische Experiment, wie etwa Ernst Nolte in seinem provokativen Buch.[10] Ich selbst stimme eher mit dem deutschen Historiker Leonid Luks überein, der (beim allgemeinen Wahnsinn der „Epoche der Massenbewegung“) die Unterschiedlichkeit der beiden Erscheinungen hervorhebt: „Daß gerade in Deutschland, der größten Industriemacht Europas, eine Bewegung – die NSDAP – an die Macht kommen konnte, die den Fortschrittgedanken ablehnte und von einem ‚Agrarland Deutschland’ träumte, konnten die Bolschewiki nicht verstehen.“[11] Etwas vorauseilend muß angemerkt werden, daß gerade die von der nationalsozialistischen Bewegung proklamierte „Blut und Boden„-Ideologie viele deutsche Intellektuelle anzog, sogar Denker vom Maßstab eines Heidegger.

Stepun bewegte vieles: die Probleme Rußlands, das er zurücklassen mußte, Probleme des Lebensalltags und Erinnerungen an die Vergangenheit; auch mußte er sich um Kontakte zu Emigrantenzeitschriften und -verlagen bemühen. Das erste, was ihm auffiel, war die Unvereinbarkeit der damaligen europäischen Realität mit seinen Vorstellungen vom Christentum als vernunftbewahrender Kraft, von der europäischen Kultur, die ihren Grundwerten treu blieb. Er schrieb:

„Da sind wir nun aus Rußland nach Europa vertrieben worden, von dem wir in den letzten Jahren so hingebungsvoll schwärmten, und was finden wir? Unverständlich und doch wahr: Mit der Vertreibung nach Europa wurden wir aus Europa vertrieben. Wir ‚russischen Europäer‘ liebten Europa, aber offensichtlich nur als eine schöne Landschaft, die wir durch ‚Peters Fenster‘ betrachten konnten; kaum war die heimische Fensterbank unter den Ellenbogen nicht mehr da, verlor das Bild seinen Reiz.“[12]

Seinen Aufsatzzyklus Mysli o Rossii [Gedanken über Rußland] veröffentlichte Stepun in den Pariser Sovremennye zapiski, der Zeitschrift, in der auch sein Roman Nikolaj Pereslegin erschien. Das Deutschland, das er erlebte, befand sich in einem Zustand der Auflösung.

1924 schildert er in einem Aufsatz seine Eindrücke vom zeitgenössischen Deutschland und vergleicht sie mit seinen Studentenjahren. Als Anhaltspunkt dient ihm das Leben in den Universitätsstädten und das Leben seiner früheren Lehrer. Er besucht Heidelberg,[13] von dem er sagt, es sei keine Stadt, sondern eine Ballade, erinnert sich an W. Windelband, A. Dietrich, G. Jellinek, d.h. an die Professoren, bei denen er studiert hatte, und vergleicht ihr damaliges Leben mit dem der zeitgenössischen deutschen Professoren:

„Das Leben der Studenten hat sich sehr verändert, das Leben der Professoren nicht weniger. In allen Professorenhäusern herrscht eine deprimierende Not. […] Ein kaltes Vorzimmer, ein kalter Korridor. In der kalten Wohnung zwei bis drei heizbare Zimmer. Ein kleiner Ofen, dessen Hitze den Rücken verbrennt, aber die Beine nicht wärmt. Die Kälte kriecht an den Beinen hoch, es zieht vom Fenster und unter der Tür hervor. Einladungen zum Mittag- oder Abendessen gibt es fast gar nicht. Man lädt entweder zum Tee ein oder nach dem Abendessen. Im letzten Fall manchmal mit dem Hinweis ‚aber bitte nur halb angegessen‘, was bedeutet, es gibt entweder kalten Reis mit Sirup oder Butterbrote mit Margarine. Das alles hinterläßt einen beklemmenden Eindruck, es ist bedrückender als in Rußland. […] Die Deutschen schämen sich ihrer Armut und versuchen bei aller wirtschaftlichen Not ihres Gesellschaftslebens den traditionellen Anstand zu wahren. Es gibt nichts zu essen; aber Geschirr, mit dem man niemanden bewirten kann, gibt es reichlich. Die Gesichter über den Tassen sind grünlich, aber die Kragen sind gestärkt. Die Zimmer sind so sorgfältig aufgeräumt, daß sie kälter erscheinen als die Temperatur, die das Thermometer anzeigt.“[14]

Einer derjenigen, zu denen Stepun sofort wieder Kontakt sucht, ist der bekannte Heidelberger Philosoph Heinrich Rickert,[15] der seinerzeit den jungen Scholaren für ihre neu gegründete Zeitschrift den großartigen Namen Logos schenkte. Es sei daran erinnert, daß Rickert anfangs Stepuns philosophisches Wirken mit Interesse verfolgt hatte. In seinem programmatischen Buch Die Philosophie des Lebens schrieb er, hier sei unmittelbar Anschluß an romantische Gedanken gesucht worden.

„Charakteristisch in dieser Hinsicht ist ein ‚Beitrag zur Philosophie des Lebens‘ [Opyt filosofii žizni] von dem Russen Friedrich Steppuhn, der sich zu Friedrich Schlegel bekennt. Die ‚Lebenswerte des Lebens‘ werden als ‚Zustandswerte‘ allen ‚Leistungswerten‘ und damit allen Kulturwerten entgegengestellt. Das Leben selbst steht am höchsten, und zumal die Religion ist allein im reinen Erlebnis zu finden.“[16]

Stepun beginnt den Briefwechsel mit ihm 1922, im ersten Jahr des Exils. Mehrere seiner Briefe an Rickert sind erhaltengeblieben. Ich konzentriere mich jedoch auf den letzten der im Universitätsarchiv befindlichen Briefe von 1932, der hier der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Das Schreiben ist von hohem Informationswert; es genügt, auf die Erzählung über das Schicksal des Bruders von F. Stepun hinzuweisen, der aus Deutschland nach Sowjetrußland zurückkehrte und dort ins Gefängnis gesperrt, danach ins Lager gebracht wurde, und all die anderen russischen Bedrängnisse, von denen die Rede ist. Darüber hinaus berührt Stepun darin Fragen, die nicht nur den Alltag, sondern auch die philosophischen Tendenzen im damaligen Deutschland betreffen. Insbesondere werden dort die nationalsozialistischen Neigungen Heideggers angesprochen, lange vor den entlarvenden Veröffentlichungen späterer Jahrzehnte.

Wie sah es in Deutschland damals aus? Was war das für ein Zustand „vor dem Sturm“, heute fast vergessen, damals hingegen von vielen nicht richtig bewertet? Arthur Koestler, der Autor des bekannten Romans Sonnenfinsternis, schreibt im Kapitel „Liberale Götterdämmerung“ seiner Memoiren:

„Bis zum 14. September [1930 – V.K.] hatte die NSDAP im Reichstag zwölf Sitze. Nach diesem Tag hatte sie hundertsieben. Die Parteien der Mitte waren zerschlagen. Die demokratische Partei gab es so gut wie nicht mehr, und die Sozialdemokraten hatten neun Mandate verloren. Die Stimmenzahl der Kommunisten hatte sich um vierzig Prozent erhöht, die der Nazis um achthundert Prozent. Die entscheidende Kraftprobe rückte näher. Sie erfolgte dreißig Monate später. [...] Nach ein paar Tagen legte sich die Panik [...] überall in Deutschland ging man wieder wie zuvor seinen Geschäften nach, in einem Land, das inzwischen zu einem Minenfeld geworden war. […] Nach der Katastrophe fragte man sich: Wie konnten wir solche Narren sein […]? Die Antwort lautet, daß es eben auf und ab ging, daß es noch dreißig Monate dauerte und daß es infolge der Trägheit der menschlichen Phantasie für die meisten eben nicht auf der Hand lag.“[17]

In der Tat, man gewöhnt sich an alles. Manche begannen unterdessen, den Kontakt zu den Nationalsozialisten zu suchen. Wenig später sollte sich Goebbels ironisch über die Intellektuellen äußern, die fieberhaft ihren Eintritt in die Partei betrieben. Goebbels berichtet 1931 von einer Vielzahl neuer Mitglieder, die nach den Septemberwahlen 1930 in die Partei eingetreten waren, und warnt die Partei vor dem Eindringen bürgerlicher Intellektueller: Den Vertretern der wohlhabenden und gebildeten Schichten könne man nicht in dem Maße vertrauen wie den „alten Kämpfern“, da sie ihrem Charakter und ihren Prinzipien nach unendlich tiefer stünden als die alten Parteigenossen. Goebbels verachtete die neubekehrten Intellektuellen, die glaubten, durch demagogisches Geschwätz zu Anführern aufsteigen zu können.[18]

Stepun nahm die Nationalsozialisten bereits zu Beginn der dreißiger Jahre ernst, wie den Artikeln zu entnehmen ist, die er zu diesem Thema in den Sovremennye zapiski und im Novyj Grad schrieb. Die völkische Komponente des Nationalsozialismus war für ihn bereits unübersehbar: „Der nationale Volkstumsgedanke der deutschen Jugendbewegung gehörte zu den besten geistigen und zu den edelsten Kräften, die zum Sieg des vulgären Nationalsozialismus beitrugen.“[19] In dem hier zitierten Artikel von 1931 beurteilt Stepun die Wahlen des 14. September so: „Wer vergißt, daß die Nationalsozialisten mit dem unerschütterlichen Glauben an die Wahrheit ihrer Idee, mit dem grimmigsten Siegeswillen in den Kampf gingen, beseelt von einem erhabenen Empfinden messianischer Aufgaben des künftigen deutschen Staates, kann ihren schwindelerregenden Erfolg nicht erklären.“[20] Der Sieg der neuen Bewegung rückte näher, und ein jeder wählte seine Position. Als Karl Jaspers sein Buch Die Schuldfrage (1946) verfaßte, schrieb er von der Schuld derer, die während der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland lebten, aber von deren Verbrechen nichts wissen wollten. Für Stepun definierte sich der Widerstand des Intellektuellen gegen den Nationalsozialismus durch zwei Begriffe: Glaube an Gott und Treue zur echten Philosophie. Zum Verbündeten wählte er sich ausgerechnet Heidegger, den er als einen Gegner des Regimes wahrnahm, nicht einen politischen, sondern einen prinzipiellen Gegner, von der Art der aus der Sowjetunion vertriebenen russischen Philosophen.

Und dies, obwohl gerade zur damaligen Zeit die Philosophen der russischen Emigration Heidegger radikal ablehnten, ja, in seinem Werk nichts Philosophisches entdecken konnten. Ich stütze mich auf einen Artikel von N. S. Plotnikov, der viele pejorative Aussagen russischer Philosophen über Heidegger anführt, darunter eine von ihm kommentierte Aussage von N. Losskij:

„‚Die Angst, das Unterworfensein unter die gesellschaftliche Banalität (durch das unpersönliche <Man>), die Degradierung der Individualität, die Verlorenheit in der Welt, die Verlassenheit und letztendlich die niederdrückende Angst, besonders im Angesicht des Todes, das ist nach Heidegger der grundlegende Inhalt des menschlichen Lebens. Er geht über den Gesichtskreis der deutschen Hausfrau (Frau Sorge) nicht hinaus, die von den Sorgen um die täglichen Kleinigkeiten des Lebens zerrieben wird. Die ontologische Basis und den Sinn der Sorge und folglich des menschlichen Daseins findet er in einem solchen Element des Seins wie der Zeit. Daher ist es verständlich, daß der Mensch nach Heidegger aus der entpersönlichten Verlorenheit nur heraustreten, nur zu sich selbst finden kann, wenn er sein Leben als ‚Sein zum Tode’ begreift und bereit ist, sich mit dem Tod zu versöhnen. In der Tat ist das jämmerliche menschliche Dasein, das Heidegger beschreibt, seinem Wesen nach Gott sei Dank zum Tode verurteilt. Aber außer dieser sterblichen Seite findet man in der Tiefe des menschlichen Geistes Fähigkeiten und Ziele, absolute Werte, die dem Philosophen die Grundlage bieten, gedanklich zu den übermenschlichen Prinzipien und in letzter Konsequenz zum Absoluten als schöpferischem Urgrund der Welt vorzudringen. Nur von dieser Höhe aus kann man den Sinn und Bauplan des Seins verstehen; nur ausgehend vom Absoluten kann man die Frage nach der Vielfalt des In-der-Welt-Seins des Menschen, nach den positiven Seiten der Zeit, nach der Vielfalt der Lebenswege, ihrer Dramatik, dem leiblichen Tod des Menschen und ungeachtet dessen der Bewahrung der absoluten Werte usw. beantworten.‘ Eine solche bemüht optimistische Erkenntnistheorie, von Zweifeln unberührt, macht nicht nur jede Erörterung der Fragen zunichte, die Heidegger gestellt hat, sondern verhindert überhaupt das kritische Philosophieren, das Reflektieren der eigenen Prämissen. In Losskijs ‚Interpretation‘ steigert sich die negative Haltung der Mehrheit der russischen Denker zur ‚fundamentalen Ontologie‘ ins Extrem und grenzt ans Absurde.“[21]

Der Name Heidegger symbolisierte für Stepun in jener Zeit die Philosophie, deren Wahrhaftigkeit dem Nationalsozialismus widerstand. In dem bereits zitierten Artikel von 1931 schreibt er:

„In Hitlers Buch steht ein bezeichnender Satz: ‚Ein Jüngling, der sich heute mit Philosophie beschäftigt, ist kein deutscher Jüngling‘! Umgekehrt ist es richtig: Die besten deutschen Jünglinge befassen sich heute mit Philosophie und Theologie, mit Heidegger und Barth. Das geistige Niveau Hitlers und seiner gesamten Bewegung ist auf undeutsche Weise niedrig und dürftig. Es wird überliefert, daß die alten Germanen, wenn sie sich taufen ließen, eine Faust, in der ein Schwert steckte, aus dem Fluß streckten, damit diese ungetauft blieb. Es unterliegt keinem Zweifel, daß Hitlers Weltanschauung nicht einem deutschen Kopf entsprungen ist, sondern einer ungetauften germanischen Faust.“[22]

Natürlich konnte Stepun von der Rektoratsrede „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ noch nichts ahnen, in der Heidegger sich über die Unechtheit der früheren akademischen Freiheiten äußern und von der Studentenschaft die „in Wissen und Können gesicherte und durch Zucht gestraffte Bereitschaft zum Einsatz bis ins Letzte“ fordern würde. „Diese Bindung umgreift und durchdringt künftig das ganze studentische Dasein als Wehrdienst.“[23] Noch weniger konnte er Heideggers Eintritt in die NSDAP vorhersehen, der von N.V. Motrošilova folgendermaßen beschrieben wird:

„Der neu gewählte Rektor muß den wichtigsten Punkt der vor seiner Wahl mit den Nationalsozialisten getroffenen Vereinbarung erfüllen. Am 1. Mai 1933, am wieder in Kraft gesetzten Tag der Arbeit, tritt Martin Heidegger feierlich in die NSDAP ein. Auf den Glückwunsch von Dr. Fehrle aus dem Kultusministerium in Karlsruhe antwortet der Philosoph: ‚Ich danke Ihnen herzlichst für die Begrüßung zu meinem Eintritt in die Partei. Wir müssen jetzt alles daran setzen, um die Welt der Gebildeten und Gelehrten für den neuen nationalpolitischen Geist zu erobern. Das wird kein leichter Waffengang werden. Sieg Heil. Martin Heidegger‘. Der Brief stammt vom 9. Mai 1933.“[24]

Es verwundert, daß sowohl die Kritiker als auch die Verteidiger Heideggers das Hauptaugenmerk auf die Jahre 1933/34 richten.[25] Dabei ist es offensichtlich, daß seine Wahl kaum Folge einer momentanen Verblendung war, daß Heidegger wie viele andere Intellektuelle, über die sich Goebbels lustig machte, einen langen Weg zurückgelegt hatte. In diesem Zusammenhang ist das Erstaunen festzuhalten, mit dem Stepun in seinem Brief das nationalsozialistische Kolorit des Dresdner Auftritts von Heidegger (1932) beschreibt. Auch die Rede selbst ist interessant beschrieben, ebenso die Einwände des Theologen Fr. Delekat, sowie die Hilflosigkeit Heideggers und seine Flucht aus dem begonnenen Disput, die deutlich von der Unsicherheit seiner Position zeugt. Das Gottesthema beunruhigte Heidegger sehr, er konnte dieses Problem bis zu seinem Tod für sich nicht lösen. Als Gegner der technischen Zivilisation, in der er eine der Ursachen des Totalitarismus sah, stellte Heidegger dieser die Offenheit der „bodenständigen Wahrheit“ entgegen, wies aber auf die „Nichtheit“ Gottes hin. In einer einschlägigen Abhandlung heißt es: „Sogar im Spiegel-Interview von 1966 bleibt in den Worten ‚Nur ein Gott kann uns retten‘ die für Heidegger kennzeichnende Unklarheit gegenüber Gott bestehen, die sich im unbestimmten Artikel ausdrückt.“[26]

Die Sensibilität und Scharfsichtigkeit des Exilphilosophen, der bereits eine totalitäre (russische) Revolution durchlebt hatte, ließ Stepun Töne hören, die für Heidegger selbst vielleicht unhörbar blieben. Darum verdienen meines Erachtens seine Beobachtungen der neuerlichen, der deutschen Revolution Beachtung, und darum wage ich es, diese Veröffentlichung dem wißbegierigen philosophisch orientierten Leser zu präsentieren.

Zum Abschluß möchte ich der Marion-Dönhoff-Stiftung für die finanzielle Unterstützung während meiner Archivrecherchen in Deutschland danken. Karl-Heinz Korn und Dagmar Herrmann (Universität Köln) bin ich dankbar für vielfältige Unterstützung meiner Vorhaben. Dem Direktor des Instituts für Slavistik der Heidelberger Universität Urs Heftrich gilt mein Dank für die großzügig gewährten Arbeitsmöglichkeiten in der Bibliothek und im Archiv der Universität.

(Übersetzung: Dagmar Herrmann)



[1] Ich stimme der folgenden präzisen Beobachtung von Nikolaj Vil’mont zu: „Die Hinzufügung eines fremden Elements (rassisch oder kulturell-ständisch) allein verleiht einem großen Mann die souveräne Verfügung über die Nationalkultur. Das erste Beispiel hierfür war Puškin, ein Nachkomme des ‚Mohren Peters des Großen‘ und Urenkel der Christine von Scheberch“ (Vil’mont, N.O.: O Borise Pasternake. Vospominanija i mysli [Über Boris Pasternak. Erinnerungen und Gedanken]. Moskau, Sovetskij pisatel’ 1989, S. 49).

[2] N. Berdjaev: Samopoznanie [Selbsterkenntnis]. Moskau, Kniga 1991, S. 246.

[3] 1902 bis 1909, mit einer Unterbrechung von einem Jahr. 1910 promovierte er bei Windelband über die Philosophie von Vl. Solov’ev und gab von 1910 bis 1914 gemeinsam mit R. Kroner, G. Melis, E. Metner (Medtner), B. Jakovenko und S. Gessen (Hessen) die renommierte internationale Zeitschrift Logos heraus.

[4] „Očistim Rossiju nadolgo“. K istorii vysylki intelligencii v 1922 [„Säubern wir Rußland auf lange Zeit!“ Zur Geschichte der Ausweisung der Intelligenz 1922]. Hrsg. von A.N. Artizov. In: Otečestvennye archivy, 2003, Nr. 1, S. 74.

[5] Vysylka vmesto rasstrela. Deportacija intelligencii v dokumentach VČK-GPU. 1921–1923 [Ausweisung statt Hinrichtung. Die Deportation der Intelligenz in Dokumenten der VČK-GPU 1921–1923]. Hrsg. von V.G. Makarov und V.S. Christoforov. Moskau, Russkij put’ 2005, S. 110.

[6] Ebd., S. 337.

[7] Berdjaev: Samopoznanie, S. 241.

[8] Vysylka vmesto rasstrela, S. 338.

[9] Treiber, Hubert: Fedor Steppuhn in Heidelberg (1903–1955). Über Freundschafts- und Spätbürgertreffen in einer deutschen Kleinstadt. In: ders. / Sauerland, K. (Hrsg.): Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der „geistigen Geselligkeit“ eines „Weltdorfes“: 1850–1950. Opladen 1995, S. 98.

[10] Nolte, E.: Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus. Frankfurt/Main und Berlin. 1987.

[11] Luks, L.: Tretij Rim? Tretij Rejch? Tretij put’? Istoričeskie očerki o Rossii, Germanii i Zapade [Drittes Rom? Drittes Reich? Dritter Weg? Historische Aufsätze über Rußland, Deutschland und den Westen]. Moskau, Moskovskij Filosofskij Fond 2002, S. 168 f.

[12] Stepun, F.: Mysli o Rossii [Gedanken über Rußland]. In: Sovremennye zapiski. 1923, kn. 17, S. 351; zit. nach Stepun, F.A.: Sočinenija. Moskau, ROSSPEN 2000, S. 219.

[13] Stepun schreibt: „In all den Jahren, die ich in Heidelberg studierte, war das gesamte Leben bis zu den geringsten Kleinigkeiten fast ausschließlich durch die Universität bestimmt. Heidelberg war mehr als eine Universitätsstadt, es war eine Stadt bei der Universität“ (Dva Gejdel’berga [Zwei Heidelberg]. In: Dni 6.1.1924).

[14] Ebd.

[15] Natürlich konnte er in seinem Artikel Rickert nicht übergehen; die betreffende Passage spricht ebenfalls von der weiter andauernden Armut, die über Deutschland hereingebrochen war: „Dreißig Jahre war der anerkannte Kopf der wissenschaftlichen Philosophie Heinrich Rickert in einer Mietkarosse zur Universität gefahren. Heute fehlen ihm die Mittel, eine Karosse zu mieten. Das Ministerium gibt ihm das Geld nicht. Und so fährt Rickert nicht mehr zur Universität. Er liest jetzt bei sich zu Hause“ (ebd.).

[16] Rickert, H.: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit. Tübingen 1920, S. 30.

[17] Koestler, Arthur: Als Zeuge der Zeit. Das Abenteuer meines Lebens. Frankfurt am Main 1986. S. 108 – 109.

[18] Angriff, Leitartikel vom 22. November 1931.

[19] Stepun F.: Pis’ma iz Germanii. Nacional-socialisty [Briefe aus Deutschland. Die Nationalsozialisten]. In: Sočinenija [Werke]. Moskau, ROSSPEN 2000, S. 897.

[20] Ebd., S. 886.

[21] Plotnikov, N.S.: S.L. Frank o M. Chajdeggere. K istorii vosprijatija Chajdeggera v russkoj mysli [S.L. Frank über Heidegger. Zur Geschichte der Heidegger-Rezeption im russischen Denken]. In: Voprosy filosofii, 1995, Nr. 9, S. 171.

[22] Stepun: Pis’ma iz Germanii (Nacional-socialisty), S. 900.

[23] Heidegger, Martin: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Frankfurt am Main 1983. S. 15.

[24] Motrošilova, N.V.:  Drama žizni, idej i grechopadenija Martina Chajdeggera [Martin Heideggers Leben, Ideen und Sündenfall]. In: dies.: Raboty raznych let: izbrannye stat’i i ėsse. Moskau, Fenomenologija-Germenevtika 2005, S. 459 [Zitat Heidegger nach: Ott, H.: Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie. Frankfurt u.a. 1988. S. 165 – Anm. der Red.].

[25] Siehe z.B. den Text von Al.V. Michajlov: „1933/34 war Heidegger 10 Monate Rektor der Freiburger Universität; aus dieser Zeit blieb sein Vortrag Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, in dem Heidegger zu Beginn der Hitlerzeit einen fast verzweifelten Versuch unternahm, die deutsche Wissenschaft (und sogar Kultur) zu den alltäglichen Lebensgrundlagen hinzuwenden. Er versuchte dem Geschehen einen Sinnstempel aufzudrücken und folglich es kraft des Gedankens in eine historische Schicksalsstunde zu verwandeln. Da Heidegger als Rektor gezwungen war, den Herrschenden Zugeständnisse zu machen, bildete sich die Legende, er habe dem Nationalsozialismus nahegestanden. Obwohl Heidegger offen von der Selbstbehauptung der Universität sprach, obwohl er bald gezwungen war, den Posten des Rektors wieder aufzugeben und Angriffen offiziöser Parteiorgane ausgesetzt war, hielt sich die Legende hartnäckig“ (Michajlov, A.V.: Vmesto vvedenija [Anstatt einer Einführung]. In: Chajdegger, Martin: Raboty i razmyšlenija raznych let. Hrsg. von A.V. Michajlov. Moskau, Gnozis 1993, S. XXXI).

[26] „Nur ein Gott kann uns retten“. Gespräch mit Martin Heidegger am 23. September 1966, in: Der Spiegel 23/1976, S. 193–219.