Leonid Luks |
Irreführende Parallelen: Die „Ostfront“ und der „Gulag“ im Irak? |
Das Vorgehen der US-Truppen im Irak veranlaßte in der letzten Zeit eine Reihe von Autoren dazu, Parallelen zwischen den dortigen Entwicklungen und dem nationalsozialistischen Unternehmen Barbarossa bzw. dem stalinistischen Archipel Gulag zu ziehen. Bei aller verständlichen Empörung über die Vorgänge im Irak tragen die Autoren solcher Beiträge mit ihren undifferenzierten Vergleichen zur Verkennung der Singularität der nationalsozialistischen bzw. stalinistischen Verbrechen bei. Der Erkenntnisgewinn der Nationalsozialismus- und der Stalinismusforschung der letzten Jahrzehnte wird dadurch in Frage gestellt. Nicht zuletzt deshalb ist eine Auseinandersetzung mit diesen zum Teil unhaltbaren Thesen unerläßlich. Der vorliegende Beitrag wird sich mit einigen der obenerwähnten Äußerungen befassen. 1. Zum Vergleich des Unternehmens Barbarossa mit dem Krieg im Irak Am 12. Mai veröffentlichte der britische Historiker Richard Overy in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel unter dem Titel „Die Ostfront im Irak“, in dem er mehrmals Parallelen zwischen dem Irak-Krieg und dem Rußlandfeldzug des Dritten Reiches zog, also einem Krieg, der die ursprünglichen europäischen Vorstellungen von Kriegführung sprengte und eine im Grunde singuläre Erscheinung darstellte.[1] Denn mit dem „Unternehmen Barbarossa“ trat die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie bekanntlich in ihre radikalste Entwicklungsphase ein. Zwar schreibt Overy, daß „nirgends sonst derart gräßlich und mörderisch vorgegangen wurde“ wie im Rußlandfeldzug. Aber kurz nach dieser Feststellung beginnt er, wiederholt Parallelen zwischen dem „Unternehmen Barbarossa“ und dem Irak-Krieg zu ziehen. So kritisiert Overy den undifferenzierten Gebrauch des Begriffes „Terrorist“ durch die Bush Administration und fügt hinzu: „Das Wort ‚Terrorist‘ wurde schon von den Nazis auf die Widerstandskämpfer in allen besetzten Gebieten angewandt. Heute ist ‚Terrorist‘ ein Gattungsbegriff für dämonisierte Fanatiker, die nach allgemeiner Ansicht zu den schlimmsten Greueltaten fähig sind. So hat man die vermeintlichen Feinde im Irak entmenschlicht, so wie es die deutsche Propaganda 1941 mit den Sowjetsoldaten tat (von mir hervorgehoben), die sie so zur Mißhandlung und Exekution freigab“. Will Overy durch diese Aussage wirklich eine Parallele zwischen der amerikanisch-britischen Besatzungspolitik im Irak und derjenigen des Dritten Reiches in Rußland ziehen? Um die Abwegigkeit einer solchen Argumentation zu belegen, genügt es, auf das Schicksal der gefangenen Rotarmisten und der Juden in den besetzten Gebieten hinzuweisen. Über die Lage der sowjetischen Kriegsgefangenen schreibt der Potsdamer Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller: „Von den 3.350.000 Gefangenen des Jahres 1941 waren bis zum 1. Februar 1942 fast 60 Prozent ums Leben gekommen [...] Der Blick darauf, daß die Sterblichkeit im Reich besonders hoch war [...] und hier bis Anfang April 1942 etwa 47 Prozent der sowjetischen Kriegsgefangenen an Hunger und Fleckfieber starben, läßt erkennen, daß die Gefangenen nicht einem unabänderlichen ‚Notstand‘, sondern einer konsequent durchgeführten Hungerstrategie zum Opfer fielen“.[2] Was die Lage der Juden in den besetzten Ostgebieten betrifft, so ist sich die Mehrheit der Forscher darüber einig, daß der Beschluß Hitlers, die „jüdische Frage endgültig zu lösen“, eng mit der anfänglichen Phase des „Unternehmens Barbarossa“ verknüpft war. Damals habe Hitler, so Joachim C. Fest, „nur noch Endlösungen“ gesucht.[3] Eingeleitet wurde diese „Suche“ mit den massenhaften Erschießungen sowjetischer Juden durch die Einsatzgruppen des Sicherheitsdienstes und der Sicherheitspolizei. H. Krausnick und H.-H. Wilhelm schreiben in ihrem Buch Die Truppe des Weltanschauungskrieges, daß „nicht weniger als 700–750.000 Juden bereits im ersten Dreivierteljahr der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft auf sowjetischem Boden den gegen sie gerichteten Verfolgungsmaßnahmen zum Opfer gefallen sind.“ [4] Und die Zahl der ermordeten Juden stieg ununterbrochen. Eine besondere Rolle spielten hier die Vernichtungslager Chełmno, Treblinka, Sobibór, Bełżec und Auschwitz-Birkenau, die im besetzten Polen errichtet worden waren. Wie die polnischen Historiker J. Gumkowski und K. Leszczyński mit Recht sagen, ist die Bezeichnung „Lager“ für diese Einrichtungen irreführend. Die Menschen wurden dort bereits einige Stunden nach ihrer Ankunft ermordet. [5] All diese Vorgänge weisen darauf hin, daß es sich bei der nationalsozialistischen Besatzungspolitik im Osten um ein einzigartiges Phänomen handelte, das sich vom Krieg im Irak grundlegend unterschied. 1963 bezeichnete Ernst Nolte das „Unternehmen Barbarossa“ als den „ungeheuerlichsten Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte kennt.“ [6] Was die Folterungen der irakischen Gefangenen durch amerikanische Soldaten anbetrifft, so zieht Overy hier, ebenso wie in den bereits oben angeführten Fällen, eine Parallele zum „Unternehmen Barbarossa“: „Die Mißhandlung von Gefangenen, die im Irak ebenso vorkommt, wie sie es im besetzten Rußland (von mir hervorgehoben) und in Vietnam tat, versetzt die Welt in Abscheu“. Dabei läßt der Autor folgendes außer acht. Die brutale Behandlung der Bewohner der eroberten russischen Gebiete wurde durch eine Reihe von Instruktionen und „Anregungen“ der Führung des Dritten Reiches inspiriert und war untrennbar mit der rassenpolitischen Programmatik der NSDAP verbunden. Die Soldaten wurden unentwegt dazu aufgefordert, die aus der Sicht der nationalsozialistischen Ideologie „rassisch minderwertige“ Bevölkerung der besetzten Ostgebiete mit besonderer Härte zu behandeln: „Der Kampf wird sich sehr unterscheiden vom Kampf im Westen. Im Osten ist Härte mild für die Zukunft“. Diese Worte Hitlers vom 30. März 1941 gab Generalstabschef Halder in seinem Kriegstagebuch wieder. [7] Auch Heinrich Himmler dachte damals über die Zukunft Rußlands nach: „Zweck des Rußlandfeldzugs [sei] die Dezimierung der slawischen Bevölkerung um 30 Millionen.“ [8] In den Monologen Hitlers im Führerhauptquartier kann man ebenfalls nachlesen, wie der deutsche Diktator sich die Zukunft des eroberten Ostens vorstellte. Ein Beispiel sollte genügen. Am 17. Oktober 1941 führte Hitler aus: „Die Eingeborenen? Wir werden dazu übergehen, sie zu sieben. Den destruktiven Juden setzen wir ganz hinaus [...] In die russischen Städte gehen wir nicht hinein, sie müssen vollständig ersterben. Wir brauchen uns da gar keine Gewissensbisse zu machen [... Wir] haben überhaupt keine Verpflichtungen den Leuten gegenüber.“ [9] Die Richtlinien der politischen Führung des Dritten Reiches spiegelten sich auch in den Äußerungen einiger Militärführer wider, z.B. im Befehl des Oberbefehlshabers der 6. Armee, Generalfeldmarschall von Reichenau, vom 10. Oktober 1941, in dem folgendes zu lesen war: „Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch ein Träger einer unerbittlichen völkischen Idee und Rächer für alle Bestialitäten, die deutschem und artverwandtem Volkstum zugefügt wurden. Deshalb muß der Soldat für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben.“ [10] Da es völlig undenkbar ist, daß Overy vergleichbare „Regieanweisungen“ der amerikanischen oder der britischen Führung an ihre jeweiligen Truppen im Irak ausfindig machen wird, muß man auch aus diesem Grund die von ihm aufgestellten Analogien zwischen den beiden Kriegen als irreführend bezeichnen. Und noch ein anderes Unterscheidungsmerkmal zwischen der Besatzungspolitik in Rußland und derjenigen im Irak kommt im Artikel Overys zu kurz. Parlamentarische Untersuchung, gerichtliche Ahndung und öffentliche Anprangerung der entsetzlichen Vorgänge in Abu Ghraib und in anderen irakischen Gefängnissen, wie sie zur Zeit in den USA stattfinden, zeigen, daß im System von checks and balances, das demokratisch verfaßte Staaten prägt, der Machtmißbrauch beinahe unausweichlich an seine Grenzen stoßen muß. Solche Grenzen kannte indes der nationalsozialistische Willkürstaat, der sich jeglicher gesellschaftlicher Kontrolle entzog, nicht. Deshalb tragen die vom Autor angeführten Parallelen zwischen dem „Unternehmen Barbarossa“ und den Vorgängen im Irak nicht nur zur begrifflichen Verwirrung im Amerika-Diskurs, sondern auch zur Verharmlosung des NS-Regimes bei. 2. Susan Sontag verharmlost den Archipel Gulag Die empörende Behandlung der Gefangenen in irakischen Haftanstalten durch amerikanische Militärs veranlaßte die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag zu einem äußerst undifferenzierten historischen Vergleich. Sie schreibt in der Süddeutschen Zeitung: „Was in dem neuen Machtbereich internationaler Gefangenenlager unter der Führung des US-Militärs vor sich geht, übertrifft sogar die berüchtigten Prozeduren [...] im sowjetischen Gulag. [... Die] russischen Gefangenen wußten immerhin, weswegen sie angeklagt waren und wie viele Jahre sie zu verbüßen hatten.“ [11] Mit dieser Aussage verkennt Susan Sontag weitgehend den Charakter des stalinistischen Terrorsystems, das bereits in unzähligen Büchern dargestellt wurde, nicht zuletzt im Archipel Gulag von Aleksandr Solženicyn. Sie läßt z.B. die Tatsache außer acht, daß allein in den Jahren 1937–38 (während des „Großen Terrors“) 681.692 der Angeklagten in der UdSSR zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Diese Zahl nennt eine sowjetische Kommission, die nach dem Tode Stalins das Ausmaß der stalinistischen Verbrechen untersuchte. [12] In ihrem Essay beachtet Susan Sontag auch zu wenig die Tatsache, daß die von der stalinistischen Terrorjustiz veranstalteten Gerichtsverhandlungen in der Regel den Charakter einer Farce hatten. Bei den Anschuldigungen, die gegen die Terroropfer erhoben wurden, handelte es sich sehr oft um völlig absurde, von den Sicherheitsorganen erfundene „Verbrechen“, wobei die Geständnisse der Angeklagten nicht selten infolge von unvorstellbaren Foltern erpreßt wurden. Und diese „Untersuchungsmethoden“ wurden von der höchsten Parteiführung ausdrücklich angeordnet. Im Rundschreiben des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei vom 20. Januar 1939 konnte man lesen: „Das ZK der KPdSU (B) ist der Ansicht, daß physischer Druck in jenen Ausnahmefällen, bei denen es sich um bekannte und unbelehrbare Volksfeinde handelt, als durchaus gerechtfertigte und angemessene Methode obligatorisch anzuwenden ist.“ [13] Unzählige Häftlinge des Gulag haben übrigens das Ende ihrer Haftzeit nicht erlebt. Sie kamen infolge brutaler Ausbeutung ihrer Arbeitskraft, unzumutbarer Lebensbedingungen, unzureichender Ernährung und sonstiger Repressalien ums Leben. Angesichts all dieser Fakten kann man sich über das verharmlosende Bild, das sich Frau Sontag über den „Archipel Gulag“ gemacht hat, wie auch über die von ihr aufgestellten irreführenden Parallelen nur wundern. [14] Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, daß der Essay, in dem Susan Sontag die amerikanischen Gefangenenlager mit dem sowjetischen Gulag verglichen hat, ursprünglich in den USA publiziert wurde. Ein vergleichbar kritischer Text über den sowjetischen Gulag hätte, gelinde gesagt, wohl wenig Chancen gehabt, in der stalinistischen Sowjetunion zu erscheinen. Schon dieser Umstand allein, der die grundlegenden Unterschiede zwischen einem pluralistischen und einem totalitären System versinnbildlicht, zeigt, wie abwegig die Analogieschlüsse der Autorin sind. [1] Die englische Fassung des Artikels, die mit der deutschen nicht völlig identisch ist, ist unter dem Titel „Like the Wehrmacht, we’ve descended into barbarity“ im Londoner Guardian (10.5.2004) erschienen. [2] Boog, Horst u.a.: Der Angriff auf die Sowjetunion. Frankfurt am Main 1996, S. 1999. [3] Fest, Joachim C.: Hitler. Eine Biographie. Berlin 1973, S. 885. [4]
Krausnick, Helmut/Wilhelm, Hans-Heinrich: Die Truppe des
Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und
des SD 1938–1942. Stuttgart
1981, S. 620. [5] Gumkowski, Janusz/Leszczyński, Kazimierz: Okupacja hitlerowska w Polsce. Warschau 1961, S. 69. [6] Nolte, Ernst: Der Faschismus in seiner Epoche. München 1963, S. 436. [7] Generaloberst Halder: Kriegstagebuch. Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres 1939–1942, Band 1–3. Stuttgart 1962 ff., hier Band 2, S. 337. [8] Zit. nach Schreiber, Gerhard: Deutsche Politik und Kriegführung, in: Bracher, Karl Dietrich u.a. (Hrsg.): Deutschland 1933–1945. Düsseldorf 1992, S. 343 f. [9] Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944, aufgezeichnet von Heinrich Heim, hrsg. von Werner Jochmann. München 2000, S. 90. [10] Boog u.a.: Der Angriff, S. 1246. [11]
Endloser Krieg, endloser Strom von Fotos, in: Süddeutsche Zeitung 24. Mai 2004 [12] Artizov, A. u.a. (Hrsg.): Reabilitacija. Kak ėto bylo. Moskau 2000, S. 317. [13] Chruschtschows historische Rede, in: Ost-Probleme Nr.25/26, 22.6.1956, S. 867–897, hier S. 880. [14] Der SZ-Redakteur Ulrich Raulff scheint die Positionen Susan Sontags zu teilen. In seinem Artikel „Bilanz am Strand“ (Süddeutsche Zeitung vom 5./6. Juni 2006) schreibt er: „[Der amerikanische – L.L.] ‚Krieg gegen den Terror‘ folgt, wie Susan Sontag bemerkt hat [...], dem Gesetz des Gulag“. Der Amerika-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Jordan Mejias begnügt sich seinerseits in seiner Stellungnahme zum fragwürdigen Vergleich Susan Sontags (er bezieht sich auf die amerikanische Version des Essays) mit folgendem Kommentar: „[Ihre] Behauptung, Bush übertreffe mit seinem ‚Karzer-Imperium‘ noch die Strafkolonien [...] des sowjetrussischen GULag, dürfe in Amerika nicht mehrheitsfähig sein – noch nicht (von mir hervorgehoben)“ – Meijas, Jordan: Im endlosen Strom der Schreckensbilder, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 24. Mai 2004. |