V. V. Šul’gin

Die Emigration. Erinnerungsfragmente.


Konstantinopel

Das „Jahr 1920“ endet mit einem scheinbar fröhlichen, in Wirklichkeit aber traurigen: „Willkommen 1921!“ Ich begrüßte das neue Jahr in Konstantinopel, an Bord eines Dampfers. Ich war gerade aus Gallipoli, einem Hafen am Marmarameer, angekommen, wo ich meinen spurlos verschwundenen Sohn gesucht hatte - ohne Erfolg.

Ein Bootsmann, ein „Kardasch“ [1], brachte mich vom Dampfer ans Ufer, d.h. nach Galata. Aber dann? Wohin jetzt? Einer der Russen, die hier versammelt waren, sagte mir, ich müsse von Galata, also vom Hafen die Grande rue de Pera hinaufgehen. Dort befinde sich die russische Botschaft und man werde mir die nötigen Auskünfte geben.

Als ich Galata durchquerte, kam ich an Reihen von Verkaufsbuden vorbei, die zu beiden Seiten die Straße säumten. Sie sahen aus wie Obststände. In der Tat wurde dort so etwas wie Frischobst angeboten, allerdings lebendiges. Es waren Prostituierte, rotgeschminkt wie Äpfelchen, die auf teppichbedeckten Pritschen saßen und Freier anlockten.

Als ich dieses eigenartige Früchtespalier passiert hatte, fühlte ich mich müde und hungrig. Ich ging in eine Kaffeestube. Während man mir den Kaffee brachte, schaute ich einem tanzenden Paar zu. Ein Matrose tanzte mit einer Prostituierten Foxtrott. Ich erinnere mich an die Worte eines alten Juden, der eine Übung dieser Art zum ersten Mal sah: „So so, Foxtrott nennt man das also. Früher nannte man das anders.“

Ich hatte genug von Galata gesehen und kehrte auch später nie wieder dorthin zurück. Auf dem Weg zur Grande rue de Pera aß ich einen köstlichen heißen, echt türkischen Kringel. Kaum hatte ich ihn verzehrt, war ich auch schon bei der russischen Botschaft angekommen, wo sich eine große Menge von Russen zusammendrängte. Die Männer waren leicht an ihren schäbigen Mänteln zu erkennen. Die Damen fielen dadurch auf, daß sie alle etwas auf dem Kopf trugen, was man damals „Strümpfchen“ (čuločki) nannte. Diese „Haarstrümpfe“ in verschiedenen Farben hatten den Zweck, die unansehnliche Frisur zu verdecken, denn für Dauerwellen war kein Geld da. Eine dieser Damen erkannte mich sofort.

„Sie?!“

„Ja, ich bin es, liebe Zina. Ich komme gerade aus Gallipoli.“

„Haben Sie Ljalja gefunden?“

„Nein.“

„Hören Sie, es gibt hier eine Wahrsagerin. Sie findet allen Leuten ihre verschollenen Angehörigen wieder. Sie heißt Anželina.* Gehen Sie zu ihr. Ich zeichne Ihnen auf, wie Sie dorthin kommen.“

Von Aufzeichnen sprach sie, weil es in Konstantinopel keine Straßennamen und Hausnummern gab. Darum wurde eine Skizze gezeichnet, und als Ausgangspunkt diente die Pera Straße.

Ich sagte:

„Gut, ich gehe dahin, aber...“

Sie verstand:

„Da haben Sie eine Lira.“

Die Lira war damals die Währung, ihr Wert war ziemlich hoch. Ohne mich im geringsten zu genieren, nahm ich das Geld. Zina hatte zur „Azbuka“ [Alphabet] [2] gehört, einer konspirativen Organisation, die ich geleitet hatte. Wir hatten immer alles geteilt. Sie sprach nun immer hastiger, als ob sie befürchte, nicht zuende sprechen zu können:

„Es ist natürlich keine Frage, daß Sie bei uns wohnen werden. Ich wohne bei Petr Tityč...“

Petr Tityč Samochvalov* war ein Oberst, der mir ebenfalls in „Azbuka“ unterstellt gewesen war.

- „... und dann wohnt da noch Musja Sedel’nikova.* Sie kennen sie natürlich?“

„Wir haben uns in diesem Sommer auf der Insel Tender kennengelernt. Aber wo befindet sich Ihre Wohnung denn?“

„In einer Straße, die Katzen-Dere genannt wird.“

„Was ist das für eine Straße?“

„Tja, hier in Konstantinopel heißen viele Straßen ‚Dere’, und da es auf unserer Straße eine unübersehbare Menge Katzen gibt, haben wir sie eben so genannt. Fünfter Stock, Holztreppe. Bei einem Brand würden alle umkommen. Zwar hat es bisher noch keinen Brand gegeben, aber sehen Sie sich vor. An manchen Stellen gibt es kein Geländer, an anderen auch keine Stufen. Es ist nicht ratsam, im Dunkeln heimzukommen. So, nun haben Sie eine Vorstellung, wie Sie in die Katzen-Dere gelangen...“


***

So ließ ich mich denn bei Petr Tityč, Zina* und Musja Sedel’nikova in der Katzen-Dere nieder. Aber ich hatte ein Zimmer für mich, auf demselben Stockwerk. Ich mietete es von einer Zigeunerin und zahlte ihr eine halbe Lira pro Tag. Für vier Holzbetten, ohne Matratzen und Kopfkissen. Vier deshalb, weil ich noch drei Leute zu mir nahm: Veridarskij* (in der „Azbuka“ hatte er „Maksimyč geheißen) und die zwei Brüder Lazarevskij,* Vladimir und Evgenij.

Das Hervorstechendste in dieser Zeitperiode war der Hunger. Wir hungerten zu viert. Bis ich mich eines schönen Tages auf meine Pritsche legte und sagte:

„Im Liegen lebe ich länger.“

Im übrigen, dachte ich, sei es für meine Freunde (und irgendwelche Freunde habe ich doch!) billiger, mir zu helfen als mich zu beerdigen. Ich täuschte mich nicht. Tatsächlich kam nach einiger Zeit Hilfe. Aber vorläufig begaben sich Maksimyč und die Brüder Lazarevskij jeden Morgen auf Beutezug. Meist konnten sie etwas bei den Amerikanern ergattern, die in Konstantinopel eine breite Wohltätigkeitsaktivität entfalteten. Sie gaben Kakao und Zucker, später auch warmes Essen, wenn auch ziemlich dürftiges. Wir nahmen, was wir kriegen konnten, und kochten auf dem Petroleumkocher, den wir von Petr Tityč ausliehen, Kakao für alle, die uns besuchen kamen, und das waren nicht wenige. Der jüngere Lazarevskij, der in der Gardeartillerie gedient hatte, fragte die Gäste mit gleichbleibender Liebenswürdigkeit:

„Darf es ein Täßchen Kakao sein?“

Manchmal tauchte sogar Weißbrot auf. Und alle wurden satt...

Es war trotz Armut und Hunger ein fröhliches Leben.


***

Die Tage vergingen und es kam materielle Hilfe. Man muß dazu wissen, daß Petr Nikolaevič Vrangel’* sich zu jener Zeit in Konstantinopel aufhielt. Die Evakuierung der Vrangel’-Truppen von der Krim war im Gegensatz zu der von Denikin aus Novorossijsk sehr erfolgreich verlaufen. Hundertundein Schiffe waren völlig überladen aus Sevastopol’ ausgelaufen. Dank des günstigen Wetters gelangten sie aber alle wohlbehalten ans Ziel.

Vrangel’ selbst wohnte anfangs in unserer Botschaft, um dann auf die Yacht „Lukull“ umzuziehen, die am Ufer des Bosporus vor Anker lag. Eines schönen Tages aber kollidierte ein großer italienischer Dampfer, der vom Kurs abgekommen war, mit der „Lukull“ und versenkte sie. Alle konnten sich retten – bis auf einen Obermaat, den seine Frau gebeten hatte, in der gesunkenen Yacht nach ihren Sachen zu tauchen. Er tat es und kehrte nie zurück. Vor dem Untergang hatten auf der „Lukull“ bei Petr Nikolaevič die führenden Emigrationsvertreter getagt. Dort hatten sie die Frage der künftigen Organisationsform der Emigration diskutiert und beschlossen, Zellen zu bilden, die „Kolonien“ genannt wurden.

In meinem Gedächtnis ist das Bild dieser Sitzungen erhalten geblieben. Vrangel’ präsidierte, wobei er aber nicht ruhig sitzenblieb, wie sich das für einen Vorsitzenden gehört. Er wippte so heftig auf den Hinterbeinen seines Stuhls, daß man jede Minute darauf gefaßt war, ihn umkippen zu sehen. Aber er kippte nicht, sondern wahrte das Gleichgewicht, und das auch im politischen Sinn, d.h. er hielt eine mittlere Linie durch. Ich dagegen saß ruhig auf meinem Stuhl, predigte allerdings irgendwelche Extrempositionen, an deren Inhalt ich mich heute überhaupt nicht mehr erinnern kann. Aber ich erinnere mich an diese Vrangel’sche Kaltblütigkeit, die mit einem großen Temperament einherging. In meinem Kopf bildete sich damals bereits die Vorstellung, daß Vrangel’ eine bedeutende Persönlichkeit war.

Man hat ihm nicht zu Unrecht Ehrgeiz vorgeworfen. Wäre ihm die Krone des russischen Imperiums angetragen worden – er hätte sie nicht ausgeschlagen. Die Vrangel’s standen doch den Romanovs in nichts nach: Sie hatten sich bereits im 12. Jahrhundert an der Ostseeküste angesiedelt und waren schwedischer Herkunft wie die Rjurikiden, waren Waräger. Vrangel’ hätte das Land mit fester Hand regiert, aber ohne unnötige Grausamkeit. Wer die Kosaken bändigt, ohne seine Popularität zu verlieren, hat dafür den Beweis erbracht.


***

Wesentlich später fragte ich einmal Petr B. Struve,* der Lenin gut kannte:

„Wie kann man Lenin definieren?“

Struve ließ sich Zeit, die Antwort fiel ihm nicht leicht.

„Lenin? ... Lenin – das ist eine denkende Guillotine, ja, das ist er, eine denkende Guillotine.“

Auch Vrangel’ war von dieser Art. Wenn es sein mußte, konnte er eisern sein. Aber niemals war er wütend oder unüberlegt. Die Kaltblütigkeit dieses temperamentvollen Mannes war verblüffend – eine solche Kombination begegnet einem nicht häufig.

All das dachte ich, während ich auf den ehemaligen Krimbaron schaute, der da auf seinem Stuhl wippte, selbst aber beharrte ich auf irgend etwas Extremem. Erstaunlich, daß ein Mensch sich so spalten kann, daß er sich gleichsam von der Seite beobachtet und sich über sich selbst wundert.


***

In der Zeit, als die „Lukull“ bereits zerstört und Vrangel’ wieder in die Botschaft zurückgekehrt war, wurde unter seinem Vorsitz der sogenannte Russische Rat [3] gegründet. In diesen Rat lud Vrangel’ auch mich ein, obwohl er mit Denikin Differenzen gehabt hatte, während ich mich mit ihm gut verstanden hatte.

Der Russische Rat versammelte sich in der Botschaft zweimal wöchentlich. Man begann, den Mitgliedern Geld zu zahlen. Hundert Lira im Monat, das war viel. Ich wurde reich. Sogleich verarmte ich aber wieder. Denn ich brauchte eine Wohnung, und Wohnungen waren irrsinnig teuer. Man fand eine für mich, für die ich 75 Lira zahlte. Sie gehörte einem Franzosen, der eine junge Armenierin heiraten wollte. Als ich den Besitzer aufsuchte, sagte ich ihm, daß ich vorhabe, meine mittellosen Freunde bei mir zu beherbergen. Er war einverstanden...

Einmal fand in dieser Wohnung eine Teerunde statt, die ich nie vergessen werde. Musja, Zina und Petr Tityč saßen um einen kleinen Tisch und tranken Tee. Ich saß etwas abseits und hörte ihrer Unterhaltung zu. Sie sprachen über dieses und jenes, ich aber begriff genau, wieso sie so und nicht anders sprachen. Petr Tityč’s Tochter war in Odessa durch Erschießen hingerichtet worden. Er wußte nichts davon, aber Zina und Musja wußten es. Zinas Mann, Oberst Barcevič,* war in Kiev durch Erschießen hingerichtet worden. Sie wußte nichts davon, aber Petr Tityč und Musja wußten es. Musjas zwei geliebte Schwestern waren in Odessa hingerichtet worden, wovon sie keine Ahnung hatte. Aber Petr Tityč und Zina wußten es. Ich war der einzige, der alles wußte. Und ich saß abseits und beobachtete, wie alle drei sich bemühten, einander nicht zu erkennen zu geben, was sie wußten. Das war eine wirkliche Tragödie.


***

Dann erinnere ich mich noch aus derselben Zeit an einen jungen Offizier, der zu mir kam und um Hilfe bat:

„Ich schäme mich sehr, aber ich fürchte, vor Hunger zu sterben. Versagen Sie mir Ihre Hilfe nicht - um Ihrer guten Beziehungen zu meinem Vater willen.“

„Wer ist denn Ihr Vater?“

„Mein Vater heißt Aleksandrovskij,* er war Staatsanwalt in Kiev.“

Ich half ihm. Natürlich gab ich ihm nicht viel, aber wesentlich mehr, als ich eigentlich hätte geben können - auch unser Geld ging zur Neige. Und ich eröffnete ihm nicht, welcher Art meine Beziehungen zu seinem Vater gewesen waren.

Aleksandrovskij war der Staatsanwalt, der mich in Kiev angeklagt hatte. Es ging um einen Artikel, in dem ich den Hauptstaatsanwalt Čaplinskij* wegen seines rechtswidrigen Verhaltens im Bejlis*-Prozeß angegriffen hatte. Aleksandrovskij hatte erreicht, daß man mich zu drei Monaten Gefängnis verurteilte.

Drei Monate – das war nichts. Die Schärfe des Urteils lag darin, daß ich angeblich bewußt lügenhafte Behauptungen über den Oberstaatsanwalt Čaplinskij verbreitet hätte.

Offenbar war Aleksandrovskij junior damals noch ein Knabe gewesen und erinnerte sich an nichts, später indes, als die Verhältnisse sich änderten und ich in Kiev populär wurde, mag er aus dem Mund seines Vaters etwas Lobendes über mich gehört haben. Darum führte er sich mit den guten Beziehungen seines Vaters zu mir ein.


***

In einer kleinen russischen Zeitung, die in Konstantinopel herauskam, erschien die sensationelle Mitteilung, in Odessa seien die Arbeiter der Russischen Dampfschiffahrts- und Handelsgesellschaft, die man abgekürzt ROPIT [4] nannte, in Aufruhr. Es machte den Eindruck, als gäbe es unter den ROPIT-Arbeitern eine Rebellion nach Art des Kronstädter Aufstands. [5] Ich geriet in höchste Aufregung. „Mama Odessa“ war mir gut bekannt und meinem Herzen teuer. Ich nahm mir vor, den ROPIT-Leuten zu helfen. Unverzüglich schrieb ich einen Brief an Vrangel’, der damals wohl noch auf der „Lukull“ lebte. Ich schrieb etwa folgendes:

„In Odessa gibt es einen Aufstand. Die aufständischen Arbeiter sind in der Politik unerfahren, sie brauchen Führung, kurz, eine örtliche Regierung. Da ich in Odessa bereits einmal eine solche örtliche Regierung auf die Beine stellen mußte, habe ich eine Vorstellung davon, was zu tun ist. Mir steht eine schnelle Yacht zur Verfügung, ich kann auf ihr nach Odessa segeln und mich unter weißer Flagge nähern. Aber ich brauche unbedingt einen General, der sich dort in Odessa an die Spitze der Truppen stellen kann. Und das kann nur ein bekannter und populärer Mann sein. Ich weiß sehr gut, was zwischen Ihnen und Slačšev* vorgefallen ist, aber einen anderen geeigneten General sehe ich nicht. Ich bitte um Ihre Erlaubnis, unverzüglich gemeinsam mit Slačšev nach Odessa aufbrechen zu dürfen.“

Als Vrangel’ meinen Brief erhalten hatte, lud er mich ein, zu ihm auf die „Lukull“ zu kommen. Er empfing mich stehend und begann nach den üblichen Begrüßungen folgendermaßen:

„Sie schreiben, Ihnen sei bekannt, was zwischen Slačšev und mir vorgefallen sei. Aber mir scheint doch, daß Ihre Kenntnis nicht ausreicht. Beginnen wir damit, daß Slačšev und ich Duzfreunde waren. Ich schickte ihn nach Kachovka - ein sehr verantwortungsvoller Posten. Aber dann bemerke ich, daß irgend etwas Seltsames mit ihm vorgeht. Morgens erhalte ich ein Telegramm: ‚Ich treibe das rote Gesindel in Richtung Moskau‘, abends: ‚Alles verloren‘. Ich erfuhr, daß er sich nicht nur mit Alkohol, sondern zugleich auch mit Kokain vergiftet. Irgend etwas in seinem Kopf stimmt offenbar nicht. Mit ihm reist immer sein Bursche, irgendeine schöne Frau, und über ihnen fliegt ein Adler. [so im Text – Anm. d. Red.] Das haben die Soldaten natürlich bemerkt, und sie haben längst begriffen, daß Slačšev den Verstand verloren hat. Aber das ist noch nicht alles. Ich erhielt Nachricht, daß dort Gott weiß was vor sich geht: Morde und Erschießungen ohne Prozeß. Ich schickte General Ronžin* hin, der auf solche Dinge spezialisiert ist. Ronžin stellte vor Ort fest, daß tatsächlich ungeheuerliche Übergriffe stattfanden. Unter anderem erschoß man für lumpige dreißigtausend Rubel eine vornehme Dame, die Frau eines Wirklichen Staatsrats. Als Ronžin Slačšev dazu befragte, sagte dieser: ‚Nie davon gehört.‘ Da legte Ronžin ihm eine Notiz vor, auf der stand: ‚die und die abführen und beseitigen‘, unterschrieben: ‚Slačšev‘. ‚Ich war betrunken‘, redete er sich heraus. ‚Vielleicht‘, antwortete Ronžin, ‚aber General Vrangel’ fordert Sie auf, unverzüglich bei ihm zu erscheinen.‘ Ihn von der Front abzuberufen war ohne weiteres möglich, weil er mir die Sache in Kachovka vollständig verdorben hatte. Er kam, und ich sagte zu ihm: ‚So, mein Lieber, entweder werde ich dich in allen Ehren verabschieden und dir den Titel ‚Slačšev-Krymskij‘ [Slačšev, der Krimsieger] verleihen oder ich werde dich dem Gericht überantworten.‘ Er wählte die Variante ‚Slačšev-Krymskij‘ und verschwand zunächst. Aber in Konstantinopel begann er dann, gegen mich zu intrigieren. Ihm wurde der Prozeß gemacht, und es wurden ihm alle Titel aberkannt. Ich weiß heute nicht einmal, wo er sich aufhält. Kann ich Ihnen einen solchen General für Odessa vorschlagen? Außerdem: vielleicht handelt es sich nur um einen Sensationsbericht und es gibt überhaupt keinen Aufstand?“

Vrangel’ hatte recht. Der angebliche Aufstand der ROPIT-Leute erwies sich als Zeitungsente, und meine schnelle Yacht zerschellte in einem tosenden Sturm in tausend Stücke.


***

Der Russische Rat tagte ziemlich regelmäßig. Einmal sagte Vrangel’:

„Nun wird der Stabsvorsitzende General Šatilov* dem Rat berichten, wie unsere Sache in der Ukraine steht.“

Šatilov begann zu erzählen, daß sich in der Ukraine die Lage günstig entwickele. In Kiev und anderen Zentren hätten sich Zellen gebildet, die sich auf einen Angriff vorbereiteten, wenn es denn einen solchen geben werde...

Ich hörte mir das mit großer Verwunderung an, und als die Sitzung des Rates beendet war, fragte ich Petr Nikolaevič, woher diese Informationen stammen. Er sagte:

„Wieso? Das stammt von eurem Barcevič.“

Ich antwortete:

„Verzeihen sie, Petr Nikolaevič, in einer Viertelstunde werde ich Ihnen etwas vorzutragen haben.“

Im Sommer 1920, im Juli, hatte mich Oberst Barcevič auf der Krim ausfindig gemacht und gesagt:

„Vrangel’ schickt mich nach Kiev und hat mir die Rechte eines Armeekommandeurs verliehen, mit dem Auftrag, Stützpunkte einzurichten. Ich habe zugestimmt. Da dieses Abenteuer mir aber unsicher erschien, beschloß ich, mit Vrangel’ nur über meine Frau Zina und den Oberst Petr Tityč Samochvalov Verbindung zu halten, ohne daß ich ihn darüber in Kenntnis setzte...“

Da ich zu diesen Personen enge Beziehungen unterhielt und mit ihnen in der Katzenstraße wohnte, wußte ich genau, daß von Barcevič keinerlei Nachrichten vorlagen. Trotzdem lief ich für alle Fälle zur Katzenstraße und erkundigte mich, ob nicht irgendwelche Nachrichten von Vladimir Petrovič gekommen seien.

„Nein, nichts“, lautete die Antwort. Ich erfuhr, daß Barcevič gefallen war.

Ich kehrte zu Vrangel’ zurück und sagte ihm:

„Petr Nikolaevič, man hintergeht Sie. Vladimir Petrovič weilt bereits nicht mehr unter den Lebenden.“

Vrangel’ brüllte:

„Pavluša!!!“

Šatilov erschien.

„Barcevič wurde erschossen! Von wem hast du die Information über die Stützpunkte?“

Šatilov geriet in Verwirrung:

„Na, von unserem Aufklärungsapparat.“

Seit dieser Zeit hege ich allen staatlichen Aufklärungsdiensten gegenüber größtes Mißtrauen. Häufig lesen diese Aufklärer, wenn sie gerufen werden, der Führung von den Augen ab, was sie zu erfahren wünscht. Daraufhin verschwinden sie für eine gewisse Zeit, um dann scheinbar zurückzukommen und zu berichten, was gefällt.

Nun, und wie ging es weiter, wurde der Aufklärungsapparat zur Rechenschaft gezogen? Stellte man ihn vor Gericht? Nein. Er existierte weiter wie zuvor. Hätte man ihn vor Gericht gestellt, wäre dies doch in einem fremden Staat geschehen - wie hätte da das Urteil vollstreckt werden können? Nur in Form einer heimlichen Hinrichtung.



***

Der Russische Rat, zu dem ich auf Vrangel’s Anordnung gehörte, bestand aus mehr oder weniger prominenten Emigranten, die sich damals in Konstantinopel aufhielten. Er tagte ziemlich regelmäßig im Gebäude der russischen Botschaft. Unter den Angelegenheiten, die im Rat besprochen wurden, ist mir die Einrichtung sogenannter „Kolonien“ in Erinnerung. Man wollte die gesamte Emigration mit einem Netz solcher Zellen überziehen. Zum Teil wurde dies auch realisiert. Doch dann begannen die Zellen zu verkümmern. Sie wurden ersetzt von der sogenannten Russischen Militärunion [ROVS: Rossijskij občševoinskij sojuz], [6] die bis zum Ende der Emigration existierte. An ihrer Spitze stand Vrangel’. Aber der Großfürst Nikolaj Nikolaevič* war noch am Leben. Er war äußerst beliebt bei den Westmächten, besonders bei den Franzosen. Die Franzosen vergaßen nicht, wie Paris gerettet wurde: Die Stadt stand nämlich vor dem völligen Untergang. Wenn sie den Deutschen in die Hände gefallen wäre, wäre Frankreich aus dem Krieg ausgeschieden. Frankreich hätte Paris nicht in Brand setzen können, wie wir das mit Moskau 1812 taten, das war allen klar.

Darum wandten sich die französische Regierung und der Generalstab an Rußland um Hilfe. Man darf nicht vergessen, daß der französische und der russische Generalstab schon lange zusammengearbeitet hatten. Der Operationsplan für den Kriegsfall war auf einer graphischen Skizze festgehalten, die anzeigte, wo und wie beide Armeen in Aktion treten sollten. Aber als Frankreich Rußland um Hilfe bat, mußte man von dem graphischen Plan abrücken. Und das wirkte sich auf unseren Vormarsch katastrophal aus.

Mit anderen Worten, der Einmarsch nach Ostpreußen war unvorbereitet. Trotzdem rückten drei russische Armeekorps auf deutsches Territorium vor. Das deutsche Heereskommando nahm die Sache so ernst, daß es zwei seiner Armeekorps vom Einkreisungsring um Paris abzog und an die Ostfront warf. Obwohl diese zwei Korps unsere drei Korps vernichteten und unseren Vormarsch in eine Katastrophe verwandelten, trugen wir im Sinne der höchsten Strategie den Sieg davon, denn Paris wurde gerettet.

Darum wählte der Großfürst Nikolaj Nikolaevič Frankreich als Zuflucht und die Seestadt Antibes als Residenzort, wo er auch starb.

Also, Vrangel’ stand an der Spitze des ROVS. Und der Großfürst Nikolaj Nikolaevič? Er war in dieser Hinsicht konsequent. Während des Bürgerkriegs hatte ihm Denikin die Führung der Weißen Armee angeboten. Der Großfürst hatte verzichtet. Ähnlich überließ er in der Emigration Vrangel’ den ROVS. Vrangel’ sagte zu mir vom Großfürsten: „Der Großfürst macht Politik. Ich mische mich in diese Dinge nicht ein, denn ohne größere Mittel werden unsere Versuche nichts als Nadelstiche sein.“

Nikolaj Nikolaevič hatte ebenfalls kein Geld. Aber er hatte gewisse Möglichkeiten, welches zu beschaffen. Ob es nun um Summen ging, die der Dynastie gehörten und im Ausland deponiert waren, oder um eine größere Unterstützung seitens der Westmächte. Später wurden solche riesigen Summen auch Vrangel’ angeboten. Da änderte Vrangel’ seinen Standpunkt und war plötzlich bereit, politisch aktiv zu werden. Aber er erkrankte und starb unerwartet. Manche waren der Meinung, daß der Mißerfolg seines Unternehmens die Ursache dafür war, daß Vrangel’s Krankheit, die harmlos begann, sich in eine galoppierende Schwindsucht verwandelte. Einige Andeutungen hierüber erschienen in russischen Zeitungen, die in China herausgegeben wurden. Eine ziemlich hochstehende Persönlichkeit [7] teilte etwa folgendes mit:

„General Vrangel’ starb vor Kummer, als die Hoffnung, daß der Vorsitzende der Militärunion eine bedeutende Summe erhalten sollte, sich zerschlug.“

Aber es gab auch eine andere Version: Vrangel’ sei vergiftet worden. Man hätte dem Grippekranken eine hohe Dosis Bazillen derselben Krankheit in den Kaffee getan. Der bedeutende russische Arzt Aleksinskij* hielt das für möglich. Die Vorteile einer derartigen Vergiftung liegen auf der Hand: Bei einer Obduktion hätte man nichts gefunden außer Krankheitserregern, deren Zahl aber nicht zu bestimmen ist.

Aleksinskij fügte hinzu, daß die plötzliche Verschlechterung des Gesundheitszustands unerklärlich gewesen sei. „Dabei schrie der Kranke schrecklich, was bei einem starken Kräfteverfall einfach nicht möglich gewesen wäre. Er schrie, als hätte er irgend etwas geahnt.“

Wer aber streute die Bazillen in den Kaffee? Auch das hat man zu erklären versucht. Vrangel’ wurde von einem früheren Burschen, der über jeden Verdacht erhaben war, aufopferungsvoll betreut. Aber er erhielt Besuch von einem Verwandten aus der Sowjetunion, der von der Ausbildung her Feldscher war. Dieser Verwandte reiste sofort wieder zurück, was den Verdacht irgendwie verstärkte. Vrangel’s Familie, d.h. seine Mutter und seine Frau, war allerdings überzeugt, daß es keine Vergiftung war. Unter solchen Umständen ist es sehr schwer zu sagen, was wirklich passiert ist.

Da war auch noch General Kutepov,* der mit Vrangel’ im Streit lag, aber dem Großfürsten Nikolaj Nikolaevič nahestand. Und weil Kutepov an der Organisation des „Trust“ [8] beteiligt war, stand auch Nikolaj Nikolaevič dem „Trust“ wohlwollend gegenüber und empfing Jakušev* [eine der führenden Figuren in der Operation „Trust“ und OGPU-Agent – Anm. d. Hrsg.] in Paris. Teilweise ist hier der Grund dafür zu suchen, daß im Programm des „Trust“ für den Fall des Sturzes der Sowjetmacht vorgesehen wurde, den Großfürsten Nikolaj Nikolaevič zum obersten Herrscher Rußlands zu erheben. Man muß hinzufügen, daß diese Wahl nicht ganz unbegründet getroffen wurde. Der Erste Weltkrieg war noch nicht lange vorbei, und Großfürst Nikolaj Nikolaevič war in der russischen Armee unter den einfachen Soldaten sehr beliebt.

Jedoch erwies sich Vrangel’ in bezug auf Kutepov als Prophet. Er sagte ohne Umschweife: „Kutepov ist kein schlechter Militärführer, aber es fehlt ihm an Phantasie, und er wird in eine Sache hineingeraten, die alle Welt fassungslos machen wird.“

Tatsächlich wurde Kutepov am hellichten Tag in Paris gekidnappt. Er ging über die Straße. Ein Automobil hielt an, die Tür öffnete sich, und eine Dame lud den General ein, ihn zum Ziel zu bringen. Diese Dame war anscheinend die berühmte Sängerin Plevickaja,* die Kutepov gut kannte.

Drei Tage suchte Frankreich eine Dame im beigen Mantel, was recht naiv war, denn es war für sie ein leichtes, den Mantel zu wechseln. Andere Indizien gab es nicht. Darum wurde die Plevickaja nicht vor Gericht zur Rechenschaft gezogen. Das geschah erst Jahre später, als General Miller* entführt wurde, der damals die Militärunion leitete.

Von wem Miller entführt wurde, ist bis heute nicht bekannt. Vielleicht von den Deutschen, denn Miller, trotz seines deutschen Familiennamens, war fest davon überzeugt, man müsse sich an Großbritannien orientieren. Der Brief an Miller mit der Einladung zu einem geheimen Treffen war mit eindeutig deutschen Pseudonymen, die sogar scherzhaften Charakter hatten, unterschrieben. Eines davon lautete „Strohmann“. An das andere Pseudonym erinnere ich mich nicht, aber es war von ähnlicher Art.

Miller war natürlich in solchen Dingen sehr unerfahren. Zu dem geheimen Treffen ließ er sich nicht in einem gewissen Abstand von seinen Freunden begleiten - eine elementare Regel. Aber Miller hinterließ in der Kanzlei des ROVS einen Brief mit der Anweisung, ihn zu öffnen, falls er zu einer bestimmten Stunde nicht zurückgekehrt sei. In diesem Brief stand, daß General Skoblin* über das Treffen informiert sei. Dieser General hatte einmal zur Zeit des Bürgerkriegs das beste Regiment der Weißen Armee befehligt, das Kornilovsche, und war über jeden Verdacht erhaben. Aber er war der Mann der Plevickaja.

Millers Brief wurde in Anwesenheit mehrerer Leute laut vorgelesen. General Kusonskij* las ihn vor. Unter den Zuhörern war auch der Ehemann der Plevickaja. Nach der Nennung des Namens Skoblin suchten natürlich die Blicke aller Anwesenden den General. Aber er hatte sich bereits aus dem Staub gemacht. Alle stürmten die Treppe hinunter zum Ausgang hin, um ihn zu finden. Wie sich später herausstellte, war er aber nach oben geflüchtet, wo er zuvor ein konspiratives Zimmer vorbereitet hatte.

Nach französischem Recht kann eine Frau nicht wegen Nichtanzeige ihres Mannes zur Rechenschaft gezogen werden. Man klagte sie wegen Mittäterschaft an. Im Gerichtssaal spielten sich aufwühlende Szenen ab. Plevickaja saß auf der Anklagebank, Frau Miller auf der Zeugenbank. Diese bat die Plevickaja, mit der sie befreundet war, schluchzend zu bekennen, Plevickaja aber antwortete, ebenfalls unter Tränen, daß sie nichts wisse. Die Geschworenen waren sehr verärgert, daß am hellichten Tag Leute entführt werden, und verurteilten die Plevickaja zu zehn Jahren Gefängnishaft. Nach sechs Jahren starb sie im Gefängnis.




Deutschland


Ich erinnere mich nicht genau wann, aber ungefähr Ende 1922 stellte sich heraus, daß es in der Tschechei für mich nichts mehr zu tun gab. Gleichzeitig erwies sich, daß es ziemlich einfach war, nach Deutschland zu gelangen. Im damaligen Deutschland war es nicht Sache der Zentralregierung, Ausländern die Einreise zu erlauben, sondern der Länderregierungen.

Zudem muß man sich klar machen, daß das damalige Deutschland im Gegensatz zu seiner vorangegangenen Geschichte im Zeichen des Schmiergelds stand. Die deutsche Währung verfiel katastrophal. Alle Beamten hungerten. Der Hunger war allmächtig. Mein Verwalter in Wolhynien schickte mir meine Gelder in Dollars. Ich erfuhr, daß ein gewisser Russe aus Kiev, ein ehemaliger Oberst Klimenko,* in Berlin lebte, den Titel „Vereidigter Rat“ trug und russischen Emigranten seine Dienste anbot. Er schrieb mir, daß er mir und Maria Dmitrievna für zwei Dollar eine Einreiseerlaubnis nach Deutschland beschaffen könne.

Und so fuhren wir los. Unser Gepäck bestand aus einem riesigen Sack mit all unserer Habe, worin sich Kleidung mit Tellern und Gläsern vermischte. Ich erwähne das deshalb, weil dieser Sack unterwegs verschwand und ich ihn nur mit großer Mühe wieder ausfindig machen konnte. Der Beamte forderte, daß der Sack geöffnet wurde. Ich band ihn auf. Er steckte die Hand hinein. Er schrie auf und zog sie zurück: sie war blutüberströmt. Man hatte den Sack beim Transport hin- und her geworfen, die Gläser waren zerschlagen, er hatte sich die Hand verletzt und war natürlich empört. Ich entschuldigte mich und erklärte:

„Wir sind russische Flüchtlinge. Das ist unsere ganze Habe. Ich wußte nicht, daß meine Frau Gläser hineingesteckt hat, sonst hätte ich Sie gewarnt.“

Der Deutsche konnte sich nun ein Bild von unserer Lage machen, und der Vorfall war damit geklärt.



***

Klimenko lernte ich in Berlin kennen (unter welchem Namen er in Deutschland lebte, habe ich vergessen), als ich aus der Tschechei dorthin kam. Er erzählte mir erstaunliche Geschichten aus dem Kiev der Bürgerkriegszeit. Und er schimpfte auf Dragomirov,* der damals der oberste Leiter in Kiev gewesen war:

„Ich hämmerte damals die kleinrussische Truppe zusammen, denn ich spreche fließend Ukrainisch. Ich heiße nicht Klimenko, ich bin von rein deutschem Blut. Wie Sie selbst wissen, stellte damals die Führung der Freiwilligenarmee die Finanzierung solcher Verbände ein. Alle gingen zur Selbstversorgung über. Infolge dessen begann in Kiev der sogenannte „stille Pogrom“. Die militärischen Einheiten brachen in Häuser ein und verlangten von den Juden, sie zu ernähren. Das war es, was man „stillen Pogrom“ nannte. Aber da die Juden sich natürlich sehr fürchteten, schlugen sie Lärm mit Pfannen und Töpfen und schrien: „Rettet die und die Hausnummer!“ Auf diese Weise verwandelte sich der „stille Pogrom“ in einen „lauten Pogrom“.

Wie ich Klimenko, dem früheren Leiter der kleinrussischen Militärabteilung, so zuhörte, erinnerte ich mich an meinen Artikel „Folter durch Angst“. Darin hatte ich etwa folgendes geschrieben: „Werden die Juden die Bedeutung der erlebten Ereignisse verstehen? Davon hängt ihr und unser Schicksal ab. Mit dem Antisemitismus werden wir nicht weit kommen, aber mit der Sympathie zum Marxismus auch nicht.“

Dieser Artikel erzielte aufgrund seines Titels nicht die Wirkung, die ich erwünscht hatte. Nur Paustovskij verstand ihn richtig als Ausdruck des Mitgefühls mit denen, die der Folter durch Angst ausgesetzt waren. Die anderen beurteilten ihn als Sympathiebezeugung für die Pogrome.


***

Der frühere Klimenko erwies mir nicht nur Dienste bei der Visabeschaffung, sondern auch in anderer Hinsicht. Damals verlangte man in Deutschland von Ausländern schrecklich hohe Steuern. Auch hier mußte man den einen oder anderen Dollar opfern, um die Steuern auf ein erträgliches Maß zu senken. Das wurde auch getan. Und so geschah alles in Deutschland mit Schmiergeld. Daraus könnte man den Schluß ziehen, die Deutschen wären unehrlich geworden. Nein, ihre Ehrlichkeit zeigte sich nun gerade darin, daß sie für das erhaltene Schmiergeld ihre Versprechen akkurat erfüllten.

Wo durften wir uns niederlassen? In dem Städtchen Birkenwerder, bei Berlin. Dort fanden wir eine Hotel-Pension eines gewissen Hofmann, eines Deutschen in mittleren Jahren, ernsthaft und ehrenwert. Als er erfuhr, daß wir in Dollar bezahlten, berechnete er uns einen sehr günstigen Mietpreis. Dabei muß man berücksichtigen: Die deutsche Mark verfiel unaufhaltsam, darum wurde das Leben derer, die Dollar besaßen, mit jedem Tag billiger.

Ich fuhr häufig nach Berlin (eine Stunde Fahrt). Die Eisenbahn fuhr durch flaches, ebenes Land. Zwischen diesen Herbstfeldern ragten hier und da hohe Häuser hervor. Und fast wie in einer Halluzination schien mir, daß eine riesige Hand all diese riesigen Klötze ergriff, sie in Ruinen verwandelte und ihre Teile auf den Feldern zerstreute.

Manchmal fuhr ich zusammen mit dem Sohn unseres Hotelbesitzers nach Berlin. Wenn er wie ich aus dem Fenster blickte, war er immer schweigsam und traurig. Einmal fragte ich ihn:

„Warum sind Sie so traurig, mein Freund? Sie haben noch das ganze Leben vor sich.“

Er antwortete:

„Nein. Unser Leben wird kurz sein. Unsere Generation wird sterben. Erst die nach uns kommen, werden das wirkliche Leben sehen.“

Dieser junge Mann fühlte den zweiten Krieg voraus, den Deutschland verlieren sollte.


***

Einmal fand in Berlin eine Versammlung statt, an der fast nur russische Emigranten teilnahmen. Die Redner waren aus Sowjetrußland gekommen, und wir hörten ihnen mit großem Interesse zu. In jenen Zeiten war die Sowjetmacht noch nicht so grausam und schickte diese Leute bloß außer Landes. Unter ihnen befand sich Professor Il’in.* Er sprach sehr interessant, aber an den Inhalt seiner Rede erinnere ich mich nicht mehr. Dann trat Professor Berdjaev auf, der Philosoph. An seine Rede kann ich mich auch nicht mehr erinnern, wohl aber daran, wie er redete. Er muß an einer Nervenkrankheit gelitten haben: Immer wieder sprang seine Zunge plötzlich aus dem Mund. Er schob sie mit der Hand wieder an ihren Platz und setzte dann seine Rede fort.

Danach sprach ein Jude namens Bikerman.* An seinen Auftritt erinnere ich mich noch sehr gut:

„Man spricht viel über Judenpogrome in Rußland. Ja, es gab Pogrome, und das ist schrecklich. Aber wie hätte es sie denn nicht geben sollen nach dem, was geschehen war. Die Dynastie war zerstört, der Adel war vernichtet, die Geistlichkeit war abgeschafft, sowie der Kaufmannsstand und die Industriellenklasse. Man machte sich an die wohlhabenden Bauern, die Kulaken genannt wurden. Nun sind die mittleren Bauern an der Reihe, die armen aber scheucht man in die Kolchosen. Beachten Sie, daß alle diese Kategorien vorwiegend Russen betrafen, nicht Juden. Aber wie hätten denn ausgerechnet die Juden von Pogromen verschont bleiben können, wo doch ein einziger riesiger russischer Pogrom stattfand?“

Es war wohl das erste Mal, daß ein Jude solche Worte sprach. Seine Rede machte gewaltigen Eindruck auf die Zuhörer.


***

Ich erinnere mich, bin aber nicht sicher, daß zu jener Zeit in Berlin der Oberste Monarchische Rat [9] existierte, der aus Markov,* dem ehemaligen Staatsduma-Abgeordneten, Oldenburg jr. (der Vater war in der Sowjetunion geblieben), wohl auch Efimovskij* und noch irgend jemand bestand. Sie gaben, glaube ich, eine Zeitung heraus. Man bot ihnen irgendwelche dunklen, d.h. aus unbekannten Quellen stammende Unterstützungsgelder an. Ich erfuhr davon und auch, woher sie stammten, und schlug ihnen folgendes vor: Die Unterstützung nicht ablehnen, aber gleichzeitig ein Dokument mit den entsprechenden Unterschriften in den Safe legen. Darin sollte stehen, daß sie, obwohl sie wußten, woher die Gelder stammten, diese für die von ihnen verfolgten Ziele verwenden würden. Allerdings trafen die Gelder nicht ein, und so wurde auch kein Dokument im Safe hinterlegt.

Überhaupt war der Oberste Monarchische Rat eine aufgeblasene Sache. Er hatte wenig Einfluß auf die Monarchisten, von denen es in der Emigration nicht wenige gab. Außerdem war bekannt, daß Markov Vrangel’ bonapartistische Intentionen unterstellte und gegen ihn intrigierte. Aber das war Unsinn. Vrangel’ wollte zu keinem Zeitpunkt nach dem Thron greifen, denn das wäre lächerlich gewesen. Doch wenn das Lächerliche eingetreten wäre, hätte er gelacht und versucht, es in etwas Ernstes zu verwandeln. So liefen Markovs Intrigen ins Leere, aber insofern sie das Prestige des Generals untergruben, der die russische Armee im Ausland zusammenhielt, waren sie gleichwohl schädlich. Markovs ganzes Leben war so. Er unterstützte die Monarchie als Idee und entzweite zugleich die Monarchisten, die Träger dieser Idee.


***

Das Jahr 1923 kam heran. In Birkenwerder traf unerwartet „Oko“ („das Auge“) ein. Er hatte mir einst in der „Azbuka“ unterstanden und damals dieses Pseudonym getragen. Oberst Petr Tityč Samochvalov (denn um ihn handelte es sich) teilte mir eine sensationelle Neuigkeit mit: Man lud mich zu General von Lampe* ein, Vrangel’s Repräsentanten in Berlin. Auch er war einst Mitglied der „Azbuka“ gewesen - unter der Chiffre „Leute“ - und wir hatten dann gemeinsam in der Zeitung Rossija [10] gearbeitet, die in Ekaterinodar erschien. Er hatte zu mir beste Beziehungen unterhalten. Weiter teilte „das Auge“ mir mit: Derzeit hält sich General Klimovič* in Berlin auf, früher Leiter der Gendarmerie, jetzt bei Vrangel’ in Jugoslawien. Ich begab mich unverzüglich nach Berlin.

Bei Lampe waren wir zusammen mit dem Hausherrn vier Personen: von Lampe selbst, Klimovič, Senator Čebyšev* und ich. „Das Auge“ war bei dieser Unterredung nicht zugegen. Von Lampe erklärte, warum er uns eingeladen hatte:

„Ich erwarte ‚jemand von drüben‘.“

Der „jemand von drüben“ erschien pünktlich , und das war für ihn kennzeichnend. Es war Aleksandr Aleksandrovič Jakušev, früher Wirklicher Staatsrat, Ingenieur, Spezialist für Binnenwasserwege. Seine Rede begann er etwa folgendermaßen:

„Sie müssen mir natürlich nicht glauben. Aber dennoch wird es, denke ich, für Sie interessant sein, mich anzuhören. Denken Sie nicht, Rußland sei unter der Sowjetmacht gestorben. Es lebt, es denkt, es leidet, aber nicht passiv – es kämpft. Ich stehe an der Spitze einer Organisation, die das vorläufige Kennwort ‚Trust‘ trägt. Trusts sind bei uns überhaupt in Mode. Besonders populär ist der sogenannte TėŽė, d.h. der ‚Fettverarbeitende Trust’, hinter dem sich hochklassige Seife verbirgt, verschiedene raffinierte Damenartikel, darunter auch ein bestimmter Puder aus Paris. Dieser Puder wird als Schmuggelware eingeschleust, außerdem lieben die Schmuggler falsche Zähne, eine wertvolle und leichte Ware. Aber wir sind ein Trust ohne Spezifizierung. Es handelt sich um eine Untergrundorganisation, und sie ist stark und kühn. Natürlich wird Sie an erster Stelle unser Programm interessieren. Das ist sehr einfach. In der Agrarfrage ein blaues Papier für die Bauern, d.h. eine Kauf- oder Schenkungsurkunde über ein Stück Land. Mehr brauchen die Bauern nicht – sie wollen rechtmäßige Eigentümer der Erde sein, die ihnen ungesetzlich zugeteilt wurde. Wir sind überzeugt, daß bei einer Stärkung des privaten Kleineigentums die Agrarwirtschaft aufblühen wird, und mit ihr auch Rußland, denn das Agrarland ist seine Basis. Nun, wir werden selbstverständlich auch die Industrie fördern, besonders die staatliche, indem wir sie in der Hauptsache an die Bedürfnisse der Landwirtschaft anpassen. Was aber wollen wir der Intelligenz geben? Ein paar Rechte: Presse, Organisationen, Versammlungen usw. Ein wenig Freiheit, denn viel Freiheit ist schädlich, wie wir aus der Praxis der Staatsdumen gelernt haben. Wie wir uns die künftige Regierungsform denken? Vor allem soll sie nicht in Form einer Revolution entstehen, sondern in Form einer Palastrevolte und ohne blutige Grausamkeiten. Wenn dieser Umschwung stattfindet, würden wir einen starken und populären obersten Herrscher einsetzen wollen. Ein solcher bietet sich von selbst an. Seit dem Kriegsende ist noch nicht viel Zeit vergangen, und jeder ehemalige Soldat der russischen Armee erinnert sich an den Namen des Oberkommandierenden, des Großfürsten Nikolaj Nikolaevič. Ihn stellen wir uns als obersten Herrscher vor. Das ist alles.

Wenn Sie meine Worte überprüfen wollen, lade ich jemand von Ihnen oder andere in der Emigration bekannte Personen ein, heimlich die Sowjetunion zu besuchen. Ich kann keine hundertprozentige Sicherheit garantieren. Es wird eine gefährliche Sache werden. Aber wir werden für unsere Gäste tun, was wir können, und wir können einiges.“

Damit endete Jakušev. Soweit ich mich erinnere, wurden keine Fragen an ihn gerichtet. Er sprach mit Überzeugung, wie ein Mensch, der weiß, was er wert ist.

Lampe dankte ihm, und Jakušev ging. Nachdem er uns verlassen hatte, kam es zu einer Aussprache. Drei von uns, Lampe, Klimovič und ich, erklärten, daß wir Jakušev vertrauten. Aber Senator Čebyšev sagte:

„Ein Provokateur.“

Wer hatte recht? Alle. Jakušev war nach meiner Überzeugung, während er uns in Berlin besuchte, kein Provokateur. Aber er verwandelte sich in einen solchen, als er nach Moskau zurückkehrte. Wie das geschah? Ich will es erzählen.

Aber bevor wir auf Jakušev, den Provokateur, zu sprechen kommen, nehmen wir uns zunächst einmal sein „Programm“ vor.

Das blaue Papier. Bereits in der zweiten Staatsduma 1907 war in einer kurzen Rede eines wolhynischen Landmanns vom blauen Papier die Rede. Er sagte:

„Wir brauchen Land, daran ist nicht zu rütteln. Aber wir wollen niemandem Unrecht antun.“

Das blaue Papier diente der Verhinderung von „Unrecht“. Mit „Unrecht“ war gemeint, Land zu besetzen, gewaltsam einzunehmen. Ein gesetzliches Dokument in Händen zu haben, eine Kauf- oder Schenkungsurkunde, bedeutete, das Land ohne „Unrecht“ zu erhalten. So ein Dokument war Jakuševs blaues Papier.

Später, als ich Jakuševs Einladung annahm und in Vorbereitung auf die Einschleusung nach Sowjetrußland, mir in Wolhynien einen Bart wachsen ließ, kamen Bauern zu mir, die Nachbarn meines Gutes waren. Sie wußten nichts von dem Unternehmen, das ich plante, und suchten mich in persönlichen Angelegenheiten auf. Sie wollten bei mir irgendeine Heuwiese kaufen. Das bedeutete, daß sie ein blaues Papier haben wollten, ein gesetzliches Dokument. Ich sagte ihnen, daß ich ihnen die Wiese verkaufen würde, sobald ich das „blaue“ Papier beschaffen könnte. Als die Unterhandlungen beendet waren, fragten diese ehemaligen Soldaten der russischen Armee:

„Erlauben Sie die Frage, ist unser Herr, der Kaiser am Leben?“

„Nein.“

„Und der Großfürst Nikolaj Nikolaevič?“

„Ja.“

Sie verneigten sich sichtlich erfreut. Das war die Bestätigung für die zweite Behauptung des späteren Provokateurs Jakušev:

„Es gibt keinen russischen Soldaten, der sich nicht an den Namen des Oberkommandierenden, des Großfürsten Nikolaj Nikolaevič erinnern würde.“


***

Beginnen wir damit, wie der „Trust“ gegründet wurde. In einer der Metropolen gab es einen Beamten der vierten Klasse, seine Exzellenz Aleksandr Aleksandrovič Jakušev. Er hatte ein enges Spezialgebiet: die Binnenwasserwege. Ich weiß nicht, ob zu diesen Wasserverkehrswegen auch gehörte, was später aus ihnen hervorging, nämlich die staatlichen Wasserkraftwerke. Vielleicht. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte die Staatsduma dreißig Millionen [Rubel] in Gold für den Bau eines grandiosen Wasserkraftwerks in den Dnepr-Schwellen genehmigt. Der Krieg verhinderte die Ausführung des Projekts. Mag sein, daß Jakušev an dieser Sache beteiligt gewesen war. Jedenfalls hatte er weitreichende Pläne.

Von diesen Plänen erfuhr nun Trockij (Bronštejn). Derzeit weiß jeder, wer Trockij war, aber in der Zukunft kann es sein, daß man ihn vergißt oder seine Figur völlig entstellt.

Trockij war der engste Mitkämpfer Lenins und verfügte als solcher über große Macht. Er war äußerst ehrgeizig. Ich kannte einen Schüler des Chersoner Gymnasiums, das auch der junge Bronštejn besucht hatte. Er sagte mir:

„Trockij war bestimmt von extremem Machthunger. Wir verstanden das damals nicht. Aber wir verstanden, daß er immer und überall der Erste sein wollte. Der Erste sein wollen – das ist Trockij.“

Und obwohl Trockij Lenins Mitkämpfer war und sich ihm unterordnete, wenn es notwendig war, träumte er auch in dieser Position davon, der Erste zu sein, d.h. Lenin in die zweite Reihe zu verdrängen. Als er nach Brest geschickt wurde, weigerte er sich, den Friedensvertrag zu unterschreiben, und tat dies nur, als er von Lenin kategorisch dazu aufgefordert wurde.

Wie bekannt, entwickelte Trockij folgende Theorie: Man dürfe die Revolution nicht nur in einem Land machen, sondern es sei zwingend notwendig, sie gleichzeitig in der ganzen Welt zu machen. Warum? Weil die Revolution jedes Land vorübergehend schwächt. Daraus ergab sich eine mißliche Ungleichheit: das geschwächte revolutionäre Rußland und die starken Westmächte, die von der Revolution verschont blieben. Darum wollte Trockij in Rußland keine Revolution, als die Oktoberrevolution ihm einen Teil der Macht in die Hände gespielt hatte. Er ging auf den Weg der Evolution über. Damals, ich weiß nicht unter welchen Umständen, entdeckte er Jakušev und lud ihn zu sich ein.

Aber Jakušev erkannte die Sowjetmacht nicht an und weigerte sich, zu Trockij zu kommen. Letzterer erneuerte die Einladung, indem er sie ihm durch zwei Soldaten schickte. Man führte Jakušev zu ihm. Trockij empfing ihn mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit und bewirtete ihn mit einem üppigen Essen, das noch besser war als jede Liebenswürdigkeit. Und nach dem Essen sagte er zu seinem Gast:

„Aleksandr Aleksandrovič, wir wissen sehr gut, was Sie für einer sind. Sie sind ein russischer Nationalist.“

Jakušev stimmte zu.

„Nun also, wir wollen von Ihnen nichts weiter, bleiben Sie der, der Sie aus Überzeugung sind. Die alte russische Regierung gibt es nicht mehr, aber Rußland ist geblieben. Und jetzt sind wir es, die regieren. Unser Standpunkt ist: Alles, was nützlich für Rußland ist, ist günstig für uns, denn wir brauchen ein starkes Rußland, stark in jeder Hinsicht. Sogar an der schmalen Front der Binnenwasserwege. Wahrscheinlich hatten Sie große Pläne an dieser schmalen Front. Und haben sie der Zarenregierung unterbreitet. Aber man hat Ihnen geantwortet: Das ist ausgezeichnet, aber es hat keine Eile, und wir haben kein Geld dafür.“

Jakušev bestätigte, daß es sich tatsächlich so verhalten hatte.

„Nun also, Aleksandr Aleksandrovič, ganz gleich, wie arm wir jetzt sind, für die Verwirklichung Ihrer Pläne werden sich Gelder finden. Machen Sie sich an die Arbeit.“

So ging Jakušev Trockij an die Angel, dem „schlauen Juden“, wie Jakušev ihn später nannte, der Jakuševs Leidenschaft für sein Metier geschickt auszunutzen wußte.

Kurz gesagt, Jakušev war einverstanden und begann zu arbeiten. Er arbeitete offenbar gut und mit großer Energie, denn man schickte ihn ins Ausland, um Informationen zu sammeln, was dort so auf seinem Spezialgebiet gemacht wurde. Als er zurückkehrte, konfrontierte man ihn mit irgendwelchen Anschuldigungen und nahm man ihn fest.

Damals hat man Jakušev gebrochen. Er stellte sich den Čekisten zur Verfügung, allerdings mit einem Vorbehalt: Er wollte nicht gegen sowjetische Bürger eingesetzt werden, sondern nur gegen Ausländer und gegen die russische Emigration, die ihn im Stich gelassen hatte.



Die Reise nach Sowjetrußland


Nach dem Zusammentreffen mit Jakušev in Berlin waren zwei Jahre vergangen. Ich hatte ihn seitdem nicht wiedergesehen. Doch General Klimovič, der sich bei Vrangel’ befand, stellte eine Verbindung zu Jakušev her.

Vrangel’ traute dem „Trust“ nicht, untersagte Klimovič aber nicht den Umgang mit dessen Leuten. Die Verbindung war bereits von einiger Dauer, und ich dachte, daß es Zeit war, mit Hilfe Klimovičs und des „Trusts“ meinen Sohn zu finden. Dank Anželina wußte ich, daß er sich in einem Irrenhaus in Vinnica befand.

Ich sagte Klimovič, daß ich auf die Einladung zurückkommen wolle, die Jakušev in Berlin ausgesprochen hatte. Klimovič willigte ein, mir zu helfen, und fragte bei Jakušev an, ob sie [seine Freunde – Anm. d. Hrsg.] bereit wären, mich zu empfangen. Die Antwort war positiv und trug den Zusatz: „Wir werden tun, was wir können.“

Bei dem entscheidenden Gespräch fragte ich Klimovič, wie er das Risiko einer solchen Reise einschätze. Er sagte:

„Die Wahrscheinlichkeit, daß Sie zurückkommen, beträgt sechzig Prozent.“

Ich antwortete:

„Die vierzig Prozent Risiko gehe ich ein.“

Damit war die Entscheidung gefallen.


***

Es versteht sich, daß wir uns auf die Operation höchst konspirativ vorbereiteten. Aber Vrangel’ weihte ich doch ein. Und plötzlich begann man darüber zu reden. Die undichte Stelle war Vrangel’s Adjutant. Ich ging zu Petr Nikolaevič und sagte zu ihm:

„Petr Nikolaevič, ich habe es mir anders überlegt. Ich fahre doch nicht nach Sowjetrußland, sondern nach Polen. In Polen lebt Maša, die Amme meines Sohnes, sie heißt Bojčenko,* [11] und sie wird ihrem Namen völlig gerecht. Sie wird sich nach Sowjetrußland durchschlagen und alles herausfinden.“

Endlich war der Tag meiner Abreise gekommen. [12] Da allen bekannt war, daß ich für lange Zeit nach Polen reisen und nicht so bald zurückkehren würde, erschien – ob nun aus diesem Grund oder einem anderen – fast die gesamte russische Kolonie mit Vrangel’ an der Spitze auf dem Bahnhof, um mir das Geleit zu geben. Die jungen Schwestern Kolčin, mit denen wir eng befreundet waren, paßten den Moment ab, entführten mich hinter das Pumpenhaus und legten mir ein Band mit einem kleinen Kreuz um den Hals.

Die Sache war klar. Sie wußten es oder ahnten doch etwas. Ich war gerührt über ihre Fürsorge und zugleich alarmiert. Wenn diese Mädchen es wußten, dann wußten es alle.

In Warschau empfing mich Wacław Cezarevič Kamin’skij,* den ich informiert hatte. Er war Pole, aber mit einer Russin verheiratet: Marija Dmitrievna Bilimovič, deren Bruder Aleksandr Dmitrievič der Mann meiner Schwester Alla Vital’evna* war.

Ich mußte nun dringend mein Äußeres verändern. Das ließ sich am besten bei Kamin’skij bewerkstelligen. Er lebte damals in Rovno und lud mich zu sich ein. Ihm eröffnete ich meine Pläne. Er war sehr beunruhigt,

lief aber noch in Warschau überall hin, wo es nötig war. Ich sagte zu ihm:

„Übermitteln Sie dort, daß es für mich am günstigsten wäre, wenn man mich für eine Weile in Polen ins Gefängnis setzen würde. Dort könnte ich spurlos verschwinden, bis ich mir einen Bart wachsen ließe und unkenntlich wieder herauskäme.“

Aber die Polen waren nicht einverstanden und beruhigten Wacław Cezarevič, daß ihnen alles bekannt wäre und sie mitspielen würden.


***

So fuhren wir denn nach Rovno, wo uns Marija Dmitrievna herzlich empfing. Man verwöhnte mich sehr, und Marija Dmitrievna gab mir Bücher zu lesen, für die sie sich begeisterte. Hier erfuhr ich zum ersten Mal von den Lehren hinduistischer Yogis, vor allem von Ramacharaki. Ich studierte ziemlich gründlich das „Hatha-Yoga“, d.h. die Lehre von der Gesundheit, und begann, nach diesen Regeln zu leben. Darauf führe ich meine Langlebigkeit zurück.

In dem Buch Die Weltanschauung der hinduistischen Yogi las ich in etwa folgendes: „Die höchste Tugend ist die Gerechtigkeit.“ Dies wurde im Buch auf eine Weise erläutert, die auf mich einen tiefen Eindruck machte. Und ich beschloß, auf meiner Reise durch das Land der Sowjets, d.h. der Marxisten, deren Lehre für mich unannehmbar war, gerecht zu beurteilen, was ich sehen würde. Ich versuchte frei von vorgefaßten Meinungen nach Rußland zu gehen. Mir scheint, daß mir das bis zu einem gewissen Grad gelungen ist.


***

Ich lief jeden Tag mindestens zehn Kilometer zu Fuß, um mich für den Grenzübertritt zu trainieren.

Schließlich kam die Nachricht, daß ich nach Warschau reisen sollte, wo der „Trust“ einen Kontaktmann hatte. Ihm war aufgetragen worden, mir bei meinem Übergang über die polnisch-sowjetische Grenze behilflich zu sein. Er hatte eine prachtvolle Wohnung, ich weiß nicht, wovon sie bezahlt wurde... Ich wohnte in Warschau bei Kamin’skij, der ebenfalls eine Wohnung hatte, sich aber häufig bei Lipskij,* dem Trust-Kontaktmann, aufhielt. Letzterer hatte eine schöne junge Frau. Die beiden waren Leute von Welt und wußten ihre wahre Beziehung zueinander zu verbergen. Aber ich sah den finsteren Haß, der sich hinter der äußeren Höflichkeit versteckte. Darum glaubte ich es, als man mir später erzählte, daß sie die Ursache allen Unheils war, das den „Trust“ traf.

Die Sache verhielt sich so: Als man Jakušev wegen seines großen Einsatzes für die Binnenwasserwege ins Ausland schickte, damit er sich umsah, was sich dort auf diesem Gebiet tat, bat irgendeine Moskauerin ihn, ihrem Sohn in Warschau einen Brief zu übergeben. Der Brief war privater Natur, ganz harmlos. Aber als er zu Lipskij kam und ihm den Brief übergab, da sagte er das eine oder andere Überflüssige über den „Trust“: Es sei eine Untergrundorganisation, die gegen die Sowjetmacht kämpfe. Das hörten beide Gatten.

Lipskij berichtete seinem Freund Ščelkačev,* der in Riga lebte, über den Besuch „von drüben“. Ščelkačev, ein ehemaliger Offizier, hatte bei mir in der „Azbuka“ gearbeitet. Er berichtete das Gehörte dem „Azbuka“-Mann „das Auge“ (dem Oberst P. T. Samochvalov), und „das Auge“ wiederum erzählte es Klimovič. Das war der Grund, warum Klimovič nach Berlin fuhr, mich durch „das Auge“ zu Lampe bestellte und wir, durch Čebyšev verstärkt, Jakušev empfingen und anhörten.

Als aber Jakušev nach Moskau zurückkehrte, nahm man ihn fest und zeigte ihm das Faksimile eines Briefes von Lipskij an Ščelkačev. Wie es zu Dzeržinskij gelangte? Man hatte anfangs vor allem „das Auge“ im Verdacht, dann hieß es, Lipskijs Frau, die ihren Mann haßte, hätte das eingefädelt. Da erinnerte ich mich an diesen Haß, den ich hinter ihrer Höflichkeit entdeckt hatte.


***

Die eineinhalb Monate, die ich in Sowjetrußland verbrachte, sind in meinem Buch Drei Hauptstädte beschrieben. Hier möchte ich nur hinzufügen, was dort nicht steht. Nachdem so viele Jahre vergangen sind, ist einiges klar geworden, was früher unverständlich war. Außerdem können einige Details präzisiert werden.

Ich überquerte die Grenze Ende 1925, kurz vor Weihnachten, unweit der Bahnstation Stolpy in Richtung Minsk. Übrigens schrieb ein früherer Militär aus der Emigration, als er Drei Hauptstädte las: „Wie unvorsichtig Šu’lgin ist. Aus seinem Geschreibe geht klar hervor, daß er die Grenze in Finnland überschritt.“

Als wir die Grenze überquert hatten, fuhren wir durch dichte Wälder Richtung Minsk, wobei wir pro Nacht siebzig Kilometer zurücklegten. Wir machten einen Umweg, um das Städtchen zu meiden, wo die Čekisten saßen. Heute stellt man die Sache so dar, als wäre auch das eine Komödie gewesen. Aber das ist falsch. Der wahre Charakter des „Trust“ war nur wenigen Čekisten bekannt. Und darum war das Umgehen des Städtchens absolut notwendig. Noch weniger wußten die Čekisten in Minsk, wo wir schließlich eintrafen.


***

Der Beweggrund, der mich 1925/26 nach Rußland trieb, war der Wunsch, meinen kranken Sohn zu finden und in die Emigration zu holen. Klimovič verstand das sehr gut. Aber als er mich verabschiedete, sagte er:

„Wenn Sie schon einmal da sind, überprüfen Sie doch einmal den ‚Trust‘.“

Ich überprüfte den „Trust“, soweit ich konnte, und suchte mit seiner Hilfe meinen Sohn. Nach Vinnica ließ man mich nicht hinein, weil man einen Skandal befürchtete, wenn er mich erkennen würde. Man schickte irgend jemand anderes nach Vinnica. Er kehrte zurück und berichtete, daß mein Sohn dort nicht aufzufinden gewesen sei. Da schickte man einen zweiten Mann, der geschickter war. Auch dieser konnte jedoch nichts Neues in Erfahrung bringen. Vielleicht schickte Jakušev überhaupt niemanden los, weil er glaubte, daß man einen Irren nicht außer Landes bringen kann. Aber es kann sich auch anders verhalten haben. Die Kundschafter wurden im Januar 1926 ausgeschickt. Nach neuesten Erkenntnissen starb mein Sohn Ende 1925, und man konnte ihn dort gar nicht mehr finden.


***

Ich überquerte die Grenze an einer anderen Stelle, wiederum nach Polen, und fuhr nach Warschau, um mich bei Kamin’skijs zu zeigen. Dann brach ich nach Jugoslawien auf.

Beim Empfang sagte Vrangel’:

„Erstaunlich! Sie leben noch?“

„Ich lebe noch.“

Ich erzählte ihm in Kürze von meinen Abenteuern. Er hörte sehr aufmerksam und fröhlich zu, faßte aber trotz allem kein Zutrauen zum „Trust“ und sagte zu dem bei unserem Gespräch anwesenden Klimovič:

„Schreiben Sie ihnen einen höflichen Brief in Ihrem Namen. Danken Sie ihnen für Šul’gin. Aber ich behalte mir vorläufig meine Meinung vor. Das Weitere wird man sehen.“


***

Viele, viele Jahre später verhörte mich einmal der Čeka-Oberst Kin.* Er fragte mich, warum ich mich von einem bestimmten Zeitpunkt an in der Emigration von der Politik ferngehalten hätte. Ich sagte:

„Weil man mich für dumm verkauft hat. Nachdem ich einen solchen Skandal hervorgerufen hatte, hatte ich den Eindruck, daß ich für die Politik nicht mehr tauge.“

Kin lächelte und sagte:

„Und ganz zu unrecht. Natürlich drangen wir später in den ‚Trust‘ ein und liquidierten ihn mittels der Provokation. Aber als Sie mit Jakušev sprachen, war der ‚Trust‘ ein ‚ehrlicher‘ Verein. Außerdem war die Organisation sehr stark und kühn. Jakušev hatte offenbar Verbindungen nach Polen, aber auch nach England, genauer gesagt zum ‚Intelligence Service‘.“

Außerdem behielt Jakušev, auch als er zum Provokateur wurde, seine alten Sympathien bei! Das fühlte ich während der gesamten Zeit meines Aufenthalts in der Sowjetunion. Besonders vor der Abreise. Jakušev schlug mir vor, wenn ich in die Emigration zurückkehre, meine Abenteuer in der Sowjetunion niederzuschreiben. Ich antwortete anfangs mit einer entschiedenen Absage:

„Ich würde dort in der Freiheit die Wahrheit schreiben, weil es keinen Sinn hat, die Unwahrheit zu schreiben, und man würde euch hier nach meinem Bericht festnehmen.“

Er war sehr enttäuscht über meine Weigerung. Dann sagte ich:

„Können wir es nicht so regeln? Ich werde mein Buch schreiben und Ihnen in Teilen zur Durchsicht schicken. Alles, was Sie als gefährlich einschätzen, streichen Sie mit roter Tinte durch und schicken es zurück. Ich werde mich Ihrer Zensur völlig unterwerfen.“

Er dachte nach und sagte:

„Das ist machbar.“

Und so wurde es auch gemacht. Alles, was in der Emigration unter dem Titel Drei Hauptstädte erschien, ist von Jakušev durchgesehen worden. Mit roter Tinte durchgestrichen hatte er nur eine einzige Zeile, die ohne Bedeutung war.

Aber später erfuhr ich, daß Jakušev gar nicht der wirkliche Zensor war. Der eigentliche Zensor war Feliks Dzeržinskij gewesen. Als ich in Rußland war, wußte ich das nicht. Ich wußte nicht, daß Jakušev bereits mit den Čekisten zusammenarbeitete. Das erfuhren wir alle erst etwas später. Daß aber der oberste Čekist ihn persönlich in der Hand hatte, erfuhr ich zuverlässig aus dem Buch von Lev Nikulin* Mertvaja zyb‘ [Die Flaute], das 1966 herauskam. Aus diesem Buch geht hervor, daß Jakušev Dzeržinskij viertausend Berichte geliefert hat.

Warum aber ließ Dzeržinskij den Text Drei Hauptstädte durchgehen, in dem unter anderem eine scharfe Kritik an Lenin enthalten ist? Dzeržinskij hätte es bloß die rote Tinte gekostet und die Stellen wären nicht gedruckt worden. Ich erhielt aber von Jakušev nur einen Brief, in dem stand: „Weniger Ideologie.“ Dieser Brief erreichte mich zu spät, zu diesem Zeitpunkt waren Drei Hauptstädte bereits im Satz und es war zudem völlig unklar, worauf sich dieser Satz bezog. Ideologisch war alles im Text.

Aber warum ließ Dzeržinskij mich nicht nur aus Sowjetrußland ausreisen, obwohl er mich hätte festnehmen können, sondern beließ auch den Text von Drei Hauptstädten, wie er war? Weil dieser Text aus Dzeržinskijs Sicht vorteilhaft war. Sieht man einmal von den Fragen, die mit der Provokation zusammenhängen, ab, bleibt eines übrig: Die Drei Hauptstädte waren eine Rechtfertigung der von vielen Kommunisten verurteilten Leninschen NĖP-Politik. Auch dafür gibt es einen überzeugenden Beweis.

Das Buch Drei Hauptstädte wurde ins Französische übersetzt und in Paris herausgegeben. Aber der Titel wurde geändert, weil Drei Hauptstädte auf Französisch nicht gut klingt. Wie konnte man das Buch statt dessen nennen? „Die Wiedergeburt Rußlands“. Und so behauptet Šul’gin, der eigentlich antisowjetisch gesinnt ist, daß Rußland erneuert wird und dies dank der NĖP, der letzten Erfindung des verstorbenen Lenin. Europa dies zu soufflieren wurde für wichtig gehalten. Darum verzichtete Dzeržinskij auf rote Tinte...



Frankreich


... Ich beschloß, nach Frankreich zu fahren, wohin mich Maklakov* rief. Für die Reise brauchte ich die Hilfe des ehemaligen Klimenko. Damals ließ man aus Deutschland nur diejenigen ausreisen, die alle Steuern bezahlt hatten. Wieder waren die Steuern unbezahlbar. Klimenko half, sie auf ein vernünftiges Maß zu kürzen, und ich erhielt das gelbe Papier, d.h. die Genehmigung zur Ausreise.

Aber hier ergaben sich sogleich neue Komplikationen. Der westliche Teil Deutschlands war damals von den Franzosen besetzt. Der Übergang war nahe bei Frankfurt am Main. Ich quartierte mich dort ein und lebte ziemlich lange in dem französisch besetzten Gebiet. Den Namen des Städtchens habe ich vergessen. In der Umgebung gab es herrliche Eichenwälder und in der Stadt mineralhaltige Quellen, und ich nahm mit Vergnügen Bäder. Ich schrieb dort auch etwas auf einer gräßlichen Schreibmaschine, die ich in Berlin für sechzehn Dollar billig gekauft hatte. Sehr bald fielen die Buchstaben von den Hebeln ab. Ich band sie mit Zwirn wieder an, sie lösten sich wieder – es war die reinste Tortur. Später in Paris ließ ich sie bei Maklakov in der russischen Botschaft, wo sie dann gestohlen wurde. Maklakov schrieb mir einen Brief, in dem er vorschlug, den Verlust zu bezahlen. Ich antwortete, daß ich darauf verzichten würde, und fügte hinzu: „Ich danke Ihnen und dem Dieb, daß Sie mich von diesem Schrott befreit haben.“


***

Ich kaufte eine Fahrkarte dritter Klasse nach Paris für eine halbe Million Deutsche Mark, was einer Summe von einigen wenigen Dollar entsprach. Aber es stand mir noch bevor, die französische Zone zu durchqueren. Durch die Zonengrenze fuhren keine Züge. Auf der Fahrbahn der Chaussee stand ein Tisch, dahinter ein französischer Offizier. Ich erklärte ihm, daß ich ein russischer Emigrant sei und daß mich „Malakov“ eingeladen habe. (So hatten die Franzosen Maklakovs Nachnamen an den ihnen bekannten Malachov-Grabhügel in Sevastopol’ angeglichen.) Er sei der Botschafter der früheren russischen Regierung in Paris. Man ließ mich durch.

Danach ging alles glatt. Ein Zug brachte mich von der französischen Grenze direkt nach Frankreich, nach Paris.

Und so war ich also in Paris. Taxi. Ich sagte dem Chauffeur:

„Six rue Grenelle.“

Der Chauffeur antwortete mir auf Russisch:

„Also zu Maklakov.“

Maklakov empfing mich überaus freundlich ebenso wie seine Schwester Marija Alekseevna.* Sie war eine höchst energische Frau. Sie unterhielt ein russisches Gymnasium in Paris, das nicht mit Geldern der Botschaft, sondern aus Summen bezahlt wurde, die bei Wohltätigkeitsaufführungen gesammelt wurden. Als Frau des Botschafters (für die man sie hielt) empfing man sie überall, sie überreichte jeweils persönlich die Eintrittskarten und erbettelte so das Geld.


***

Vasilij Alekseevič Maklakov war 1917 vor dem „Großen Oktober“ von der Provisorischen Regierung als Botschafter nach Paris geschickt worden. Gleichzeitig war Stachovič* zum Botschafter in Spanien ernannt worden. Was Maklakov betrifft, hätte es keine bessere Wahl geben können. Er beherrschte das Französische wie seine Muttersprache. Das ist ungewöhnlich. Denn in der Regel beherrschten bei uns nur die Aristokraten das Französische so gut. Vasilij Alekseevič leitete seinen Namen aber vom Wort „maklak“ [Trödler, Händler] ab und sagte von sich: „Ich bin ein Herumtreiber.“

Außerdem war er außerordentlich klug, fröhlich, sehr charmant, geistreich und ein glänzender Gesprächspartner. Die Hauptsache aber – er war ein hervorragender Redner. In der Staatsduma nannte man ihn „Goldmund“ und „Sirene“. Wenn Vasilij Alekseevič sprach, dann wollte ihm selbst jemand, der überhaupt nicht einverstanden war, am liebsten zustimmen. In dieser Beziehung war er das direkte Gegenteil von Markov dem Zweiten. Wenn der sprach, hatte manchmal nicht einmal ich Lust, ihm zuzustimmen. Aber zuweilen sagte er auch kluge Dinge. Einmal sprach Markov von der Duma-Tribüne aus und sagte:

„Sie, Vasilij Alekseevič Maklakov, denken, daß der russische Zug, der mit Volldampf dahinjagt, an der Station ‚Konstitution’ anhalten wird. Aber Sie täuschen sich, mein lieber Vasilij Alekseevič. Der Zug wird an der Station ‚Konstitution’ vorbeirasen und weiterfahren zur Station ‚Revolution’. Und dort auf einem toten Gleisende zerschellen.“

An dieser Stelle konnte ich ihm nur Recht geben.


***

Maklakov hatte an zwei Fakultäten ein Studium absolviert: an der juristischen und der philologischen. Aber das war unwichtig. Seine Bildung war viel breiter. In der Staatsduma war er in der Partei der K.-D. [Konstitutionelle Demokraten], gehörte zum rechten Flügel ihrer Fraktion. Miljukov gehörte zu ihrem linken Flügel. Zwischen ihnen gab es immer heftige Auseinandersetzungen.

Maklakov war klüger, aber Miljukov fleißiger und unbeugsamer. Er war es, der die „Kadetten“ in der Duma anführte. K.-D. bedeutete Konstitutionell-Demokratische Partei, genannt „Kadetten“. Maklakov war aufrichtig für die Konstitution. Miljukov wollte die Demokratie durchsetzen. Aber welche Demokratie? Doch wohl eine in den Grenzen des Gesetzes. Miljukov war kein Revolutionär, half den Revolutionären aber häufig, ohne die Folgen seines Handelns zu bedenken. Im Endeffekt, als der Zar abdankte und dessen Bruder Michail Aleksandrovič schwankte, ob er den Thron besteigen solle oder nicht, flehte ihn Miljukov an, dies zu tun. Er sagte:

„Die Monarchie ist die Achse Rußlands. Ohne Monarchie wird es kein Rußland geben.“

Viel zu spät hatte er das verstanden.


***

Aber ich wollte von Maklakov erzählen. Er war ein geselliger Mensch und plauderte gern mit den Mitgliedern anderer Parteien. Er war immer für die Milderung der politischen Sitten, für Toleranz. Ich erinnere mich an etwas, was vielleicht kein anderer weiß, da Maklakov nicht mehr am Leben ist.

Es gab in der Duma „große Tage“ und es gab „lausige Tage“. Der Tag, an den ich mich erinnere, war ein solcher „lausiger Tag“. Puriškevič* verursachte einen Skandal, Markov der Zweite wurde grob. So sah es auf der rechten Seite aus. Auf der linken schrien sich Bulat* und andere heiser. Ich verließ den Tagungssaal, mir war alles zuwider, und ich ging in den Katherinensaal, wo niemand war. Ich dachte mir: Eine Schaubude lockt Leute an und manchmal lassen sie sich mitreißen.

Im selben Moment kam auch Maklakov aus dem Tagungssaal heraus und schimpfte: „Saustall!“

Dann, als er mich sah, trat er heran und sagte:

„Wissen Sie ein Mittel, um diesen Zirkus zu beenden, uns zu veredeln, zu erheben und zu einen?“

Ich antwortete:

„Nein, ich weiß keins.“

Danach gingen wir beide schweigend durch den Saal. Schließlich blieb er stehen und sagte, nachdem er sich überzeugt hatte, daß niemand zuhörte:

„Aber ich weiß eins.“

Er machte eine Pause und sagte dann ganz ruhig:

„Ein Krieg mit Deutschland.“

Zu diesem Zeitpunkt war der Lärm im Tagungssaal verstummt, weil eine Pause angesetzt worden war. Die Abgeordneten strömten in den Katherinensaal, manche rauchten, viele unterhielten sich, wieder andere wurden von Korrespondenten umringt. Mit einem Wort: das übliche Leben der „Couloirs“. Zwischen den Säulen versammelte sich eine Gruppe von Abgeordneten um Markov den Zweiten. Er überragte alle und schwang große Reden. Maklakov und ich traten hinzu und hörten zu. Markov sprach über die Freimaurer. Er entlarvte ihre Machenschaften, ob zu Recht oder nicht, das weiß ich nicht, und nannte einige Freimaurer mit Namen. Dann machte er eine Pause. Maklakov nutzte sie und sagte:

„Dann, Nikolaj Evgen’evič, müssen Sie auch mich zu den Freimaurern zählen.“

Markov antwortete sofort, diesmal ruhig und höflich:

„Ja, Vasilij Alekseevič, Sie sind ein Freimaurer.“

Und nach einer Pause fügte er hinzu:

„Und zwar mit einem hohen Grad.“

Maklakov lachte laut auf, wie um zu zeigen, daß diese Behauptung zum Lachen sei, widersprach aber nicht.

Ich beachtete nicht weiter, was Markov zu Maklakov gesagt hatte. Und schrieb sogar später irgendwo: „Es ist mir bis heute nicht gelungen, einen Freimaurer am Schwanzende zu erwischen.“ Dann erwischte ich einen, und nicht nur am Schwanzende, sondern sogar am Halsband.

In jenen Tagen machte auf mich einen gewaltigen Eindruck, daß der kluge und friedliebende Maklakov Krieg wollte. Das widersprach völlig meinen eigenen Gedanken. Ich bewertete den langen Frieden zwischen Rußland und Deutschland sehr hoch. Außerdem schätzte ich etwas ungemein, was andere in Rage brachte: die Rolle der Deutschen in Rußland. Das hatte mich das Jahr 1905 gelehrt. Alle Deutschen standen für die angestammte Ordnung, und damals entstand das erstaunliche Sprichwort: „Die Deutschen sind die letzten Russen.“


***

Nach dem verlorenen Krieg gegen Japan und vielen Kämpfen mit allen möglichen destruktiven Elementen, mit den zahllosen Auswüchsen des Wahnsinns, war die russische Regierung sehr geschwächt. Ich erinnere mich an ein Beispiel. Die Petersburger Telegraphenagentur übersandte gleichzeitig zwei Telegramme. Das erste lautete: „Im Kaukasus sind die Ozurgeter [13] in den Aufstand getreten und haben die Unabhängigkeit erklärt.“ Sie trennten sich von Rußland, dessen Bevölkerung 1905 mehr als 130 Millionen Einwohner betrug. Das zweite Telegramm war noch erstaunlicher: „Die jüngeren Tänzerinnen der kaiserlichen Theater in St. Petersburg stellten politische und ökonomische Forderungen und traten in den Streik.“


***

Zu dieser Zeit hätte Wilhelm II. über Rußland herfallen können, ohne großen Widerstand erwarten zu müssen. Er hatte es nicht getan und dies nie vergessen. Und seine Gefühle Rußland gegenüber wurden, sozusagen, immer gereizter, als er keinerlei Zeichen von Dankbarkeit entdecken konnte.

Zwar hatte es, als Wilhelm II. in die russischen Gewässer kam, auf einem russischen Schiff einen Gedankenaustausch zwischen Willi und Niki gegeben. Die Kaiser waren „per du“. Danach annullierte Rußland seine Verträge mit England und Frankreich und schloß einen Vertrag mit Deutschland ab. Der deutsche Kaiser fuhr auf seinem Schiff davon und kabelte: „Der Admiral des Atlantischen Ozeans grüßt den Admiral des Stillen Ozeans.“ Der russische Kaiser antwortete: „Gute Reise.“

Kurze Zeit später aber machte der russische Kaiser die Vereinbarung mit Deutschland rückgängig und erneuerte das Bündnis mit Frankreich und England. Man kann sich die Gefühle Wilhelms II. vorstellen, der ja ein sehr unbeherrschter Mensch war.

Angesichts all dieser Umstände erschien mir der Gedanke, einen Krieg mit Deutschland zu wünschen, als völlig abwegig. Als der Krieg jedoch tatsächlich ausbrach, verwandelte sich Rußland, das nichts begriffen hatte. Mit dem „Saustall“ war es vorbei. Wir erhoben uns, veredelten und vereinten uns.

Im Winterpalast bedrängte eine Menge von Abgeordneten den Zaren und schrie:

„Führe uns, Herrscher!“

Maklakov erwies sich als Prophet.

Ich allerdings wurde damals nicht vom allgemeinen Enthusiasmus angesteckt. Ich blieb kalt und traurig. Und statt Brandartikel im Kievljanin [Der Kiever] zu schreiben, fuhr ich an die Front und trat in das 166. Infanterieregiment „Rovnenskij“ ein. Am folgenden Tag wurde ich verwundet, mußte mich zwei Monate lang auskurieren und wurde dann auf Befehl des Generals Radko-Dmitrievič* zur JuZOZO [Jugo-Zapadnoe ob’edinenie zemskich organizacij = Südwestliche Vereinigung der Zemstvo-Organisationen] [14] abkommandiert, wo ich neun Monate arbeitete, bis die Staatsduma einberufen wurde.

Ich überzeugte mich, daß der Krieg gegen Deutschland genau, wie Maklakov es vorhergesehen hatte, eine Aufputschdroge für Rußland war, aber nur für eine kurze Frist. Nach einem Jahr war der Enthusiasmus verflogen – der Krieg erwies sich als extrem hart. Man mußte ihn unbedingt siegreich beenden, was sehr schwierig war, und die Frage erhob sich nun in ihrer vollen Bedeutung: Warum hatten die Freimaurer den Krieg gewollt?[+]


***

Mit großem Interesse nahm ich darum die Einladung Maklakovs an, sein Gast in der Botschaft zu sein, d.h. den Freimaurer höchsten Grades aus nächster Nähe zu erleben.

Maklakov – oder wie ihn die Franzosen jetzt nannten, Malakov – in Paris und Maklakov in St. Petersburg: das waren zwei völlig verschiedene Menschen. „Jede Stadt hat ihre Sitten, jedes Dorf seinen Brauch“, heißt es. Ich erlebte Maklakov auch auf dem Dorf, nach der Augustkonferenz 1917, auf der er, so sagt man, eine herausragende Rede gehalten hatte, aber ich hatte sie verschlafen. Ich mußte unbedingt schlafen, weil ich nach ihm an der Reihe war. Rodzjanko, Maklakov und ich traten nacheinander auf. Aleksej Nikolaevič Tolstoj schrieb darüber in der Zeitung etwa folgendes: drei Meister des Wortes, ausdrucksvolle Reden und eine noch ausdrucksvollere Kunst subtiler Gestik. Und noch mehr in dieser Art.

Maklakov war ein Arztsohn. Sein Vater muß ein Gut erworben haben, nicht groß, 25 Werst [15] von Moskau entfernt. Auf Einladung von Vasilij Alekseevič war ich auf dieses Gut gefahren. Ein zweistöckiges Holzhaus inmitten alter Tannen. Natürlich war es kein „Adelsnest“, aber hat denn nur der Adel Nester? Nur der Kuckuck hat kein Nest. Aber Marija Alekseevna, die ich damals zum ersten Mal sah, war kein Kuckuck. Im Gegenteil, sie war seine Familie. Sie hatten zwar noch einen Bruder (N. A. Maklakov*). Aber der war Innenminister und vertrat völlig andere Ansichten als Vasilij Alekseevič.

Über die Innenausstattung des Maklakovschen Hauses gibt es nicht viel zu berichten. Ein abgewetzter Lederdiwan, ein Samowar. Trotzdem hatte ich den Eindruck, daß Maklakov gern ein echter Gutsbesitzer gewesen wäre. Es wird ihm schwer geworden sein, sich von diesem Haus zu trennen. Aber ihm blieb Marija Alekseevna, die ihm ein neues Nest in Paris schaffen würde.

Aber warum lud Maklakov damals nur mich aufs Land ein? Und warum fuhr ich hin? Das bedeutet, daß es irgendeine Annäherung zwischen mir und Maklakov gab. Aber wie war das möglich? Er wollte Krieg mit Deutschland, ich hielt das für ein Verhängnis. Aber zu jener Zeit hatte Maklakov bereits etwas gelernt.

Manchmal denke ich: Wenn man nach Stolypin Vasilij Alekseevič zum Premierminister ernannt hätte, hätte das etwas geändert? Nein, das hätte nichts geändert. Und wenn doch? Nochmals nein.

Ein wirklicher Regierender muß in sich drei Menschen vereinigen: einen, der spricht, einen, der handelt, einen, der denkt. Für die erste Rolle wäre kein Besserer als Maklakov zu finden gewesen. War er doch „Goldmund“, „die Sirene“. In der zweiten Rolle wäre er schlecht gewesen, er war nicht herrisch. Und denken? Denken konnte er. Er hatte sich den Krieg mit Deutschland ausgedacht und ihn heraufbeschwört. Und es geschah alles so, wie er es wollte, d.h. dieser Krieg rief tatsächlich einen Aufschwung Rußlands hervor. Und trotzdem war das zu kurz gedacht. Nach einem Jahr war der Aufschwung vorbei, und Maklakov fing an, etwas zu begreifen.


***

Als während des Ersten Weltkriegs die französischen Minister nach St. Petersburg kamen, wurde neben den politischen und völlig geheimen Unterredungen ein öffentliches Bankett veranstaltet, an dem 800 Leute teilnahmen – der gesamte Staatsrat, die gesamte Staatsduma (mit wenigen Ausnahmen), die Botschafter der ausländischen Mächte und die russische Regierung. Es gab langweilige offizielle Tischreden. Dann sang Šaljapin, von zwei Flügeln begleitet, die Marseillaise. Ich wußte von Maklakov, der mit Šaljapin befreundet war, daß der kein bißchen Französisch konnte. Und doch sang er für Franzosen auf Französisch wie ein Franzose. Vielleicht hat ihn Maklakov gründlich vorbereitet. Aber um sich in kurzer Zeit eine unbekannte Sprache anzueignen, muß man über die Fähigkeiten eines Šaljapin verfügen.

Als er endete, sagte der französische Oberst, der neben mir saß (die Minister hatten eine ganze Suite von Spezialisten mitgebracht):

„Erst heute habe ich verstanden, was unsere Marseillaise ist.“

Was die Redner angeht, so wurde beschlossen, daß allein Maklakov reden sollte. Man wählte ihn aus, weil er „Goldmund“ war, und noch mehr, weil er Französisch ebenso frei sprach wie Russisch. Und drittens, weil er etwas zu sagen hatte. Dabei ist zu bedenken, daß der Enthusiasmus verflogen und an zündenden Reden kein Bedarf mehr war.

Maklakovs Rede war nicht lang. Aber doch länger, als ich sie in Erinnerung habe. Ich entsinne mich nur an die Kernaussage, ungefähr so:

„Zu Beginn des Krieges wurde in Frankreich der prominente Politiker Jaurès ermordet, der sich gegen den Krieg ausgesprochen hatte. Er war ein aufrichtiger Antimilitarist und starb für seine Überzeugung. Und dennoch riskiere ich es hier zu wiederholen, daß ich ebenfalls ein Antimilitarist bin. Zugleich aber bin ich für den Krieg. Wie ist es möglich, beides zu vereinbaren? Es ist möglich. Ich bin für den Krieg, weil ich glaube, daß dies der letzte Krieg ist und wir gegen den Krieg kämpfen und gegen niemand anderen. Wir kämpfen gegen Deutschland, Deutschland ist der Herd des Militarismus in der ganzen Welt. Darum kann ich für den Krieg sein, ohne mich von meinen lichtesten Überzeugungen loszusagen.“

Diese Rede hatte einen gewaltigen Erfolg. Das war ein neuer Aufschwung, weil der harte Krieg, dessen Ziel uns zu entgleiten drohte, hier eine neue Bestimmung erhielt, wie es sie noch nie gegeben hatte.

Maklakov hielt diese Rede mit bewundernswerter Inspiration. So hatte er in der Staatsduma nie gesprochen. Es war „Goldmunds“ letzte Rede, sein Schwanengesang.

Und ich verstand vieles bei Maklakov. Früh hatte er mit mir unter vier Augen den Krieg gegen Deutschland als das einzige Mittel bezeichnet, dem „Saustall“ ein Ende zu bereiten. Nun sagte er, daß er nicht gegen Deutschland kämpfe, und zum ersten Mal dachte ich damals: Wenn er ein Freimaurer ist, dann einer des höchsten Grades.

Was heißt das, ein „Freimaurer des höchsten Grades“? Das bedeutet, daß er – zusammen mit wenigen anderen – die Freimaurer anführte. An Maklakov konnte man studieren, was modernes Freimaurertum ist.


***

In Paris, wo ich über einen Monat in der Botschaft bei ihm wohnte, sprach er nie aus, daß er Freimaurer sei. Und ich fragte ihn natürlich nicht. Wenn ich gefragt hätte, wären ihm Zweifel an meiner Fähigkeit gekommen, bestimmte Dinge zu verstehen. Aber er sprach mit mir viel über das Freimaurertum und beschrieb mir die modernen Freimaurer so, wie ich es im folgenden wiedergebe:

Das Freimaurertum ist heutzutage nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein breiter Verbund gegenseitiger Hilfe. Alle Freimaurer betrachten einander als Brüder. Auf ihren Versammlungen duzen sie einander. Ein kleiner Freimaurer, der ein bescheidenes Amt ausübt, kann also seinen „Bruder“, den mächtigen Minister, per du bitten, ihm ein höheres Amt zu verleihen.

Die Idee der gegenseitigen Hilfe beschränkt sich nicht auf irgendwelche bescheidenen Vorschläge. Die Freimaurer denken durchaus auch in internationalen Maßstäben. Dabei wird die Sachlage erheblich komplizierter. Den Freimaurern ist es nicht erlaubt, Patrioten des eigenen Landes zu sein. Während des Krieges können sie nicht in den Kampf ziehen und die Massen mobilisieren. Vielmehr erinnern sie sich immer daran, daß jeder Krieg mit einem Frieden enden muß. Bei Friedensschluß beenden darum die Freimaurer im Gegensatz zu den Nichtfreimaurern die Feindseligkeiten gegen die anderen Nationen und Mächte. Und das ist nur zu verständlich: Wenn es französische Freimaurer gibt, gibt es schließlich auch deutsche. Nach den Regeln der Freimaurerei sind sie Brüder. Also bemühen sie sich um weniger strenge Friedensbedingungen.

Wie bekannt, wurde nach dem Ersten Weltkrieg der Versailler Friedensvertrag geschlossen. Ein unguter Vertrag, der den Zweiten Weltkrieg nach sich zog. Es gab Druckschriften, wo der Versailler Friedensvertrag scharf verurteilt wurde. Gut möglich, daß diese Werke von Freimaurern stammten.


***

Die Freimaurer sind frei, was ihre religiösen Gefühle betrifft, fuhr Maklakov fort. Aber es ist ihnen verboten, Klerikale zu werden. Sie unterstützen keine der offiziellen Religionen, weil sie glauben, daß alle offiziellen Religionen einen falschen Weg gegangen sind, auch die christliche Religion.

Ich muß sagen, daß in dieser Beziehung die Anschauungen der Freimaurer, wenn sie so sind, wie Maklakov sie dargestellt hat, meiner Auffassung sehr nahe kommen.

Alle offiziellen Religionen sind intolerant, alle glauben, daß allein sie Gott richtig verstünden. In dieser Hinsicht ist Wilhelm II. typisch, der ja immer wieder von „unserem deutschen Gott“ sprach. Nun, auch die Orthodoxe Kirche hält sich für die einzig wahre Kirche und das Wort „Orthodoxie“ [Rechtgläubigkeit] selbst enthält bereits eine Anmaßung.


***

Das Interessanteste an Maklakov war vielleicht sein Verhältnis zu den Juden. Er trat niemals gegen die Juden auf, weder in den Reden noch in den Aufsätzen noch in seinen Memoiren. Aber ich erkannte seine wahre Denkweise folgendermaßen:

Die russischen Juden in Paris veranstalteten ein eintägiges Meeting zur Frage, was den Antisemiten an ihnen, den Juden, nicht gefalle. Ich lebte im Süden, erhielt aber eine Einladung zu diesem Treffen einschließlich des Angebots, die Unkosten meiner Reise zu bezahlen.

Ich fuhr nicht hin, weil ich es für dumm hielt, die äußerst komplizierte jüdische Frage an einem Tag lösen zu wollen. Es kam bei dem Meeting auch nichts heraus. Einziges Ergebnis war mein Buch von dreihundert Seiten mit dem Titel Was uns an ihnen nicht gefällt. Es kam in Frankreich etwa ein Jahr nach dem Meeting heraus.

Ich erinnere mich nicht genau, aber wahrscheinlich wurde auf diesem Meeting über „anständige“ Antisemiten gesprochen. Niemand wurde direkt genannt. Ich bezog es auf mich und dachte, daß das völlig in Ordnung sei. Ich war ein Antisemit, als das russische Judentum 1905 sich fast mit seinem gesamten Gewicht gegen die russische Regierung aufwarf. Sowie dann, als die russischen Juden die Revolution von 1917 und Lenin unterstützten. Aber gleichwohl – als man den unschuldigen Bejlis auf die Anklagebank setzte und die Regierung alles tat, um die Geschworenen auf ihre Seite zu ziehen – da trat ich für eine faire Rechtsprechung in Rußland und damit zugleich für Bejlis ein. Ich gewann diesen Prozeß, d.h. nicht direkt ich, vielmehr all die, die sich für einen Freispruch von Bejlis einsetzten. Das war ein Sieg der Gerechtigkeit! Da ich aber während dieses Kampfes einen äußerst scharfen Artikel gegen den Staatsanwalt Čaplinskij geschrieben hatte, zog man mich wegen „bewußter Verbreitung falscher Behauptungen über höhere Amtspersonen“ vor Gericht. Mit anderen Worten, da man durch den Freispruch von Bejlis in eine schiefe Lage geraten war, versuchte man sich auf meine Kosten herauszuwinden. Ich wurde von keinem Geschworenengericht verurteilt, sondern von einem Krongericht. Das Krongericht führte sich einfach unwürdig auf. Ich hatte Zeugen, die in der Lage gewesen wären, Čaplinskij so zu entlarven, daß er gezwungen gewesen wäre zu kapitulieren. Aber das Gericht verzichtete darauf, die Zeugen zu hören. Dabei saß einer von ihnen, Fesenko,* eben da auf der Tribüne, direkt neben den Richtern. Auch ihn wollten sie nicht vernehmen. Also verurteilten sie mich zu drei Monaten Gefängnis. Eine lächerliche Frist, aber ein Mitglied der Staatsduma kann nur mit Zustimmung der Staatsduma ins Gefängnis gesetzt werden. Während die Sache noch durch die Instanzen ging, begann der Krieg. Ich meldete mich als Freiwilliger und war dann beim Roten Kreuz. Am Jahrestag meiner Verurteilung, d.h. am 20. Januar 1915, erschien bei mir ein Oberst der Gerichtsbehörde und zeigte mir ein Papier.

„Nach dem Gesetz werden uns alle Akten übergeben, die Personen betreffen, die in die Armee eingetreten sind. – Lesen Sie.“

Ich las. Nach dem Vortrag des Justizministers über die Sache des Šul’gin, Vasilij Vital’evič, der vom Kiever Kreisgericht zu drei Monaten Haft verurteilt wurde, geruhte seine Majestät, der Kaiser, mit eigener Hand niederzuschreiben: „Die Sache soll für null und nichtig erklärt werden.“

Zur Erklärung möchte ich darauf hinweisen, daß nach russischen Gesetzen der Kaiser der oberste Richter war. Alle Urteile begannen mit den Worten: „Nach dem Befehl seiner Kaiserlichen Majestät...“ Darum konnte der Kaiser jedes beliebige Urteil aufheben, wenn er überzeugt war, daß es falsch war. Hier wurde das in der besonderen Form einer Negierung der Sache selbst ausgedrückt. Es hatte den Fall nicht gegeben.

Ich kam also zu dem Schluß, daß mit dem „anständigen Antisemiten“ ich gemeint war. Aber Maklakov sagte mir:

„Nein, Sie sind doch immer wieder gegen die Juden aufgetreten. Ich aber bin niemals öffentlich als Antisemit aufgetreten. Dennoch bin ich Antisemit, das Wort vom ‚anständigen Antisemiten’ bezieht sich auf mich. Sprechen Sie darüber nicht, solange ich noch lebe. Wenn ich tot bin, können Sie es erzählen.“


***

Ich ging die enge, menschenleere Rue de Grenelle entlang und traf auf General Miller, der etwas bei General Kutepov zu tun hatte. Ich sagte:

„Ich wünsche einen schönen Tag. Kann ich vielleicht mit Ihnen sprechen?“

Er antwortete kalt:

„Worüber, erlauben Sie die Frage, wollen Sie mich interviewen?“

Ich brach in Gelächter aus:

„Erkennen Sie mich denn nicht?“

Der General (er war in Zivil) nahm mich in Augenschein und sagte:

„Verzeihen Sie bitte. Ich habe Sie nicht erkannt, weil Sie sich auf ganz märchenhafte Weise verjüngt haben.“

„Ich brauche nichts von Ihnen. Aber vielleicht kann ich Ihnen irgendwie nützlich sein?“

Er dachte nach und sagte beiläufig:

„Das können Sie.“

Dann, nach einer Pause, fuhr er fort:

„Wir unterstützen hier eine kleine russische Zeitung finanziell. Sie hat gut über General Vrangel’ geschrieben, aber plötzlich den Kurs abrupt geändert. Können Sie nicht herausfinden, was da passiert ist? Was Vrangel’ in der letzten Zeit getan hat, so daß sie ihn nicht mehr unterstützen wollen?“

Ich antwortete:

„Zu Diensten. Ich werde mich der Sache annehmen.“

Meine verstorbene Frau Marija Dmitrievna pflegte zu sagen: „Wenn der Herrgott hilft, wird die Sache schnell erledigt.“ So geschah es auch. Am nächsten Morgen ging ich in die russische Kirche. Sie lag auf einem Hügel, und zu ihr führte eine ziemlich hohe Steintreppe hinauf. Vom Vorplatz der Kirche hatte man einen schönen Blick. Diese Kirche wurde „die russische Kirche in der Rue Daru“ genannt. Sie war klein, aber erlesen. Die Pariser Russen trafen sich gewöhnlich dort.

Der Gottesdienst war zu Ende, und alle gingen. Ich blieb auf dem Vorplatz und genoß den Blick auf Paris, wie er sich hier darbot. Außer mir schien sich niemand in der Umgebung aufzuhalten. Plötzlich aber sah ich auf der anderen Seite des Vorplatzes einen Mann, der mich, wie mir schien, eingehend musterte, ohne sich vom Fleck zu rühren. Da ging ich auf ihn zu. Als ich bereits ganz nahe war, entdeckte ich, daß er Tränen in den Augen hatte. Und dann erkannte ich ihn. Es war genau der, den ich in diesem Moment brauchte. Ich sagte:

„Guten Tag, Aleksandr Ivanovič. Was betrübt Sie denn so?“

„Darf ich Sie fragen, aus welchem Grund Sie mich so beleidigt haben?“

„Ich Sie beleidigt?! Ich habe Ihnen einen Brief geschrieben, daß ich nicht mehr bei Ihnen arbeiten kann. Sie wissen sehr gut warum. Sie haben ohne jede Ursache den Kurs gewechselt und angefangen, Vrangel’ zu beschimpfen.“

„Das kann ich verstehen. Aber Sie haben mich in dem Brief mit ‚Gnädiger Herr Aleksandr Ivanovič’ angesprochen. So schreibt man nur, wenn man jemand zum Duell fordert.“

„Ich habe Sie nicht gefordert und werde das auch nicht tun. Aber – um weiter wie in der Oper zu reden – würden Sie sich vielleicht bemühen, mir Ihr Handeln zu erläutern?“

„Selbstverständlich. Aber nicht hier. Können Sie morgen ins Café ‚Opera‘ kommen, nun, sagen wir, gegen zwölf Uhr?“

„Ich werde dasein.“

Ich ging früher hin. Es sollte noch ein leitendes Mitglied der Zeitung kommen, deren Titel ich leider vergessen habe. Darum konnte ich die Sehenswürdigkeiten dieses Cafés in Ruhe betrachten. Eingezäunt stand da ein gewöhnlicher Marmortisch, an dem einst Napoleon gesessen hatte, als er noch nicht Kaiser war.

Dann kamen sie. Und beide erzählten, sich gegenseitig ins Wort fallend, etwa folgendes: Vor einiger Zeit war Markov zu ihnen in die Redaktion reingeplatzt.

Ich fragte, welcher Markov.

„Nikolaj Evgen’evič, Markov der Zweite, antworteten sie.“

Und er brüllte sie an:

„Was macht ihr da! Der Großfürst Nikolaj Nikolaevič ist mit General Vrangel’ äußerst unzufrieden, und ihr lobt ihn! Ich war gerade eben beim Großfürsten...“


***

Konnte das sein? Was hatte der Großfürst mit Markov dem Zweiten zu tun? Ich sagte damals nichts, dachte aber: „Es gibt etwas Gemeinsames. Markov, ich weiß nicht aus welchem Grund, schloß sich nicht den Weißen an, d.h. nahm nicht am Bürgerkrieg teil. Der Großfürst Nikolaj Nikolaevič ebenfalls nicht, obwohl er auf der Krim lebte und General Denikin ihm anbot, die Freiwilligenarmee anzuführen. Das wußte ich genau. Denikin hatte mich gebeten, seinen Brief an den Großfürsten zu übermitteln. Ich beauftragte die ‚Prinzessin’ [16] damit. Sie war in der ‚Azbuka’ und wurde wegen ihres Äußeren so genannt. Sie war für einen solchen Auftrag gut geeignet und führte ihn erfolgreich aus. Den Brief übergab sie der Gattin des Großfürsten, und danach traf sie auch mit ihm selbst zusammen. Er bevollmächtigte sie zu übermitteln, daß er für die Ehre danke, es aber nicht für möglich halte, die weiße Bewegung anzuführen.


***

Aleksandr Ivanovič Filippov und sein Freund fuhren fort:

„Wir erschraken und schrieben etwas gegen Vrangel’, später hörten wir ganz auf, über ihn zu schreiben. Aber wir bereuten das sehr. Miller stellte seine finanzielle Unterstützung ein, und nun wissen wir nicht, was wir tun sollen.“

Ich erklärte ihnen, wie sie meiner Ansicht nach vorgehen sollten. Am anderen Tag erschien in der Zeitung ein Leitartikel, der, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, so begann: „Wir haben immer gesagt, daß General Vrangel’...“ und weiter ging es in jenem Ton wie früher, so wie sie immer gesprochen hatten. Mein Kalkül lief darauf hinaus, der Leser solle stutzen und denken, er habe nicht richtig aufgepaßt, aber jetzt sei alles in Ordnung. So kam es im großen und ganzen auch. Als ich wieder zu General Miller kam, las er gerade die besagte Zeitung und fragte mich:

„Wie haben Sie das erreicht?“

Ich antwortete:

„Berufsgeheimnis, eure Exzellenz. Ich hoffe, Sie werden ihnen die Unterstützung erneut gewähren?“

„Ja, natürlich.“



***

Ich habe viel nachgedacht und denke auch heute noch viel darüber nach, wenn ich mich an die vergangenen Zeiten erinnere, was wohl hinter dem Besuch Markovs beim Großfürsten steckte.

Unbestreitbar ist, daß Markov dem General Vrangel’ Bonapartismus vorwarf. Er meinte, daß dieser nichts dagegen haben würde, den Thron einzunehmen. Das war die Vorlage, nach der sich verschiedene Muster sticken ließen. Was aber wahr ist, das ist mein Gespräch mit Petr Nikolaevič Vrangel’. Er sagte mir:

„Ich kenne sie alle. Die Romanovs sind abgetreten, weil ihnen die Luft ausging. Sie hatten den Geschmack an der Macht verloren. Sie waren willensschwach geworden. Man glaubt, der Großfürst Nikolaj Nikolaevič habe einen starken Willen. Das ist nicht richtig. Er konnte höchstens grob werden, konnte mit der Reitgerte einem Trompeter, der neben ihm stand, eins aufs Maul geben, wenn der ein falsches Signal blies. Er konnte Mjasoedov* aufhängen lassen, auch wenn das vielleicht gar nicht nötig war...“

„Damals, als der Großfürst Nikolaj Nikolaevič sich vom Kaukasus zum Hauptquartier bewegte, um das Oberkommando zu übernehmen, hätte er Willensstärke zeigen müssen“, fuhr Petr Nikolaevič fort. „Als ihn aber unterwegs zwei Minister abfingen und ihm sagten, daß ein Romanov unter den gegebenen Umständen nicht an der Macht bleiben könnte, da paßte er.“

Ich fragte:

„Was hätte er denn tun sollen?“

„Was er hätte tun sollen? Sie zum Teufel jagen. Ins Hauptquartier kommen und sich auf die Kavallerie stützen. Die Kavallerie war damals noch vollkommen intakt. Natürlich wäre das ein Risiko gewesen. Dazu hätte man Willensstärke gebraucht. Aber er? Er ist eben Nikolaj III.“

Diese Worte hörte ich mit eigenen Ohren. Ob Vrangel’ so auch zu anderen gesprochen hat? Ob diese bissigen Bemerkungen vielleicht zum Großfürsten gelangt sind? Es ist gut möglich, daß Nikolaj Nikolaevič Markovs tönende Worte über Vrangel’s Bonapartismus gerne hörte. Die Antwort, die er der ihm zugesandten „Prinzessin“ gab, zeugte ebenfalls nicht von Willenskraft.


Jugoslawien


Etwas später, Ende August oder Anfang September [1927 – RK], übersiedelten wir nach Jugoslawien. Wir fuhren durch Wien, wo wir uns einschifften und auf einem Dampfer donauabwärts fuhren.

Während der Fahrt dachte ich über diese Reise nach. Wir hatten den Plan, unsere Beziehung zu legalisieren und uns in Jugoslawien trauen zu lassen. Der Metropolit Evlogij* hatte mir in Paris nach der Zustimmung von Ekaterina Grigor’evna die Scheidung genehmigt. Sie wollte nur den Namen Šul’gin behalten, was ihr auch zugestanden wurde.

Die Heirat wurde in dem Städtchen Novyj Sad vollzogen. Das liegt an der unteren Donau, gegenüber jener Festung, aus der einst während des Krieges General Kornilov* geflüchtet war. Die Kirche in Novyj Sad war russisch. Trauzeugen waren Marija Dmitrievnas Bruder Vladimir Dmitrievič, Oberst Petr Tityč Samochvalov, Nikolaj Dychovičnyj* und noch jemand. Brautjungfer war Zina, die später Marija Dmitrievnas Bruder heiratete. Nach der Trauung ließen wir uns in der Kleinstadt Sremski Karlovci nieder.


***

In Sremski Karlovci lebte Petr Nikolaevič Vrangel’ und jemand aus seinem Stab. Währen des Aufenthalts an diesem Ort schlossen wir nähere Bekanntschaft mit Petr Nikolaevič und seiner Frau Ol’ga Michajlovna, geb. Ivanenko.

Vrangel’ hatte ein charaktervolles Äußeres. Im Profil ein Raubvogel, von vorn ein langes Rechteck. Kiefer und Schläfen lagen auf einer Linie, was einen starken Willen bezeugte. Die Augen waren stahlgrau, wenn ich mich nicht täusche, und der Blick war schwer zu ertragen. Er lastete auf dem Gesprächspartner. Manchmal stritten wir mit ihm über irgend etwas. Der Mund sprach logische Gedanken aus, aber die Augen befahlen ohne jede Logik Zustimmung. Einer Hypnose unterwerfe ich mich nur schwer, dennoch fühlte ich sie. Gleichwohl hatte dies keinerlei Auswirkungen auf unsere freundschaftlichen Beziehungen.

Ich ging häufig mit Petr Nikolaevič allein spazieren. Er war sehr hoch gewachsen und machte so große Schritte, daß ich kaum mithalten konnte. Während unserer Spaziergänge plauderten wir, und etwas aus unseren Erzählungen blieb mir in Erinnerung.

„Es gibt nur zwei interessante Beschäftigungen“, sagte er. „Krieg und Jagd.“

„Und wie ist es mit der Politik?“ fragte ich.

„Früher hatte ich überhaupt kein Verhältnis zur Politik, aber auf der Krim mußte ich mich damit befassen. Nun ja, interessant ist das auch, etwa so wie der Krieg.“

Er war ein Militär vom Scheitel bis zur Sohle.

„Wir Vrangel’s sind nun einmal so geartet. In unserer Familie gab es fünf Feldmarschälle und drei Admirale. Aber wir überspringen immer eine Generation. Mein Vater zum Beispiel war kein Militär. Er schrieb irgend etwas. Überhaupt waren seine Ansichten sehr altertümlich. Er hatte noch Gesinde. Einmal, als jemand über irgendeinen Van’ka oder Pet’ka sagte, daß dieser seine Frau liebe, fragte mein Vater verwundert: ‚Ja können sie denn lieben?‘ Doch war er kein bösartiger oder hartherziger Mensch.“

Vrangel’ war seiner Ausbildung nach Ingenieur. Er war als Einjährig-Freiwilliger in die Garde eingetreten. Hatte im Japanischen Krieg in der Kavallerie gedient, aber im Kosakenregiment, und war Ehrenkosak geworden.

Während des Bürgerkriegs kommandierte er die sogenannte Kaukasusarmee, die im wesentlichen aus Kosaken bestand. Als ich damals bei ihm in Caricyn war, fragte ich ihn:

„Es ist bekannt, daß die Kosaken kühn sind, aber es ist auch bekannt, daß sie Räuber sind. Das liegt in ihrer Natur. Aber bei Ihnen haben sie nicht geraubt. Wie haben Sie das erreicht?“

„Man muß das Kriegshandwerk von Grund auf kennen. Man muß verstehen, daß Befehle vorsichtig gegeben werden müssen. Wenn ein Offizier Befehle gibt, diese Befehle aber nicht befolgt werden, hört er auf, Offizier zu sein. Ich wußte, daß die Kosaken plündern. Aber ich wartete auf den Moment, an dem sie meinen Befehl, nicht zu plündern, befolgen würden. Und dieser Moment trat ein. Sie müssen noch folgendes wissen: Wenn der Sieg errungen ist, ein wirklicher Sieg, und er infolge des Befehls eines Vorgesetzten zustande kam, dann ist der Vorgesetzte im ersten Moment nach diesem Sieg ein Zar, ein Gott, alles, was er befiehlt, wird befolgt. So ein Augenblick war das, als dank meiner persönlichen Befehle, die den Kosaken bekannt wurden, der Sieg errungen wurde. Da wurde mir gemeldet, daß die Kosaken plündern. Ich sprang aufs Pferd und sprengte, so schnell das Pferd nur konnte, dorthin, um mich persönlich davon zu überzeugen. Ich kam an. Sie plünderten wirklich. Zehn Minuten später wurden acht Mann von den Kosaken selbst aufgehängt. Ich war ihr Zar und Gott, und sie folgten meinem Befehl. Seit dieser Zeit haben sie aufgehört zu plündern. Sie liebten mich, ich aber duldete keine Plünderungen.“

(Übersetzung: Dagmar Herrmann)


[1]Türk. Bruder, Kamerad, A.d.Ü.

[*] Namen, die im Personenregister aufgeführt werden, sind mit einem Stern gekennzeichnet.

[2] „Azbuka": Konspirative Organisation zur Sammlung von Informationen und zur militärischen Aufklärung, im Dezember 1917 von V.V. Šul’gin gegründet. Beschäftigte sich mit der Verlegung von Offizieren zur Freiwilligenarmee am Don, die dort gegen die Bol'ševiki kämpfte, ferner mit dem Sammeln von Informationen für die Führung der Freiwilligenarmee, für Moskauer antibolschewistische Untergrundorganisationen, für die Missionen der Alliierten und für Angehörige der kaiserlichen Familie.

[3] Russischer Rat: Beratungsorgan, gebildet in Konstantinopel Ende 1920, nach der Evakuierung der Weißen Armee von der Krim. Gründer und Vorsitzender: General P.N. Vrangel’. Beschäftigte sich mit den durch die Evakuierung entstandenen Problemen und mit der Frage des Fortbestehens der Emigration im Westen.

[4] ROPIT war im Januar 1857 zur Aufrechterhaltung der See- und Binnenschiffahrt gegründet worden.

[5] Kronstädter Aufstand: Erhebung der Matrosen der Baltischen Flotte und der Kronstädter Garnison gegen die Bol'ševiki im März 1921, die brutal niedergeschlagen wurde.

[6] Die Russische Allgemeine Militärunion (ROVS) wurde von General P.N. Vrangel’ nach der Evakuierung der Russischen Armee von der Krim gegründet, um deren Kernbestand in der Emigration zu erhalten.

[7] Auf meine Frage, wer diese Person gewesen sei, antwortete V. V.: „Fürst Jusupov*“.

[8]Trest [Trust]: Deckname für eine Operation des sowjetischen Sicherheitsdienstes OGPU, bei der Anfang der 1920er Jahre eine scheinbar antisowjetische Organisation zu provokatorischen Zwecken gebildet wurde.

[9] Oberster Monarchistischer Rat: Anfang der zwanziger Jahre in Paris vom monarchistisch gesinnten Teil der Weißen Emigration gegründete Institution, die die Kräfte der Anhänger einer Erneuerung der Monarchie in Rußland konsolidieren sollte.

[10] Rossija: Zeitung. Erschien vom 15.08. bis zum 02.12. 1918 in insgesamt 88 Nummern in Ekaterinodar, der Hauptstadt der weißen Bewegung im russischen Süden.

[11] von russisch: bojkij=gewandt, findig – Anm. d. Ü.

[12] Herbst 1925.

[13] Osurgety ist eine Bezirksstadt des Kutaisi-Gouvernements mit 4.964 Einwohnern (1897); im Bezirk Osurgety lebten 92.212 Personen.

[14] Die Zemstvo-Organisationen waren gewählte Organe der lokalen Selbstverwaltung, die für das Gesundheits- und Bildungswesen sowie für den Straßenbau zuständig waren; die Zemstvo-Organisationen bei der Südwestfront (JuZOZO) befaßten sich während des Kriegs mit der Organisation des Sanitätsdienstes.

[+] Diese Gedankengänge Šul’gins weisen erstaunliche Ähnlichkeiten mit den Theorien auf, die seine kommunistischen Widersacher nach der Auflösung der Sowjetunion entwickelten. In beiden Fällen wird der Zusammenbruch der imperialen Strukturen Rußlands (1917 bzw. 1991) nicht in erster Linie auf langfristige geschichtliche Prozesse, sondern auf vermutete Aktivitäten angeblicher „Verschwörer“ zurückgeführt. So schließt sich die generationenalte Kluft zwischen den „Weißen“ und den „Roten“ – eine Entwicklung übrigens, die Šul’gin selbst bereits zu Beginn der zwanziger Jahre in seinem Buch 1920 vorausgeahnt hatte (V.V. Šul’gin, Dni. 1920, Moskau 1989, S. 526-529). Anm. d. Red.

[15]Altes russisches Längenmaß, entsprach etwa 1067 m und wurde für die Entfernungsangabe zwischen Siedlungen verwendet.

[16] Auf meine Frage, wer die „Prinzessin“ war, antwortete V. V.: „Ich erinnere mich nicht an ihren Familiennamen; so nannte sie der ehemalige Abgeordnete der Staatsduma Stepanov,* dem sie sehr gefiel; dann heiratete sie „Kako“, sein Nachname begann mit ‚K’ aber ich habe ihn auch vergessen.