Heinz Hürten

Die Sehnsucht nach dem „Reich“ in der Weimarer Republik

Die Sehnsucht nach dem Reich erscheint in der Generation, die den Zusammenbruch von 1918 erlebt hatte, als durchaus vielschichtiges Phänomen, das sich wenigstens in wichtigen Teilen aus Struktur und Geschichte eben dieses untergegangenen Reiches erklären läßt, das manche als das „zweite“ bezeichneten, dem nach anderen wiederum ein „Drittes“ als Erfüllung aller nationalen Wünsche folgen sollte. Wiederherstellung des Vergangenen war darum nur für eine Fraktion des politischen Spektrums erstrebenswertes Ideal.

Daß die Anhänglichkeit an den status quo ante, obwohl in der Misere der Weimarer Republik die Kaiserzeit vielen als die „gute, alte Zeit“ erschien, nicht groß genug war, um zu einem machtvollen Strom zu werden, auf den ein entschlossener Politiker hätte setzen können, lag nicht zuletzt an der staatsrechtlichen Struktur dieses Reiches, das nach seiner Verfassung ein Bund der Fürsten und Freien Städte war unter einem Präsidenten, dem preußischen König, der nach der Reichsverfassung „den Namen Deutscher Kaiser“ führte.

Politische Loyalität orientierte sich darum nicht notwendig auf die Person des Kaisers. Man konnte bayerischer, württembergischer oder sächsischer Monarchist sein, ohne die Herrschaft der Kaiser aus dem Hause der Hohenzollern zu schätzen. Umgekehrt bot dieses wiederum einen Richtpunkt politischer Loyalität für jene, die sich dem alten Königreich Preußen enger verbunden wußten als dem neumodischen Gebilde „Deutsches Reich“, wie es für den alten Marschall Hindenburg kolportiert wurde, aber sicherlich für die Polen der preußischen Ostgebiete galt, die wie einer ihrer Sprecher 1848 in der Paulskirche gesagt hatte, in Gottes Namen Preußen bleiben, aber nicht Deutsche hatten werden wollen und darum auch pflichttreue Soldaten geblieben waren, bis wieder ein polnischer Staat entstand.

Zudem hatte das kaiserliche Haus nicht gerade ein Modell landesväterlicher Hingabe und Fürsorge geboten. Der Kaiser war dem Umsturz in Berlin ausgewichen, und seine Position an der Spitze der Armee, die er formell bekleidete und ihm auch zur Basis übersteigerter Selbstdarstellung geworden war, hatte er in der Stunde des militärischen Zusammenbruchs durch seine Flucht in die Niederlande preisgegeben. Sein ältester Sohn, der Kronprinz, hatte sich weder militärisch noch moralisch bewährt, so daß er wenig Anlaß bot, auf ihn politische Hoffnungen zu gründen.

Schwerer als dies alles wog wahrscheinlich, daß das von Bismarck 1871 geschaffene Reich die Hoffnungen, die bald nach dem Ende des alten Reiches im siegreichen Kampf gegen Napoleon aufgeflammt waren, nur zu einem Teil hatte erfüllen können. 1811 hatte der Reichsfreiherr vom Stein als Idealbild deutscher Zukunft jenen „Zustand“ bezeichnet, „unter dem Deutschland in großer Kraft blühte“, nämlich der „unter unsern großen Kaisern des 10ten bis 13ten Jahrhunderts, welche die deutsche Verfassung durch ihren Wink zusammenhielten und vielen fremden Völkern Schutz und Gesetze gaben“[1]. Schon in der Erwartung, daß solche Träume sich nicht erfüllen würden, hatte noch während des Kampfes gegen Napoleon Max von Schenkendorf sein Gedicht „ Erneuter Schwur“ mit den Versen abgeschlossen: „Ich will mein Wort nicht brechen, / Und Buben werden gleich, / Will predigen und sprechen / von Kaiser und von Reich“.[2] Wenige Jahre später verlieh Joseph Görres der Enttäuschung über das Ergebnis der politischen Neuordnung Europas seine Stimme

Man dachte sich ungefähr, ein Kaiser werde aufs neue an die Spitze des Reiches treten, die Würde erblich, so lange das Geschlecht bestehe; ihm zur Seite zum Schutz der Freyheit bey dieser Erblichkeit und zur Erhaltung des Gegensatzes, der einmal sich erhoben, ein teutscher König; dann die Herzoge des Reichs, seine Fürsten und Grafen, Prälaten und die übrigen Standesherren um sie versammelt in einer Pairskammer; die Gemeinen aber in einer zweyten Kammer des Reichs-Parlamentes, und also jedes Glied des Ganzen bedingend und bedingt, alle Stämme sich beygeordnet und keiner herrschend über den Anderen, alle mit Freiheit dienend demselben Oberhaupte: die einzige Verfassung, die für lange Zeiten auf der Teutschen Charakter und Sinnesweise paßt.[3]

Das nicht zuletzt auch von Stein nachhaltig geförderte Interesse an deut­scher Geschichte hat wie auch manches populäre Gedicht und Lesebuchstück solchen Träumereien immer wieder einiges Spielmaterial geliefert. Aber im Jahre 1848 hatte sich das Illusionäre solcher Traumbilder erwiesen; darum konnte das, fast möchte man sagen: ersatzweise, 1871 begründete „evangelische Kaisertum der Hohenzollern“ niemals allen Deutschen als Erfüllung letzter nationaler Sehnsucht erscheinen.

Ihm fehlte auch eine Instanz, welche die obrigkeitsstaatlichen Strukturen der preußischen Tradition den demokratischen und liberalen Tendenzen der Zeit entsprechend hätte wandeln können. In der Feuerprobe des Weltkriegs erwiesen sie sich zudem nicht als geeignet, den Kampf zu bestehen oder rechtzeitig zu beenden. Darum war die Rückkehr zum Vergangenen nach 1918 nur für wenige ein sinnvolles Ziel. Auch war die Einheit der Nation in den Jahren des Kaiserreiches stärker geworden. Als dieses durch die Beseitigung aller Fürsten in der Revolution von 1918 als de jure nicht mehr bestehend hätte betrachtet werden müssen, hielt kaum jemand außer Kurt Eisner solches für tatsächlich gegeben. Einer der wirkmächtigsten Mythen des Ersten Weltkrieges hatte das Bewußtsein nationaler Einheit wohl unbeabsichtigt gefördert. Der Heeresbericht, der im Herbst 1914 den im Feuer britischer Maschinengewehre zusammengebrochenen Angriff unzureichend ausgebildeter deutscher Regimenter auf das Dorf Langemarck bei Ypern meldete, hatte behauptet, daß die Soldaten mit dem Deutschlandlied auf den Lippen vorangestürmt seien, nicht mit der offiziellen Kaiserhymne; die gemeinsame Nation hatte demnach den Stürmenden als Inbegriff und Ziel ihres Opfers vor Augen gestanden, nicht die Gestalt des Kaisers.

Nach dem Zusammenbruch war von allen Seiten (die auf diese Weise hofften, ihre Ziele durchsetzen zu können) mit Ausnahme der radikalen Linken die politische Neuordnung einer Nationalversammlung zugewiesen worden. Die Weimarer Verfassung wurde aber nicht zur allgemein akzeptierten Gestalt deutscher Staatlichkeit, sondern galt selbst in alles andere als revolutionär gesinnten Kreisen als „Notbau“ (Carl Schmitt)[4] oder als „Gerüste der Not“ (Max Scheler).[5] Auch für Thomas Mann war sie keineswegs „das letzte Wort, die unantastbare Magna Charta für Deutschland“, wenn er auch zugeben mochte, daß unter ihr „Deutschland aber immerhin bis heute [1930] hat leben und die ersten Schritte zu seiner Befreiung und Wiedererhebung hat tun können“.[6] Eben dieser Charakter der Notlösung, des Provisorischen, Vorübergehenden gab Raum für Auseinandersetzungen um die politische Grundstruktur des Reiches, wie sich auch der Staat von Weimar nannte.

Anhänglichkeit an das Alte war weit verbreitet. Die neuen Reichsfarben schwarz-rot-gold, oft als schwarz-rot-senf verspottet, blieben ungeliebt und wurden mit durchsichtigen Begründungen nicht generell durchgesetzt. Kapp, der im März 1920 gegen die Regierung putschte, wollte schwarz-weiß-rot wieder einführen, ebenso wie der Frontsoldatenbund „Stahlhelm“. Weithin ungeliebt blieb nicht nur die demokratische Verfassung, sondern auch der oft als „Schwatzbude“ diffamierte Reichstag. Anhänger der Monarchie beherrschten die politische Rechte und reichten bis ins katholische Zentrum, das sich darum nicht als republikanische Partei bekennen mochte, sondern als Verfassungspartei, die unter jeder legalen Staatsform ihre alten Ziele zu verfechten bereit war und darum auch nicht für eine extralegale Änderung der Verfassung zur Verfügung stand. Gleichsam offiziell war die monarchistische Gesinnung in der Armee, die ohne personelle Erneuerung in die Republik hinübergetreten war und dort den Verlust des „Königsschilds“ schmerzlich verspürte. Für alle Schichten und Gruppen, die durch ihre Nähe zum König und Kaiser früher Rang und Geltung besessen hatten, war die Gegenwart nur schwer erträglich. Wenn Heer und Marine wie auch die Beamtenschaft von einigen Ausnahmen abgesehen, loyal blieben, war ihre Haltung zum Weimarer Staat doch distanziert.

Anhänglichkeit an das Alte wurde aber auch kultiviert, wo die Erinnerung an die eigenen militärischen Leistungen und das Gedenken der Gefallenen im Mittelpunkt stand. Der „Bund der Frontsoldaten – Stahlhelm“ wurde zur Massenorganisation, die durch ihren Kult des Soldatischen und Heroischen wie von selbst zu einer Kraft der Rechten wurde. Daß sie schließlich in den Sog der Nationalsozialisten geriet, war die logische Folge ihrer Distanz zur Republik und deren Institutionen. Damit ist bereits das Ende solcher Bewegungen berührt: sie konnten oder wollten keine Restauration der Hohenzollern herbeiführen; was sie beförderten war das Ende der Republik durch die Nationalsozialisten, die ihnen selbst bald ein unrühmliches Ende bereiteten. Aber dies ist nicht unser Thema.

Daß die sich als national interpretierenden Kräfte der Weimarer Republik nicht die Zukunft für sich gewinnen konnten, lag an ihrer Bindung an das Alte, Vergangene, die sie den Wandel im Lebensgefühl, in den Wertkategorien der Zeitgenossen verfehlen ließ. Es waren nur „die angesäuerten Ideale“ der Großväter,[7] welche die Vertreter des als „alt“ diffamierten Nationalismus zu bieten hatten, von denen aber ein sich als „neu“ definierender Nationalismus gelangweilt, wenn nicht angeekelt abwandte. Urerlebnis dieses „jungen Nationalismus“ war die Materialschlacht, ihr Deutungssystem die Lebensphilosophie, die Wendung vom Rationalen zum Elementaren als dem eigentlichen Raum menschlicher Erfahrung und Selbstverwirklichung. Die Abneigung gegen eine Rechenhaftigkeit des Lebens beeinträchtigte auch die Akzeptanz des neuen politischen Systems und ließ etwa die Bezeichnung „Formaldemokratie“ für die Stimmen zählende und nicht wägende Demokratie Boden gewinnen. Trotz der durch die Abkehr von der Rationalität gefährdeten Ordnung von Weimar hat damals der sozialdemokratische Staatsrechtslehrer Hermann Heller in seiner Kritik der Lebensphilosophie doch gemeint, ihr „das gewaltige Verdienst zusprechen“ zu müssen, „im Zeitalter einer ertötenden Rationalistik und Mechanistik das lebendige Leben neu gewertet zu haben“; ihr sei es geschuldet, „daß wir die individuelle Gestaltfülle alles Wirklichen wieder sehen, daß wir uns gelöst fühlen von aller Ver-Wertung und Vergesetzlichung des Lebens durch einen gestaltlosen Rationalismus“.[8]

Thomas Mann hat – vielleicht als erster – den Zusammenhang zwischen dem Einbruch der Lebensphilosophie und dem neuen Nationalismus gesehen. In einer Ansprache vom 17. Oktober 1930 diagnostizierte er „eine neue Seelenlage der Menschheit“, die sich von den Idealen des Jahres 1789 abwende, sich in Kunst und Philosophie ausdrücke,

 als ein irrationalistischer, den Lebensbegriff in den Mittelpunkt des Denkens stellender Rückschlag, der die allein lebenspendenden Kräfte des Unbewußten. Dynamischen, Dunkelschöpferischen auf den Schild erhob, den Geist [...] als lebensmörderisch verpönte und gegen ihn das Seelendunkel, das Mütterlich-Chthonische, die heilig-gebärerische Unterwelt als Lebenswahrheit feierte. Von dieser Naturreligiosität, die ihrem Wesen nach zum Orgiastischen, zur bacchischen Ausschweifung neigt, ist viel eingegangen in den neuen Nationalismus unserer Tage.[9]

Zwei Jahre später hat Waldemar Gurian diesen Grundzug des neuen Nationalismus noch schärfer herausgearbeitet.[10]

Waren die politischen Ziele des traditionellen Nationalismus eine möglichste Annäherung an das Vergangene: monarchische Spitze, alte Reichsfarben, Ablehnung des Klassenkampfes, Christentum als Basis des Staatslebens, mithin Restauration des Kaiserreichs im Rahmen des Möglichen als politischer Rahmen bürgerlicher Lebensform, sarkastisch gesagt: Rückkehr zur guten, alten Zeit, so waren die Ziele und Ideale des neuen Nationalismus andere, aus bislang unbekannter Erfahrung neu konzipierte.

Prominentester Sprecher dieses jungen Nationalismus wurde Ernst Jünger, hochdekorierter Frontoffizier, Naturwissenschaftler und Literat, der erst vor wenigen Jahren, als Autor hochberühmt und als der beste Stilist deutscher Sprache seiner Zeit gepriesen, verstorben ist. Bekannt geworden durch seine aus Tagebüchern entwickelten Schriften über die Herausforderungen der Materialschlacht und die Deutung des Kampfes als „inneres Erlebnis“, entfaltete er bis zum Machtantritt der Nationalsozialisten, von denen er sich nicht vereinnahmen ließ; eine rege publizistische Tätigkeit, die wegen ihres literarischen Ranges jetzt auch in wissenschaftlicher Edition vorliegt.[11] Seine Anschauungen sind am dichtesten greifbar in einem Aufsatz aus dem Jahre 1929, den die links-liberale Zeitschrift „Das Tagebuch“ von ihm erbeten hatte. Er bilde darum den Kern der folgenden Ausführungen.

Nationalismus ist für Jünger keine Doktrin, die zu lehren wäre, sondern in der Nation noch verborgenes Energiepotential, das nur „der Meister der modernen Politik“ [12] zu erschließen vermag. Dieses dürfte freilich erst möglich werden, wenn „der letzte Rest des vom Wilhelminismus ererbten Ressentiments“ geschwunden und der Gegensatz von schwarz-weiß-rot und schwarz-rot-gold „vollkommen gleichgültig“ geworden ist. 1918 gab es in Deutschland keine Revolution, sondern nur einen Zusammenbruch, deshalb muß die Revolution „nachgeholt werden“. Ist aber Zerstörung des Bestehenden das erste Ziel, kann es Kooperation aller gegen das Bestehende gerichteten Kräfte geben. Ordnung ist der gemeinsame Feind, und keine Revolution kann Ordnung schaffen. „Was hat denn das Elementare mit dem Moralischen zu tun?“, fragt Jünger.

Dem Elementaren aber, das uns im Höllenrachen des Krieges seit langen Zeiten zum ersten Male wieder sichtbar geworden ist, treiben wir zu. Wir werden nirgends stehen, wo nicht die Stichflamme uns Bahn geschlagen, wo nicht der Flammenwerfer die große Säuberung durch das Nichts vollzogen hat. [...] Wir aber sind keine Bürger, wir sind Söhne von Kriegen und Bürgerkriegen, und erst wenn dies alles , dieses Schauspiel der im Leeren kreisenden Kreise, hinweggefegt ist, wird sich das entfalten können, was noch an Natur, an Elementarem, an echter Wildheit, an Ursprache, an Fähigkeit zu wirklicher Zeugung mit Blut und Samen in uns steckt. Dann erst wird die Möglichkeit neuer Formen gegeben sein.[13]

War der Nationalismus Jüngers nicht Doktrin, sondern „Haltung“, so konnte er auch nicht zu einer Organisation finden. Alle Bünde veranschaulichen vielmehr nichts anderes als „Selbstauflösungsprozesse der bürgerlichen Welt“, Nationalismus ist hingegen die Sache weniger, die ganz auf sich gestellt sind, aber „eine Aristokratie von morgen und übermorgen“, sie sind „die unbekannten Soldaten von heute, die einsam fallen, von den Giftgasen der Gemeinheit, der Routine, der Korruption zu Boden gestreckt. Was sie lernen müssen, ist dies: Daß man in einer Zeit wie dieser auch ohne Fahne marschieren kann.“[14]

Nationalismus ist für Jünger nicht rational eingenommener Standpunkt, vom Willen bestimmte Haltung, sondern Ort in der Geschichte, sein Wesen ist „ein neues Verhältnis zum Elementaren, zum Mutterboden, dessen Krume durch das Feuer der Materialschlachten wieder aufgesprengt und durch Ströme von Blut befruchtet ist – ein Horchen auf die geheime Ursprache des Volkes, die in die Sprache des 20. Jahrhunderts zu übersetzen ist. Das scheidet ihn vom Patriotismus, der der Legitimität nicht entbehren kann.“[15]

So formlos, eben aufs Elementare bezogen Jüngers Vorstellungen von der Zukunft Deutschlands auch waren, ganz ohne Bezug auf ein politisches Endziel kam auch er nicht aus. Auch bei ihm geht es um das Reich, womit nicht der historische oder der existierende deutsche Staatsverband gemeint war, sondern ein noch in der Zukunft kaum erkennbares Neues. Reich ist ja nicht – wie etwa im Dänischen – einfachhin mit Staat wiederzugeben, sondern meint ein politisches Gebilde von höchstem Rang, das den Staat, wie er überall gegeben ist, überragt. Die mittelalterliche Ideologie des westlichen Kaisertums, den Königen wenigstens moralisch durch die Schutzherrschaft über Rom und die Kirche übergeordnet zu sein (der freilich von den Betroffenen mit der Frage widersprochen wurde, wer denn die Deutschen zu Richtern über die Nationen gesetzt habe), diese alte Gedankenwelt, die auch durch das „Spiel vom Antichristen“, dem Drama eines Mönchs von Tegernsee, in der Barbarossa-Zeit verkündet worden war, zeigt in ihrer Verwendung durch die Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts noch einen letzten Abglanz.

Bei Jünger ist also nicht eigentlich die Rede vom Staat, sondern vom Reich. Aber es ist ein Zukunftsgebilde, das als das „neue, größere Reich“, auf das er hoffte, nicht aus der Revolution entstehen konnte. „Ein großes und mächtiges Reich aller Deutschen wird immer das letzte Ziel unseres Einsatzes sein. Aber unser Imperialismus soll nicht bestehen in einer Oberflächenexpansion, die sich lediglich auf Bevölkerungsdruck, Landhunger und Marktinteressen gründet, sondern er soll sich auch die innere Berechtigung zum Siege erwerben, die aus dem Bewußtsein hervorwächst, die beste Sache zu vertreten“[16]. Einmal auch „Imperium germanicum“ genannt, sollte dieses Reich die „höchste und endgültige Form des [deutschen] Nationalcharakters“ ausbilden. Es war zugleich das „geheime Deutschland“, welches für Jünger das „unsichtbare und von den zarten Quellen des Glaubens genährte Wurzel des Zukünftigen [war], die keinen Grad der Zuversicht, der Arbeit und des Einsatzes umsonst erscheinen“ ließ.[17]

So individuell Jüngers Sprache und wie gering die unmittelbar politische Wirkung seiner Schriften auch gewesen sein mag, „das für ihn typische Bestreben, aus einer ungeliebten, platten Gegenwart auf höhere Ebenen des Rausches, der Phantasie, des Glaubens zu entfliehen“[18], war gleichwohl kennzeichnend für die Stimmungslage weiter Kreise, die sich in der Welt der Weimarer Republik nicht beheimatet sehen mochten.

Die politische Misere der damaligen Gegenwart hat darum auch weitab von Jüngers elementarem Nationalismus politisch nicht realisierbare Wunsch­vorstellungen von einem besseren Deutschland als dem gegebenen wach gerufen, wobei oft der Name „Reich“ für dieses erhoffte bessere Deutschland stand, das ebenso wie bei Jünger nicht mehr das Reich der Hohenzollern sein, sondern andere Qualitäten besitzen sollte. Oftmals Ideen der Romantik, vor allem Novalis’ und Adam Heinrich Müllers aufgreifend, politische Rationalität durch literarisches Pathos ersetzend, wirkten solche Theorien wie eine Droge, die Not und Aufgabe der Gegenwart vergessen ließ. Aus der Fülle der kaum zu überschauenden Beispiele hat Karl Breuning in seiner Dissertation Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929-1934). München 1969, eine eindrucksvolle Blütenlese zusammengestellt.

Eine eindringliche Analyse der Reichsmythologie hat jüngst Elke Seefried in ihrer Dissertation über das deutsche Exil in Österreich während der Hitlerzeit[19] angestellt. Darin wird wiederum deutlich, daß die Rede vom Reich alles andere als ein geschlossenes Gedankengebilde war, sondern viel eher die Projektion unterschiedlicher Wunschvorstellungen auf irrealer, als metaphysisch gedeuteter Ebene, die auch zu Begriffen wie „Mitteleuropa“ oder „Abendland“ mutieren konnten[20]. Sie produzierte den Entwurf einer Gegenwelt, in der die politischen Probleme der Gegenwart überwunden sein würden. Je nachdem, wie der Gegensatz zur gegebenen Situation empfunden wurde, changierte das Ideal des Reiches von nationalsozialistischen Zielsetzungen bis zu Theoremen katholischer Philosophie, ohne einen Ansatzpunkt in der realen Welt des Politischen zu besitzen. So ist die Reichsmythologie der zwanziger und (in Österreich) dreißiger Jahre Ausdruck einer Apperzeptionsverweigerung, die sich der politischen Realität entzog. Waldemar Gurian, der im Herbst 1932 eine scharfsinnige Analyse der politischen Lage in Deutschland lieferte, hat allerdings davor gewarnt, „die Vorstellungen vom Reich einfach auf die Überkompensation von Ohnmachtserlebnissen zurückzuführen“, denn in ihnen werde „die Verbundenheit mit der Vergangenheit und der Wille, sich zu behaupten lebendig“.[21] Was Gurian damals noch nicht sehen konnte, war freilich die niedrige Qualitätsmarge, die Teilen des deutschen Publikums genügte, um im Frühjahr 1933 seine Hoffnungen auf das Reich durch den Machtantritt der Nationalsozialisten realisiert zu sehen.

Zur Demonstration der auch die schöne Literatur umfassenden Spannweite der Reichsideologie sei es mir erlaubt, zwei höchst unterschiedliche Lesefrüchte darzubieten.

Die aus internationalem Adel stammende Dichterin Gertrud Freiin von Le Fort, heute vielleicht noch am besten bekannt durch ihre von Georges Bernanos dramatisierte Novelle „Die Letzte am Schafott“, hat einige Zeit vor ihrer Konversion zum Katholizismus Hymnen an die Kirche[22] verfaßt, denen sie 1932 eine weitere Sammlung Hymnen an Deutschland[23] folgen ließ. Offensichtlich von dem erwähnten „Ludus de Antichristo“ beeinflußt, schrieb sie Deutschland, das sie nur selten „das Reich“ nannte, eine heilsgeschichtlich zu nennende Berufung kraft seiner Passion zu. „Durch Liebe nur bist du ein Volk, / Durch Gnade nur heißt du ‚das Reich’/ Und nur am Himmel des Glaubens / Verkündigst du wie der Bogen, / Der siebenfältig verweinte / Siebenfältig verklärt / Die Pforte des Friedens“ (Die Gnade I). Der Zyklus endet mit einer Verheißung:

Aufflügeln wird Deutschland, / Aufbrechen wird ihm aus allen Gesteinen der Schmerzen / Das edle Feuer der Kraft / Und die erzene Quelle / Des unversieglichen Willens, / Daß wieder lichthaft leuchtend / Das herrliche Sternbild der Völker, / Und wieder heiliggesprochen der Wahrheit / Geschändete Stirne [...] / Heil dir, mein Unheil, / Verschattete Pforte du: / Gott riß mich hindurch !/ Verwundet hat mich der Pfeil einer Morgenröte !/ Im Grabe ward ich geboren / Vernichtet brach ich den Kranz / Stark ward ich an der Ohnmacht, / Weit ward ich im Gefängnis, / Mild ward ich am Feinde, / Feindlos werd’ ich am Sieg: / Zum Heimweh meiner Schwingen, / Zur Sonne meiner Sendung / Kehr’ ich empor! / Und im gewalt’gen Zurück meines Schicksals / Braus’ ich vorwärts, / Völkervoran zum heiligen Felsen des Kaisers: / Christus, liebreicher König, /Dir übergeb’ ich den Thron und die Tränen der Völker - / Brich an, Friede der Erde!

Das zweite Beispiel liegt auf anderem literarischen, von Breuning darum nicht berücksichtigtem Niveau. Im Roman des katholischen Priesters und Volksschriftstellers Johannes Kirschweng „Der Neffe des Marschalls“ geht es um die Geschichte eines saarländischen Dorfschusters, der ein Neffe des inzwischen schon lange hingerichteten napoleonischen Marschalls Ney ist, des Tapfersten der Tapferen, wie der Kaiser ihn genannt hatte. Er kommt mit einem preußischen Hauptmann ins Gespräch über die Fremdheit, die zwischen den Saarländern und den neuen preußischen Landesherren besteht. „Die Franzosen haben“, meint Peter Ney,

die Menschen im Land hier das Französische ziemlich vergessen lassen über dem Kleineren, das sie gelten ließen, über dem Lothringischen, über dem Saarlouiserischen oder wie man es nennen will. Die Preußen täten gut daran, wenn sie die Leute hier im Land das Preußische ab und zu ein bißchen vergessen ließen über dem Größeren.

Der Hauptmann fragt nun, was denn das Größere sei. „Peter Ney zögerte einen Augenblick und dann sagte er leise: Das ‚Reich’!“[24] Auch hier ist das Reich Chiffre für eine noch unerkennbare bessere Zukunft, in der die Übel der Gegenwart hinweggenommen sein werden.

Die beliebte Rede vom Reich ist freilich nicht ganz zu erklären ohne ein gleichzeitiges wissenschaftliches Interesse am mittelalterlichen Kaisertum, für das Alois Dempfs wirkungsvolles Buch Sacrum Imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der Renaissance (München und Berlin 1929) die herausragende Landmarke bildet. Im Zuge dieser Fragestellungen wurde auch die Vision des Propheten Daniel von den vier Weltreichen (Dan. 12) wieder breiteren Kreisen bekannt, deren viertes, unter dem man das römische verstand, als letztes bis zum Ende aller Tage dauern werde. Bis in die Zeit der Aufklärung hinein hatte diese Weltreichslehre ein Schema historischen Unterrichts gebildet. Nach der Darstellung des Johannes Sleidanus „De quattuor summis imperiis“ von 1556 ist noch Friedrich der Große ausgebildet worden. Solange es das Heilige Römische Reich deutscher Nation gab, konnte ein solches geschichtstheologisches Verständnis vertreten werden. Mit dem Ende des österreichischen Kaisertums als dessen Erben, konnte dieses Weltreich nur noch in der Sehnsucht der Zeitgenossen weiterleben.

Als markanter Vertreter der Idee von der freilich verschütteten Fortexistenz des römischen Reiches trat der Schriftsteller Theodor Haecker, Übersetzer von Kierkegard und Newman, hervor, als er in dem Buche „Vergil, Vater des Abendlands“ den Vers „His ego nec metas rerum, nec tempora pono. Imperium sine fine dedi“ als Verheißung ewiger Dauer römischer Herrschaft interpretierte.

Wir alle leben noch im Imperium Romanum, das nicht tot ist. Wir alle sind noch Glieder des Imperium Romanum, ob wir es wahr haben wollen oder nicht. [...] Wo immer ein Wille oder ein Ansatz ist zu einem Imperium, da wird ihr Maß oder ihr Unmaß ihr Segen oder ihr Fluch bestimmt von der bestehenden, unter dem Schutt noch bestehenden Realität des Imperium Romanum.[25]

Eine Erneuerung des römischen Reiches konnte sich Haecker freilich nicht mehr im Sinne einer nationale Eigentümlichkeiten nivellierenden Einheitskultur, einer neuen Pax Romana vorstellen, sondern in einer Bestrebung zur Vereinigung des Verschiedenen: „durch Verständnis und durch Versöhnung und durch Achtung die Würde aller zu wahren und dadurch alle in einem Höheren, das nur ein Geistiges sein kann, zu einen.“[26] Dieses neue Gebilde würde auch durch seine Geschichte verpflichtet sein, durch das heidnische wie das christliche Rom.

Haeckers Gedankengänge über das Reich sind insofern bemerkenswert, als sie nicht wie sonst fast regelmäßig den Deutschen oder ihrem Staat eine besondere Aufgabe zuschreiben. Wie diese Aufgabe beschaffen sein werde, blieb freilich in der Regel unklar.

Auch die Richtung ihrer politischen Wirkung war nicht eindeutig. Kann man Jüngers Vorstellungen eindeutig als „antidemokratisch“ kennzeichnen, so bleiben andere unbestimmt. Politischen Profit ernteten freilich die Nationalsozialisten, die mit ihrer Propaganda vom „Dritten Reich“, die sie von dem Literaten Moeller van den Bruck übernommen hatten, den Topos vom Reich in ihrer Propaganda mitführten, ohne sich dadurch zu verpflichten. Aufs Ganze gesehen blieb freilich auch dieser Profit, den ihnen die Reichsideologie einbrachte, gering; denn diese blieb eine Fiktion von Literaten. Es ist bemerkenswert, daß trotz des Anteils katholischer Schriftsteller und katholischen Argumentationsmaterials an der Reichsideologie von ihr in den politischen Diskussionen der alljährlichen Katholikentagen keine Rede war. Auch das für den politischen Standort des deutschen Mehrheitskatholizismus repräsentative Staatslexikon der Görresgesellschaft, dessen einschlägiger vierter Band 1931 erschien, enthielt keine Stichworte wie „Reich“ oder „Reichsideologie“.[27]

Daß die Reichsideologie immerhin für eine intellektuell bewegte und ihrer Zeit lebendig verbundene Gruppe von Katholiken faszinierend wirken konnte, zeigt sich – anders als bei kurzlebigen Organisationen des Papenkatholizismus – im Phänomen der Reichstheologie, die zwar nur wenige, aber ihrer Zeit und deren Umbrüchen wachsam und aufgeschlossen gegenüberstehende Theologen zu formulieren suchten. Ihre theologischen Deduktionen können hier nur in äußerster Verkürzung dargestellt werden: Die Menschwerdung Christi bedeutet zugleich eine consecratio mundi, darum ist auch der Staat nicht mehr rein naturrechtlich zu begreifen, auch er steht in der Erlösungsordnung, ist als „Reich“ Hinweis auf das „Reich Gottes“, das zwar jenseitig ist, aber doch in den Sakramenten wirksam und wirklich ist. Wegen seiner Bindung an die Kirche im mittelalterlichen Kaisertum ist das Deutsche Reich Prototyp des „Reiches“.[28] Ernst-Wolfgang Böckenförde hat diese theologische Modetorheit schon zu einem frühen Zeitpunkt der Diskussion prägnant zusammengefaßt: „Das ‚Reich’ erschien als die eigentlich katholische, weil ganzheitliche Form politischer Ordnung, als die Hereinnahme auch der politischen Welt in die Erlösungsordnung und somit als christlich-katholische Gegenposition zum modernen, individualistischen und säkularisierten Staat.“[29]

Die Reichstheologie hat das Jahr 1934 nicht überdauert. Schon 1933 sind erste Absetzbewegungen seiner Protagonisten zu verzeichnen, ohne daß es korrigierender Maßnahmen der kirchlichen Führung bedurft hätte. Sie bleibt immerhin erwähnenswert als ein Warnzeichen für eine allzu zeitaufgeschlossene politische Theologie und historisch ein Zeugnis für die Verwirrung der Geister beim Machtantritt Hitlers.

                                



[1] Freiherr vom Stein. Ausgewählte politische Schriften und Denkschriften, hrsg. von Erich Botzenhart und Gunther Ipsen. Stuttgart 1966. S. 326.

[2] Max von Schenkendorf’s sämmtliche Gedichte. Erste vollständige Ausgabe. Berlin 1837. S. 223f.

[3] Görres, Joseph: Teutschland und die Revolution. 2. Auflage Teutschland 1820. S. 9.

[4] Schmitt, Carl: Der Bürgerliche Rechtsstaat, in: Abendland 3 (1927/28) S. 202.

[5] Scheler, Max: Der Mensch im Zeitalter des Ausgleichs, in: Ausgleich als Aufgabe und Schicksal (Politische Wissenschaft, Heft 8). Berlin 1929. S. 33.

[6] Mann, Thomas: Deutsche Ansprache, jetzt in: Ders.: Essays, Bd. 3: Ein Appell an die Vernunft 1926-1933. Frankfurt/M. 1993. S. 274.

[7] Jünger, Ernst: Politische Publizistik 1919 bis 1933, hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Sven Olaf Berggötz. Stuttgart 2001. S. 505.

[8] Heller, Hermann: Europa und der Fascismus. Berlin und Leipzig 1932. S. 34.

[9] Mann, Thomas: Deutsche Ansprache (wie Anm. 6), S. 266.

[10] Gerhart, Walter (i.e. Waldemar Gurian): Um des Reiches Zukunft. Nationale Wiedergeburt oder politische Reaktion? Freiburg 1932.

[11] Vgl. Anm. 7.

[12] Jünger, Ernst: Politische Publizistik (wie Anm.7) S. 504.

[13] Ebd., S. 507.

[14] Ebd., S. 509.

[15] Ebd., S. 535.

[16] Ebd., S. 83.

[17] Ebd., S. 403.

[18] Schwarz, Hans-Peter: Der konservative Anarchist. Politik und Zeitkritik Ernst Jüngers. Freiburg 1962. S. 65.

[19] Seefried, Elke: Reich und Stände. Ideen und Wirken des deutschen politischen Exils in Österreich 1933-1938. Düsseldorf 2006. S. 143-157

[20] Conze, Vanessa: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970). München 2005.

[21] Walter Gerhart (wie Anm. 10) S. 123.

[22] Freiin von Le Fort, Gertrud: Hymnen an die Kirche. München 1924.

[23] Dies.: Hymnen an Deutschland. München 1932.

[24] Kirschweng, Johannes: Der Neffe des Marschalls. Freiburg 1939 u.ö. S. 293.

[25] Haecker, Theodor: Vergil, Vater des Abendlandes. München 1931. S. 92.

[26] Ebd., S. 93.

[27] Elke Seefried (wie Anm. 19) S. 155.

[28] Darstellung mit zahlreichen Belegen bei Klaus Breuning (s. o.).

[29] Wiederabdruck in Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Kirche und demokratisches Ethos. Freiburg, Basel, Wien 1988. S. 55.