Rostislav Krasjukov

Vorwort zu Auszügen aus den Erinnerungen V. V. Šul'gins




Das Schicksal von Vasilij Šul’gins (1878-1976) literarischem Vermächtnis ist schon für sich genommen so dramatisch, daß man darüber einen Kriminalroman schreiben könnte.

Beinahe alles, was Šul’gin im Ausland geschrieben hatte, unter anderem seine Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg, war ursprünglich im Russischen Haus in Belgrad deponiert, dem zentralen Archivstandort der russischen Emigration in Jugoslawien. Nach der Befreiung der Stadt von deutschen Truppen im November 1944 wurde das gesamte Archiv des Russischen Hauses in die UdSSR verbracht. Im Dezember dann wurde Vasilij Šul’gin in Sremski Karlovci festgenommen und nach Moskau überstellt. Zunächst befand er sich dort in Untersuchungshaft im inneren NKVD-Gefängnis in der Lubjanka. Als einer der ehemaligen Führer der weißen Bewegung wurde er 1947 wegen konterrevolutionärer Tätigkeit zu 25 Jahren Haft verurteilt und in das Gefängnis von Vladimir (180 km östlich von Moskau) verlegt.

Während seiner Haftzeit (1947-1956) begann Šul’gin wieder sein literarisches Archiv aufzubauen. Es sollte nach der Amnestie durch Chruščev jedoch dasselbe Schicksal erleiden wie das erste. Šul’gins Erinnerungen mit dem Titel Die Intervention wurden gesondert in der Berliner Wohnung Aleksej v. Lampes aufbewahrt, eines Kampfgefährten aus der weißen Bewegung. Zusammen mit anderen Archiven waren diese Erinnerungen während eines Bombenangriffs verbrannt, und v. Lampe hatte über eine Zeitung alle interessierten Personen davon in Kenntnis gesetzt.

Nach seiner Entlassung aus der Haft im Jahre 1956 begann Šul’gin nun sein drittes Archiv aufzubauen. Einen Teil davon, im wesentlichen Erinnerungen an Kinder- und Jugendjahre, versuchte er im Zentralen Staatsarchiv für Literatur und Kunst (CGALI) in Moskau zu deponieren. Das Material wurde dort jedoch nur zur vorläufigen Verwahrung angenommen, und auch dies wohl nur aus Mitleid mit dem alten und hinfälligen Mann, der einfach außerstande war, sein schweres Paket wieder nach Hause zu transportieren.

Einen anderen Teil seines Archivs aus dieser Zeit („einige meiner literarischen Werke in handschriftlicher Form und gewisse Dokumente“) bat er mich im September 1968 „zur Aufbewahrung zu übernehmen“ (s. Faksimile S. 254). Um begreiflich zu machen, wie Šul’gin zu diesem Entschluß kam, muß ich kurz auf dessen Vorgeschichte eingehen. Ich hatte Šul’gin im Februar 1967 durch Vermittlung von Anatolij M. Kučumov kennengelernt, der damals Hauptkustos des Schloßmuseums Pavlovsk bei Leningrad war. Kučumov hatte als Konsultant bei der Produktion des Films „Vor dem Gericht der Geschichte“ (Pered sudom istorii) [1] mitgewirkt. Es ging dabei um die Rekonstruktion der Innenausstattung des Salonwagens, in dem Zar Nikolaj II. seinen Thronverzicht erklärt hatte. Šul’gin war bei diesem Akt zugegen gewesen. Während der Dreharbeiten waren Kučumov und Šul’gin miteinander bekannt geworden und standen nun in losem Briefwechsel. Auf mich hatte der Film damals einen starken Eindruck gemacht, und wie viele andere wollte auch ich Vasilij Šul’gin gerne kennenlernen. Als Kučumov von meinem Wunsch erfuhr, empfahl er mich an Šul’gin, und bald darauf begann unsere Bekanntschaft.

Man kann nicht behaupten, daß es damals an Aufmerksamkeit für Šul’gin mangelte. Er war ständig von vielen Menschen umgeben. Mit den einen verbanden ihn langjährige freundschaftliche Beziehungen, sie besuchten ihn regelmäßig und luden ihn zu längeren Besuchen ein. Andere befriedigten ihre Neugier mit einem einzigen Besuch beim „Opa“, wie ihn viele hinter seinem Rücken nannten. Zu allen war er in gleicher Weise freundlich und liebenswürdig. Als wir uns kennenlernten, begann er gerade, sein Augenlicht zu verlieren, für ihn ein besonders tragisches Erlebnis, da es das Ende seiner kreativen Tätigkeit bedeuten mußte. Mir war die Schwierigkeit seiner Lage bewußt, und ich verstand, was für eine zentrale Bedeutung für ihn geistige Arbeit hatte. Ich schlug ihm deshalb vor, für ihn als Sekretär zu arbeiten, und da er merkte, daß ich es aufrichtig meinte, nahm er mein Angebot an.

Im Sommer 1968 verlor Vasilij Šul’gin seine Frau und stand nun völlig allein. Als ich im Herbst jenes Jahres zu ihm kam, bezog er mich daher in seine Arbeitspläne für die Zukunft ein, und dies bestimmte zunächst das Schicksal jenes Teils seines Archivs, der sich bei ihm befand. Dieses Schicksal war allerdings auch kein erfreuliches. Als ich die Papiere nach Leningrad transportiert hatte, brachten es die Umstände mit sich, daß ich mich genötigt sah, mich von ihnen zu trennen. Ich wurde nämlich zum Chef des für mein Institut zuständigen Sicherheitsdienstes einbestellt, und dieser interessierte sich dafür, ob es zutreffe, daß ich das Archiv Šul’gins hierher gebracht habe. Ich antwortete zustimmend. „Und was werden Sie damit anfangen?“, lautete die nächste Frage. Allgemein bin ich in derartigen Situationen nicht sehr geistesgegenwärtig, aber in diesem Fall reagierte ich schnell und antwortete wie selbstverständlich: „Ins Archiv geben“. Meine Absicht wurde gebilligt, und man schlug mir vor, die Papiere dem Zentralen Historischen Staatsarchiv (CGIA; heute RGIA: „Russisches Historisches Staatsarchiv“) zu übergeben.

Als ich ins CGIA kam, wurde ich zu dessen damaligem Direktor Igor' Firsov geführt. Es war deutlich zu merken, daß meine Ankunft angekündigt worden war und er mich erwartete. Ich dachte nun in meiner Naivität, daß jetzt eine Kommission zur Aufnahme von Šul’gins Material gebildet würde, deren Aufgabe dann die Sichtung und Beschreibung der Papiere wäre. Alles erwies sich aber als sehr viel einfacher. Firsov rief seine Sekretärin ins Zimmer und begann, ihr eine Empfangsbestätigung zu diktieren. Als er zu den Worten „im Gesamtgewicht von ...“ gelangt war, faßte er das mit Bindfaden verschnürte Paket, rüttelte ein wenig an ihm und fuhr fort: „... zwanzig Kilogramm“.

In der Folgezeit erfuhr ich, daß von diesem Teil des Šul’gin-Archivs auch nicht eine Spur im CGIA bewahrt blieb. Viele Jahre später, zu Beginn der neunziger Jahre, sah ich, wie man im Fernsehen Papiere von Vasilij Šul’gin zeigte, die das KGB einem Moskauer Archiv übergeben hatte. Die Szene dauerte nicht länger als zwei Minuten, aber das Format der Schreibblöcke und Hefte schien mir darauf hinzudeuten, daß es sich hier gerade um diesen Teil des Archivs handelte.

Nun mußte also wieder bei Null angefangen werden. 1970 begann Vasilij Šul’gin zum vierten Male mit der Niederschrift seiner Erinnerungen. Mitte Mai kam er mit schon fertigen Plänen zu mir nach Leningrad und begann sofort mit der Arbeit. Auch ich hatte mich auf unsere Zusammenarbeit vorbereitet und schlug ihm vor, mit den Erinnerungen an die Jahre nach seiner Verhaftung in Jugoslawien im Dezember 1944 zu beginnen. Mir erschien gerade die Zeit seines Aufenthalts in sowjetischer Haft besonders interessant. Aber der „Opa“ blieb unnachgiebig, als erstes wollte er an seinen Erinnerungen an den Bürgerkrieg arbeiten. Zwei Jahre zuvor hatte er mir das „Programm der großen Taten für das beginnende Jahrzehnt“ diktiert, und nun bestimmte er als ersten Punkt „Die Intervention des Jahres 1919“, die „man wieder ins Gedächtnis rufen“ müsse. Während der ersten Phase unserer Arbeit beschloß er, den thematischen Rahmen auszuweiten und ihn nicht nur auf die Ereignisse des Jahres 1919 in der Südukraine zu beschränken. Es sollte nun die chronologische Lücke zwischen den schon zuvor geschriebenen und veröffentlichten Memoirenbänden geschlossen werden, zwischen den „Tagen“, die mit der Februarrevolution von 1917 und dem Thronverzicht Nikolajs II. endeten, und dem „Jahr 1920“, dem Ende der weißen Bewegung im Süden Rußlands. Von Mitte Mai bis Anfang Juli 1970 diktierte Šul’gin die Erinnerungen an den Bürgerkrieg, die den Titel „1917 - 1919“ erhielten (und 1994 in russischer Sprache in Bd. 5 des biographischen Almanachs Lica [Gesichter] veröffentlicht wurden).

Obwohl ich tagsüber Dienst hatte, fiel mir die abendliche Arbeit mit Vasilij Šul’gin nicht schwer. Parallel zur Niederschrift des Diktats waren die erforderlichen Nachschlagewerke in der Publičnaja biblioteka [Öffentliche Bibliothek] zu konsultieren. In der Geschichte hatten mich immer die Verbindungsglieder zwischen verschiedenen Epochen fasziniert, und Vasilij Šul’gin war solch ein lebendes Verbindungsglied. Er berichtete von den vergangenen Ereignissen nicht mit fremden Worten, sondern als ein unmittelbar Beteiligter.

Meine Aufgabe ist es nicht, hier Näheres über unsere mehrjährige Zusammenarbeit zu berichten. Ich möchte nur dem Leser eine Vorstellung davon vermitteln, was für ein Vasilij Šul’gin diese Erinnerungen schrieb. Die Arbeit mit ihm war hochinteressant. Sein Gedächtnis hielt die Abfolge der Ereignisse und die Namen der an ihnen beteiligten Personen so abrufbereit, als ob alles sich gestern ereignet hätte und nicht vor einem halben Jahrhundert. Außerdem verfügte Vasilij Šul’gin über einen unerschöpflichen Vorrat an Anekdoten und Alltagsbegebenheiten jeder Art. Keine Mahlzeit, keine Teepause und kein Spaziergang verging ohne sie, wobei er sich niemals wiederholte. Zunächst versuchte ich, diese Erzählungen aus dem Gedächtnis zu notieren. Auf diese Weise entstand ein Zyklus von Erinnerungen an die Familie, an Kiev, an die Zeitung Kievljanin, der bald „autorisiert“ und, wie auch alles übrige, diktiert wurde.

Ein zweites Mal besuchte mich Vasilij Šul’gin im Sommer 1972. Und ich fuhr jedes Jahr in meinem Urlaub für sieben bis zehn Tage zu ihm nach Vladimir. Während dieser Jahre diktierte er mir außer den Erinnerungen an den Bürgerkrieg auch die Erinnerungen an seine Festnahme und die Jahre der Haft in der Lubjanka und in Vladimir, die dann den Namen „Die Flecken“ erhielten (im russischen Original erschienen 1996 in Bd. 7 des biographischen Almanachs Lica). Später folgte dann die Zeit der Emigration, der umfangreichste Teil des ganzen Werkes, der den Zeitraum bis zu seiner Festnahme behandeln sollte. Vollendet werden konnte er leider nur bis zum Ende der dreißiger Jahre. Die Zeitschrift Forum bringt nun Auszüge aus diesem Teil.

Abschließend möchte ich meinen herzlichen Dank an A. V. Bankovskaja, R.R. Gaßfullin, B.I. Kolonickij und V.M. Lupanova für ihre große Hilfe bei der Aufbereitung der biographischen Angaben für das Personenregister richten.

(Übersetzung: Friedrich Hübner)


[1] „Vor dem Gericht der Geschichte" (1965): Historischer Dokumentarfilm (Regisseur: P.M. Ėrmler), der als ausführliches Interview mit V.V. Šul’gin angelegt ist.