IV. Dokumente

1. Lenin und Trockij im Herbst 1917 aus der Sicht eines deutschen Agenten.
(vorbereitet und kommentiert von Peter Krupnikow)

Diesen Bericht fand ich 1969 während meiner Gastdozentur an der Universität Rostock im Landesarchiv Schwerin (seinerzeit Hauptstadt des Großherzogtums Mecklenburg-Schwe­rin). Bald darauf schickte ich eine Übersetzung mit Kommentar nach Moskau, in die Re­daktion einer historischen Zeitschrift, deren Sekretär ein Bekannter war. Er rief mich bald da­rauf an und sagte, daß der Bericht bald gedruckt werde.

Nach zwei Wochen rief er wieder an und sagte, daß „daraus nichts wird, Kommentar beim näch­sten Treffen“.

Wir trafen uns bald zu einer Konferenz. Er sagte, daß er „nicht telefonisch darüber sprechen wollte“. Aber der Redakteur hätte gesagt, dieser Bericht könnte auch als indirekte Bestätigung des „deutschen Geldes“ aufgefaßt werden.

Ich wiederholte diesen Versuch nach Jahren in Moskau (in einer anderen Zeitschrift) und in Riga. Mit demselben Erfolg. In Moskau wurde gleich gesagt: „Das Papier klingt ja wie eine Be­stätigung – wir haben in die richtige Partei und die richtigen Männer investiert.“

Der Bericht beschreibt die Lage ziemlich zutreffend. Lediglich die Bolschewiki waren recht straff or­ga­ni­siert und aktionsfähig. Als Persönlichkeiten konnten weder Miljukov oder Kerenskij, noch Martov oder Černov als Strategen oder Taktiker Lenin (weniger Trockij) gleichen. Aber das bezieht sich ebenfalls auf Lenins und Trockijs Bereitschaft zum Terror und Blutvergießen.

Vor der Machtergreifung im Oktober 1917 mußte Lenin den Widerstand vieler bolschewistischer Führer gegen einen Versuch der Machtergreifung überwinden. Dank seiner Autorität gelang es ihm.

Dokument 1

Schwerin  Archiv

Großherzogliche mecklenburgische Gesandtschaft

Politische Berichte 1917           No 22 S. 523

Informatorische Aufzeichnung No 139

vom 19. 11. 1917

Geheim

Botschaft des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin an die Reichsregierung 1917

Akte No 22 Bl. 523

„Von den Petersburger Führern sollen Lenin und Trotzki die bedeutendsten sein, beide westlich gebildet, an Kraft der Persönlichkeit ihren sozialpatriotischen Gegnern weit überlegen, praktische Revolutionäre großen Stils. Lenin, ein Tatar namens Ulja­now ist offenbar der Organisator und Leiter dieser gut organisierten und umsichtig ge­leiteten Bewegung, Theoretiker in den radikalen Zielen, aber praktisch und kon­kret in der Benutzung der Mittel.

Sowohl Lenin als Trotzki sollen über eine sehr große persönliche Autorität bei ihren Anhängern verfügen. Sie dürften imstande sein in ihrer Partei Ordnung zu halten.


2.  Aufrufe an die „roten lettischen Schützen“
(vorbereitet und kommentiert von Peter Krupnikow)

Die lettischen Schützenregimenter wurden – zuerst als Bataillone – 1915 in den russischen Streit­kräften gegründet. Es waren Freiwillige, darunter viele Arbeiter und Landlose. Einen Mangel an Offizieren gab es nicht – viele Letten schlugen Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhun­derts eine militärische Karriere in der russischen Armee ein. Sehr viele meldeten sich nach 1915 zu den lettischen Einheiten.

Diese lettischen Schützen werden 1916 bis Anfang 1917 als gute Kämpfer sowohl in den Tages­be­fehlen der russischen Armee als auch in den Berichten des Oberkommando Ost des deut­schen Heeres erwähnt.

Bald nach der Februarrevolution 1917 nahmen die Deputierten der Regimenter im Mai 1917 die erste bolschewistische Resolution eines Truppenteils der russischen Armee an. Im Ok­to­ber 1917 sind die nun als „rote lettische Schützen“ bezeichneten Truppenteile eine wichtige Stütze der Bolschewiki bei der Machtergreifung.

Nach der deutschen Besetzung des Baltikums (Lettland und Estland) Anfang 1918 gingen diese Regimenter nach Rußland und kämpften im Bürgerkrieg auf der Seite der Bolschewi­ki. Der Schützenoberst J. Vacietis wurde erster Oberbefehlshaber der Roten Armee. Lenin und die bolschewistische Führung wurde von den Letten bewacht. Sie zerschlugen auch den Aufstand der linken Sozialre­volutionäre in Moskau am 6. Juli 1918 und nahmen an vielen Schlachten erfolgreich teil. Viele Offi­ziere verließen nach dem Oktober 1917 die Regimenter. Ein Teil kehrte nach Lettland zurück, ein anderer kämpfte in Rußland auf der Seite der „Weißen“. Die „roten Schützen“ kämpften auf der roten Seite wegen der Leninschen Losung von der Selbstbestimmung der Völker. Gleichzeitig kämpften die Weißen für ein „einiges, unteilbares Rußland“, wollten nichts von irgendeiner Autono­mie der Minderheiten hören, restaurierten – wo sie konnten – das Eigentum des Adels.

1920 verblieb in den Händen der Weißen im europäischen Rußland lediglich die Krim. Der neue – und letzte – Oberbefehlshaber General Petr Wrangel änderte einiges politisch, sowohl in der so wichtigen Frage der Agrarordnung als auch in der nationalen Frage.

Wichtig war, daß Wrangel, anders als Kolčak, Denikin und andere Führer der weißen Kräf­te, die Tätigkeit eines Vertreters des lettischen – im November 1918 ausgerufenen – Staates und seiner provisorischen Regierung in der Krim zuließ. Dieser Vertreter und ein lettischer Oberstleutnant i. g. unterschreiben auch diesen Aufruf, mit dem versucht wurde, auf die „roten“ Letten einzuwirken.

M. W. gibt es keine Angaben über den Erfolg des Aufrufes. Aber es ist bekannt, daß mehrere lettische Offiziere aus der Krim nach Lettland kamen und der lettischen Armee beitraten. Ende 1920 wurde die Krim von den Roten eingenommen. Dabei spielte die lettische rote Divi­sion eine bedeutende Rolle.

Diese Dokumente wurden von mir im Archiv des Hoover-Instituts (Stanford) gefunden.

Dokument 2a

Aufruf

an die lettischen Regimenter, die sich in Sowjetrußland befinden

Brüder Letten!

Unsere hart geprüfte Heimat Lettland hat sich durch seine Teilnahme am Weltkrieg das Recht erkämpft, über sein Schicksal nach eigenem Ermessen zu entscheiden.

In diesem Kampf um das Selbstbestimmungsrecht; in diesem Meer von vergossenem Blut und vergossenen Tränen ist auch ein Tropfen eures Blutes, ein Maß eurer Tränen: Die Namen vieler von euch sind in die ruhmreichen Kapitel der Geschichte der lettischen Schützen im Kampf gegen den historischen Feind des lettischen Volkes eingegangen.

Jetzt ist ihre Heimat frei, aber sie ist zerstört, ihr mangelt es an jungen, arbeitsfähigen Söhnen: Viele von ihnen haben ihr Leben für die Heimat gelassen in den zahllosen Kämpfen bei „Pulemetnaja Gorka“, bei den Förstereien „Mangel“ und „Skangel“, auf der „Todesinsel“, bei „Berzemünde“ usw., viele sind über die ganze Welt verstreut.

Ihr aber, die eine Schicksalsfügung nach Sowjetrußland getrieben hat, vergießt schon das dritte Jahr euer eigenes und fremdes Blut für eine Sache, an die ihr nicht glaubt, für Menschen, die euch betrügen.

Mischt euch nicht in die russischen Angelegenheiten ein – laßt sie ihr Schicksal aus eigenen Kräften, nach ihrem eigenen Ermessen gestalten.

Eure Pflicht ist es, euch unverzüglich in die Heimat zu begeben, wo auf euch als Erbauer eines neuen Lebens das Volk wartet, eure Angehörigen warten.

Folgt deshalb dem Beispiel eurer Kameraden aus dem 5. lettischen Schützenregiment Akmen, Schulz, Kronin, Zirnis und weiteren 58 Schützen desselben Regiments und geht auf das Territorium über, das von den Truppen von General Wrangel besetzt ist.

Das Oberkommando der Russischen Armee garantiert euch volle persönliche und materielle Unantastbarkeit.

Hier unterliegt ihr der Mobilmachung nicht.

Die Vertretung Lettlands in Sewastopol wird mit Wissen und Willen der Regierung Lettlands alle Maßnahmen zu eurer Beförderung in die Heimat treffen.

Vertreter Lettlands

Mikkel Stengrevic

Ehemaliger Stabschef der 1. Lettischen Schützenbrigade und Stellvertreter des Kommandeurs des Lettischen Reserveregiments, Oberstleutnant im Generalstab Grünberg

PS. Die erwähnte Gruppe von 58 Letten (R. Pavar, A. Cirul, P. Plaudis, I. Lepin, Rekst, Nagla u. a.) befinden sich in ihrer Eigenschaft als Sanitäter und Arbeiter in Erwartung ihres Transports in die Heimat.

M.St.

Dokument 2b

Kameraden Letten!

Wenn ihr heimkehren wollt, ergebt euch den Truppen von General WRANGEL.

Hier wird euch niemand etwas antun, euch auch nicht das geringste Unrecht zufügen.

Ich bin gefangengenommen worden, man behandelt mich bestens: Ich bin nicht nur am Leben geblieben, sondern werde auch in nächster Zukunft in die Heimat befördert werden.

Ihr tut mir sehr leid, weil ihr nicht heimkehren werdet, ebendeshalb schreibe ich euch diesen Brief.

Glaubt den Kommunisten nicht!

Die Sowjetmacht hat schon seit langem versprochen, euch die Heimkehr zu ermöglichen, löst aber ihr Versprechen nicht ein.

Ergebt euch ohne Angst!

In der Russischen Armee gibt es viele Freunde von uns, macht bloß mit dem Kriegführen Schluß

Ergebt euch! Als Bürger Lettlands werdet ihr baldigst nach Lettland befördert werden.

Geschrieben vom ehemaligen Zugführer, Chef der 1. Kompanie des 7. Lettischen Schützenregiments, Akmen Reingold.

Druckerei der Presseabteilung


- Die lettischen Orts- und Familiennamen werden in der Schreibweise der Aufrufe wiedergegeben
- Hoover Institution Archives, Baron Petr Vrangel Collection, Box 44, folder 12
(Dokumente 2a und 2b: übersetzt von Nina Letneva)