Zeitgeschichte
 
Evgenij Sergeev
 
Das deutsche Kaiserreich aus der Sicht russischer  Militärattachés (1900-1914)
 
Die widerspruchsvolle Dynamik des internationalen Lebens am Anfang des 20. Jahrhunderts verlangte von den Großmächten angesichts regionaler Konflikte rechtzeitige und adäquate außenpolitische Entscheidungen. Gleichzeitig veränderte die industrielle Epoche traditionelle Ansichten über Charakter, Ziele und Aufgaben eines Krieges. Die Politiker und Militärs Europas erkannten, wie wichtig es war, nicht nur das Verteidigungspotential eventueller Gegner sorgfältig zu studieren, sondern auch deren innenpolitische Situation. An der Wende zum 20. Jahrhundert wurden die Geheimdienste immer aktiver, besonders in den Militärämtern der Ententemächte und der Mitgliedstaaten des Dreibundes.[1]
 
Eine wichtige Rolle spielten dabei die "Diplomaten mit Schulterstücken", d.h. die Militärattachés (bzw. Militäragenten, wie sie in Rußland damals genannt wurden). Dieses Institut, das noch in der stürmischen Zeit der napoleonischen Feldzüge und der Herausbildung des Wiener Systems der europäischen "Kräftebalance" entstand, machte im Zuge des 19. Jahrhunderts eine lange Evolution durch - an die Stelle einzelner operativer oder technischer Aufträge gekrönter Personen an Generalstabsoffiziere trat eine regelmäßige Informations- und Analysearbeit beruflich ausgebildeter Vertreter des Adels, die gewöhnlich repräsentative, konsularische und nachrichtendienstliche Funktionen miteinander kombinierten.[2]
 
Bei der Erforschung der Analysen der russischen Militäragenten ist auf ihre vergleichend-kritische Einschätzung des Verhältnisses Rußlands zur Außenwelt hinzuweisen; das galt vor allem für Staaten, die, früher mit Petersburg verbündet, ihm seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts aber zunehmend feindlich gegenüberstanden, wie etwa Deutschland. Das Verteidigungspotential, die innenpolitische Lage, die Verbreitung neuer Ideologien, die ethnische und konfessionelle Situation - all diese Elemente fügten sich in den Augen von Offizieren des russischen Generalstabs zu einem bunten und oft widersprüchlichen Mosaik des Lebens im Reich von Wilhelm II. zusammen. Bestimmend für ihre Sicht war immer die nationale Sicherheit Rußlands.
 
Unter den "Diplomaten mit Schulterstücken" galt der Posten des Militärattachés in Berlin neben dem in London, Paris und Wien immer als der von erstrangiger Wichtigkeit. In der Periode, die hier untersucht wird, bekleideten diesen Posten nacheinander die Obersten P.N. Engalyčev, V.I. Romejko-Gurko, V.N. Šebeko, A.A. Michel'son und P.A. Bazarov.[3] Zwar ist nicht die ganze von ihnen gelieferte Information gleich glaubwürdig, auch der Grad des Subjektiven in den Einschätzungen und die Tiefe der Urteile sind unterschiedlich, doch können einige Fälle genannt werden, da gerade analytische Ausarbeitungen von Militärattachés den Ausgangspunkt für Entscheidungen von Nikolaus II. und der höchsten politischen Führung bildeten. Ein Zeugnis sind Vermerke des Zaren, der einander abwechselnden Leiter des Verteidigungsamtes bzw. des Generalstabs und der Aufklärungschefs (General-Quartiermeister) am Rande der Dienstpost der Militärattachés. Ihre Tätigkeit läßt sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Vorabend des Weltkriegs in drei chronologische Abschnitte unterteilen: 1900-1905, 1906-1910 und 1911-1914. Der erste Abschnitt stand im Zeichen des Fernen Ostens: die Okkupation der Mandschurei im Zuge der Unterdrückung des sogenannten Boxeraufstands (1900-1901) bedeutete eine der größten territorialen Ausweitungen in der Geschichte Rußlands. Die zweite Phase war vom diplomatischen Lavieren geprägt, als sich die Herausbildung der militärisch-politischen Bündnisse ihrem Abschluß näherte. Das Charakteristikum der dritten Periode war, daß Petersburg seinen Platz in der Kräftegruppierung auf dem europäischen Kontinent endgültig bestimmte.
 
Parallel zu Rußlands Prioritäten änderten sich auch die Anschauungen der "Diplomaten mit Schulterstücken". Es ist anzunehmen, daß die Bekanntschaft mit den Vorstellungen dieser militärischen Elite des Russischen Reiches von Deutschland und Deutschen, die auf früher unzugänglichen Archivquellen beruht, das Gesamtbild der Evolution, die die Beziehungen zwischen den beiden Mächten in den Vorkriegsjahren erfuhr, um einige wichtige Ergänzungen und Präzisierungen bereichern wird.
 
Zwar wurde im persönlichen Briefverkehr zwischen beiden Kaisern der Schein der Nähe der dynastischen Interessen gewahrt, aber die Wege der außenpolitischen Evolution beider Staaten trennten sich immer mehr. Berlin ging es bei seinem Kampf für einen "Platz an der Sonne" darum, nicht nur in Europa, sondern auch im Osten zu dominieren. Petersburg dagegen sah seine historische Aufgabe vor allem darin, die ihrer Konfession und ethnischen Zugehörigkeit nach verwandten Völker unter dem Zepter des orthodoxen Monarchen als Nachfolger der byzantinischen Herrscher zu vereinigen. Es gab allerdings in der herrschenden Elite Meinungsverschiedenheiten über die Wege, die zur Verwirklichung dieser Ziele führten.3
 
Die Widersprüchlichkeit des deutsch-russischen Verhältnisses in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts wirkte sich auch auf die Tätigkeit der Aufklärungsorgane aus. Einerseits trug der vertrauliche Charakter der Kontakte zwischen Hohenzollern und Romanovs zum parallelen Bestehen von zwei ähnlichen Strukturen bei: der Militärattachés (Militärattachés) in den diplomatischen Vertretungen und der Militärbevollmächtigten bei Wilhelm und Nikolaus - eine Tatsache, die für Großbritannien, Frankreich und andere Länder absolut undenkbar war. Zugleich legten die russischen Militärattachés gerade in Deutschland das breiteste illegale Agentennetz an, dessen Fehlschläge gelegentlich zu ihrer Ausweisung aus dem Reich führten. Daher mochte der häufige Wechsel von Personen herrühren, die den Posten des russischen Militärattachés in Berlin besetzten.
 
Die Entfremdung zwischen Berlin und Petersburg hat sich nur allmählich vollzogen. Charakteristisch für 1900-1905 waren häufige gegenseitige Einladungen von Offizieren zu Regimentsfeiern, die regelmäßige Anwesenheit von Vertretern der Kriegsministerien beider Länder bei Manövern, Paraden und Zeremonien, Praktika von Hörern der Akademien an den Lehranstalten und in den Armeen von Deutschland und Rußland.
 
Als Wilhelm II. 1897 seine "Weltpolitik" ausrief, löste das bei den russischen Generalstabsoffizieren - anders als bei ihren Kollegen in England und Frankreich - keine besondere Besorgnis aus, und auch die Flottengesetze von 1898 und 1900 bewirkten bei Rußlands militärpolitischer Elite eher Befriedigung über Londons Besorgnis als Angst um die Verwundbarkeit der eigenen geopolitischen Positionen. Der beinahe freundschaftliche Charakter der Beziehungen zwischen beiden Kontinentalreichen, die noch dazu durch die Verwandtschaft zwischen dem Kaiser und dem Zaren untermauert waren, schloß indes Momente von Krisen (1901-1902) nicht aus.
 
Zwar waren die deutschen Zeitungen laut Angaben russischer militärischer Diplomaten nicht müde zu wiederholen, Deutschlands Platz sei neben Rußland und Frankreich und keineswegs an der Seite Englands, denn wenn Deutschland dessen Verbündeter wäre, "hätte es mit einem Weltkrieg, einem Krieg im eigenen Lande und einem Zweifrontenkrieg - mit Frankreich und Rußland" - zu tun;[4] zwar meldete V.N. Šebeko der Führung, daß "der Wunsch [Deutschlands - E. S.], die freundschaftlichen Beziehungen zu Rußland zu erhalten, außer Zweifel steht", weil "das vor dem Tode ausgesprochene Gebot von Kaiser Wilhelm I. heilig gehalten wird"; aber der Vertreter des russischen Militäramtes mußte trotzdem zugeben: "Doch herzliche [unterstrichen im Dokument - E. S.] Beziehungen sind in Berlin nicht zu suchen: Wenig wahrscheinlich ist, daß jemals auch nur eine einzige kommerzielle oder politische Frage, die Deutschlands Interessen wenigstens halbwegs berührt, dieser Freundschaft zum Opfer gebracht werden könnte."[5] Ein recht überzeugender Beweis für die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende Erosion der monarchischen Solidarität aus der Bismarck-Zeit!
 
Die genannte Tendenz fand ihre Bestätigung darin, daß Offiziere des Generalstabs berufen wurden, die Hörer der Nikolaus-Marineakademie mit der Lage im Baltikum, wie sie sich Ende 1903 gestaltet hatte, "bekannt zu machen". Die Vorträge sollten einem strategischen Flottenspiel vorausgehen, dessen Thema "in diesem Jahr ein Krieg mit Deutschland auf dem Kriegsschauplatz Baltikum" sei, d.h. ein Spiel, "in dessen Verlauf die Handlungen der Flotte voll von der Entwicklung auf dem Festland an unserer Westgrenze abhängen".[6] Der Briefwechsel zwischen den Hauptstabschefs des Marine- und des Militäramtes Rußlands zeigt, daß die ständigen Versicherungen Berlins gegenüber Petersburg, Nikolaus' außenpolitischen Kurs zu unterstützen, die russische Aufklärung nicht überzeugen konnten, und sie prognostizierte eine potentielle Verschlechterung der Beziehungen zum westlichen Nachbarn. So wurde in einem Bericht über Maßnahmen, die das russische Kriegsministerium zwischen 1898 und 1903 getroffen hatte, voll Besorgnis betont:
 
"Das enorme Anwachsen der pangermanischen Bestrebungen gefährdet seinerseits den europäischen Frieden. In diesen Bestrebungen werden verhängnisvollerweise die existentiellen Interessen ganzer slawischer Völkerschaften berührt, namentlich der Tschechen, die von deutschen Siedlungsgebieten umgeben sind. Deutschland bereitet sich beharrlich auf eine Invasion auf dem Balkan vor, damit der ganze Streifen zwischen Berlin und dem Persischen Golf in die Hände der Deutschen kommt."[7]
 
Die Situation komplizierte sich noch mehr, als der Reichstag das neue Militärgesetz für 1905-1910 erörterte und verabschiedete. Gemäß einer Meldung von Oberst Šebeko "verwiesen die Reichstagsabgeordneten auf die zeitweilige Schwächung von Rußlands Macht und auf die Möglichkeit, infolgedessen die zahlenmäßige Verstärkung der Armee um ein weiteres Jahr aufzuschieben". Doch der Bundesrat erkannte es trotzdem als notwendig an, das Gesetz in Kraft zu setzen. Bemerkenswert: Der Artikel über die zahlenmäßige Verstärkung der Kavallerie rief besonders heftige Auseinandersetzungen hervor, da einige Abgeordnete die schlechte Leistung der russischen Kavallerie im Krieg gegen Japan unterstrichen. Somit hingen Tempo und Charakter der Modernisierung des deutschen Heeres, das Šebekos Angaben zufolge bis 1910 um 8 Infanteriebataillone, 18 Kavallerieschwadronen, 1 Bataillon der nichtmotorisierten Artillerie, 8 Pionierbataillone und ein Fernschreibbataillon hätten wachsen sollen, in gewissem Maße von der Sachlage in Rußland ab.[8] Und das nicht nur wegen der Ereignisse im Fernen Osten, sondern auch wegen der revolutionären Aktionen im Laufe des Jahres 1905. Eine Illustration dazu ist eine weitere Meldung des russischen Attachés, der seit 1904 auch die Funktionen des Militärbevollmächtigten bei Wilhelm II. ausübte. In seiner nach Petersburg abgesandten Information über die weitere Verschlechterung der deutsch-britischen Beziehungen angesichts der ersten Marokkokrise akzentuierte V.N. Šebeko jedoch ein anderes Sujet, nämlich den Eindruck, den die regierungsfeindlichen Aufstände im Nachbarstaat auf Berlin machten:
 
"Den Kaiser verfolgt der Gedanke, die Entwicklung der Unruhen in Rußland könne sich ohne weiteres auf die Ruhe in Deutschland auswirken (die deutschen Sozialdemokraten spielen bei der Unterstützung der revolutionären Elemente in Rußland eine gewisse Rolle), deshalb erscheint es recht wahrscheinlich, daß die jüngsten Ereignisse in Rußland in ihm den Wunsch wecken, die Armee auf alle Zufälligkeiten vorzubereiten."[9]
 
Das Studium der Materialien der Schriftverwaltung für die deutsche Richtung im Hauptstab zeigt, wie sehr die militärische Aufklärung Rußlands über die Perspektiven der Lösung eines der wichtigsten Probleme Zentral- und Osteuropas - der Polenfrage - beunruhigt war.[10] Sowohl Berlin als auch Petersburg versuchten einerseits polnische Unabhängigkeitsbestrebungen zu unterdrücken, andererseits aber, die loyalen Oppositionskreise zu benutzen, um breite Schichten der polnischen Bevölkerung in den Kampf gegen die Despotie des Zaren bzw. gegen die teutonische Versklavung einzubeziehen.
 
Die erste Tendenz fand in der Äußerung Wilhelms II. über die Polen ihren Niederschlag, die er bei einem Gespräch mit dem russischen Militärattaché im März 1903 machte: Das sei ein äußerst gefährliches Volk. Es verdiene keine andere Behandlung als ständig mit den Füßen getreten zu werden. Bei diesen Worten, schreibt Šebeko, "nahm das bewegliche Gesicht des Kaisers einen bis zur Grausamkeit harten Ausdruck an, die Augen glänzten böse, und die Entschlossenheit war nicht zu übersehen, diese Gefühle wahr zu machen", was nach Meinung des russischen Attachés für Deutschland "nicht wenig Scherereien und Erschwernisse" bedeuten würde.[11]
 
Die polnischfeindlichen Ansichten des Kaisers wurden aufmerksam im Stabsquartier der russischen Militäraufklärung verfolgt, weil die "Polenfrage" schon immer eine Schmerzstelle des Russischen Reiches war. Die Einstellung der herrschenden Kreise anderer Länder zu ihr konnte für die Festlegung des außenpolitischen Kurses von Sankt Petersburg gegenüber diesem oder jenem Staat des Kontinents von grundsätzlicher Bedeutung sein.
 
Gleichzeitig trafen an der Newa und im Stab des Warschauer Militärbezirks Nachrichten gegensätzlichen Inhalts ein, nämlich über die geheimen Vorbereitungen Deutschlands, die Polen als "fünfte Kolonne" auf dem Territorium des Russischen Reiches zu benutzen. Laut Aufklärungsangaben führe
 
"Berlin, das an der polnischen Bevölkerung der Provinz Posen und der Weichsel-Region ein für sich ungünstiges Element zu sehen befürchtet, Geheimverhandlungen mit einer polnisch-patriotischen Partei und verspricht den Polen, wenn sie Deutschland in einem Krieg gegen Rußland Hilfe erweisen, nach erfolgreichem Abschluß des Krieges aus der heutigen Provinz Posen und der Weichsel-Region nach dem Vorbild des Königreichs Sachsen ein ,Königreich Polen` zu bilden, das sich selbständig verwalten, doch zugleich dem Deutschen Reich angehören und unter dessen ständigem Schutz stehen würde."
 
Ein Teil der Polen sehe darin einen Schritt zur künftigen vollen Unabhängigkeit Polens, fügt der Autor hinzu.[12]
 
Das Zusammenspiel der widersprüchlichen Tendenzen in Deutschlands Politik, die dem Problem der ethnischen Identität des polnischen Volkes in den Grenzen eines souveränen Staates galt, bewog Oberstleutnant F.E. Ogorodnikov dazu, diese Frage zu untersuchen. Der unmittelbare Anlaß seines Berichts[13] war der Zwischenfall von Wreschen von 1901, hervorgerufen durch die Verfügung der deutschen Behörden über den Religionsunterricht in deutscher Sprache. Die Kinder der Schule in Wreschen (Września) weigerten sich, die Katechese in Deutsch zu lernen. Die Kinder wurden zum Teil körperlich gezüchtigt, die protestierenden Eltern aber verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe bis zu zweieinhalb Jahren verurteilt. Die Proteste der örtlichen Öffentlichkeit führten zu Unruhen in der polnischsprachigen Bevölkerung auf dem Territorium Deutschlands und Österreich-Ungarns.
 
Die Geschichte des deutsch-polnischen Gegensatzes wurde im Bericht des russischen Experten folgendermaßen bewertet:
 
"Seit Ende der sechziger bis in die neunziger Jahre unseres Jahrhunderts wurde auf die Polen ein hartes Bismarck-Regime angewandt, in diese Zeit fällt der Beginn fast aller Maßnahmen, die heute zur Bedrängung der polnischen Nationalität getroffen werden, darunter die Gründung einer speziellen Stiftung zur Ansiedlung deutscher Bauern in den polnischen Provinzen. Seit Beginn der neunziger Jahre wurden mit der Annahme des ,Neuen Kurses` auf Initiative [Reichkanzler] Caprivis einige Schritte zu einer Aussöhnung mit den Polen getan, aber seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wurde die Politik erneut und mit besonderer Beharrlichkeit in die alten Bahnen gelenkt. Der heutige Kanzler Bülow hat wiederholt im Reichstag erklärt, seiner Meinung nach drohe der deutschen Bevölkerung im Osten eine ernste Gefahr seitens der Polen, die auf jede Weise zu bekämpfen sei, und diese Meinung dient offenbar als Grundlage der preußischen Politik in den polnischen Provinzen."
 
Die Internationalisierung der "Polenfrage" wurde zu einem wichtigen Faktor des internationalen Lebens und der Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland, die gemeinsam mit Österreich Polen unter sich aufgeteilt hatten. Das wurde im Stabsquartier der russischen Militäraufklärung sehr wohl verstanden. Man zog dort den Schluß, es sei
 
"alles in allem recht wahrscheinlich, daß Preußen die Gefährlichkeit der polnischen Agitation absichtlich übertreibt, um so die Maßnahmen, die gegen die Polen ergriffen werden, zu rechtfertigen. Ebenso wahrscheinlich ist, daß die polnische und zu einem gewissen Teil auch die deutsche Presse die Härte der Maßnahmen, die die preußische Regierung in den Ostgebieten trifft, übertreibt. Doch andererseits unterliegt die Zuspitzung dieser Frage keinem Zweifel, und die Plumpheit der deutschen Politik in Angelegenheiten wie dem Prozeß von Wreschen gibt den Polen eine recht starke Waffe in die Hand. Neu an dieser Sachlage ist ferner, daß die Polenfrage heute die Bedeutung einer internationalen und bis zu einem gewissen Grade einer allgemein slawischen Frage erlangt. Man muß zugeben, daß ihre weitere Entwicklung gerade in die letztere Richtung in Zukunft recht wichtig sein kann, besonders vom Standpunkt der Geschicke der Österreichisch-Ungarischen Monarchie."
 
Solche Bewertungen und Schlußfolgerungen hatten ihre Folgen, aber viel später: Als Petersburg, Berlin und Wien ihre Pläne zur Wiederherstellung Polens ausarbeiteten, allerdings nicht als selbständiger Staat, sondern eher als Pufferstaat zwischen den drei Reichen, was in der Propaganda der Mächte im Laufe des Ersten Weltkrieges seinen Niederschlag fand.[14]
 
Die organisatorische Herausbildung des Aufklärungsnetzes, das die 1905 gegründete Hauptverwaltung des Generalstabs (GUGŠ), die Stäbe der Grenzbezirke und natürlich die Militärattachés kontrollierten, war 1906-1910 am intesivsten.
 
Eine ungefähre Vorstellung von den Problemen, denen sich die Militäraufklärung Rußlands gegenübersah, vermittelt ein Bericht vom 21. November (4. Dezember) 1910, den der Oberst des Generalstabs Efimov aus dem Bezirk Wilno, einem der wichtigsten strategischen Entfaltungsräume der russischen Armee an der Westgrenze des Reiches, vorbereitete. Er schrieb:
 
"Man kann immerhin nicht behaupten, daß wir, was Deutschland angeht, die gleiche Sünde der Vernachlässigung in bezug auf das Studium seiner Kräfte begangen hätten, wie wir das recht offensichtlich vor dem jüngsten Krieg in bezug auf Japan taten. Über die Notwendigkeit der Aufklärungsarbeit in Deutschland schon zu Friedenszeiten ist sich das Militäramt seit langem klar, und so ist es bestrebt, seine entsprechenden Ideen und Absichten auf das energischste umzusetzen..."[15]
 
Nicht nur militärstrategische, sondern auch politische, demographische und ideologische Aspekte beschäftigten die militärischen Analytiker, die mit Deutschland befaßt waren. Dazu gehörten z.B. die homogene nationale Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung, der hohe Grad ihrer Lebenskultur, weit entwickelte Ehrlichkeit und inniger Patriotismus, was zusammen mit einem ganzen System von behördlichen Verwaltungsmaßnahmen dem Stab des Wilno-Bezirks die Bildung des Netzes geheimer Informanten und Kundschafter etwa in Ostpreußen erheblich erschwerte. Hierbei wurden die Urteile der "Diplomaten mit Schulterstücken" über die deutsche Seite mit der Situation in Rußland verglichen (ein charakteristischer und zugleich ganz simpler Trick, den die Berichterstatter anwandten, um die Beunruhigung der Auftraggeber und Empfänger ihrer "Produktion" zu verstärken). In diesem Kontext wurde das Bild der Situation in den russischen Grenzgebieten entsprechend präpariert: hoher Prozentsatz von "Fremdstämmigen", "recht schwach ausgeprägter Patriotismus", Existenz illegaler revolutionärer Gruppen und die den russischen Untertanen eigene Sorglosigkeit und Geschwätzigkeit. All das, meint der Offizier, erleichtere den Deutschen die Sammlung von Informationen im Russischen Reich.
 
Eine verbesserte Effektivität des Aufklärungsdienstes erhoffte sich Efimov wie üblich von administrativen Beschränkungen für Ausländer im Grenzgebiet, von der zahlenmäßigen Verstärkung der entsprechenden Abteilungen der Bezirksstäbe und von ihrer besseren Finanzierung.[16]
 
Es ist interessant, die Schlüsse von Oberst Efimov mit den Behauptungen des Leiters der deutschen Militäraufklärung, Oberstleutnant W. Nicolai, zu vergleichen, der in seinen Memoiren die Mißerfolge seines Dienstes mit der bunten nationalen Zusammensetzung Deutschlands, der schlechten Bezahlung der Offiziere und Beamten sowie damit erklärte, daß man im Lande nicht verstand, wie wichtig es sei, Staatsgeheimnisse streng zu wahren.[17] Anders ausgedrückt: Jede Aufklärungsabteilung neigte dazu, bei der anderen Seite Positives zu übertreiben, die eigenen Probleme aber alarmistisch aufzubauschen.
 
Anhand der uns zur Verfügung stehenden Dokumente können wir nicht genau bestimmen, wer in diesem Streit recht hatte; überdies gehört dies nicht zu unserem Thema. Wir meinen jedoch, daß beide Aufklärungsdienste - der russische wie auch der deutsche - in den Jahren kurz vor dem Ausbruch des Weltkrieges alles Mögliche taten, um zu erschöpfenden operativen Informationen übereinander zu kommen.[18]
 
Die ersten Anzeichen der Verschlechterung der russisch-deutschen Beziehungen nach den "Flitterwochen", die dem unterzeichneten, aber nicht in Kraft gesetzten Vertrag von Bjorko (1905) folgten, wurden von Oberst A.A. Michel'son, dem neuen Militärattaché in Berlin, schon im Frühjahr 1906, d.h. nach Abschluß des Konferenz von Algeçiras, festgestellt.[19] Sein Bericht an den damaligen Generalstabschef F.F. Palicyn enthält Beobachtungen über eine merkliche Abkühlung des Kaisers und der höchsten Führung gegenüber den Vertretern Rußlands. Michel'son schrieb: "Das zeigt sich sowohl in geringfügigen Nuancen des äußeren Umgangs als auch in der systematischen Verzögerung der Antworten auf all meine angeforderten Auskünfte zu verschiedenen Fragen." Den hauptsächlichen Grund für solche Veränderungen sah er in der Haltung, die Petersburg in der Marokkofrage einnahm.[20]
 
Zwischen 1906 und 1910 hatten Petersburg und Berlin indes noch die Möglichkeit, Übereinkünfte zu erzielen, wenn nicht über alle Streitpunkte, so doch über einige davon; das bewiesen die Unterzeichnung des Baltischen Protokolls im Oktober 1907 oder das Potsdamer Treffen des Zaren mit dem Kaiser im November 1910.[21] Nicht von ungefähr heißt es in den Memoiren des Kriegsministers V.A. Suchomlinov, daß in jener Periode die öffentliche Meinung Rußlands die Realisierung der Pläne Berlins über ein Abkommen der Kontinentalmächte in Form eines deutsch-russisch-französischen Bündnisses noch zuließ; diese Idee fand bei einigen russischen Politikern Anklang: bei S.Ju. Vitte, P.N. Durnovo und P.P. Rosen, ja selbst beim damaligen Kriegsminister.[22]
 
Dennoch wurde der respekt-, ja teilnahmsvolle Ton der Presse in beiden Ländern, der für die Jahre 1904-1905 kennzeichnend war, um 1909-1910 durch einen unverhohlen aggressiven abgelöst. Ein Bericht über Deutschland für Januar und Februar 1909, den Offiziere der Verwaltung des Generalquartiermeisters der GUGŠ vorbereitet hatten, erwähnt die Meldung von Oberst Michel'son, der "auf die Unzufriedenheit der Berliner amtlichen Kreise mit den in Novoe Vremja veröffentlichten deutschlandfeindlichen Artikeln und besonders mit den Ausfällen dieser nach Meinung Berlins halbamtlichen Zeitung gegen die Persönlichkeit des deutschen Kaisers" hinwies. Die Information, die der militärisch-politischen Führung Rußlands darüber vorgelegt wurde, wie die deutsche Seite die entstehende Situation aufnahm, zeichnete sich durch eine alarmistische Tonlage aus, und die Form, die für die Mitteilung über Deutschlands mögliche Aktivitäten gewählt wurde, konnte jeden aufhorchen lassen:
 
"Am Ende seiner Meldung führt unser Militäragent folgenden Passus aus einem Schreiben an, das der Chef des Hauptquartiers, Generaladjutant von Plassen, an General Tatiščev [damaliger Militärbevollmächtigter des Zaren bei Wilhelm II. - E. S.] anläßlich des Ablebens des Großfürsten Vladimir Aleksandrovič richtete: Der selige Großfürst sei eine Stütze und ein Träger der alten russisch-preußischen Beziehungen gewesen, die jetzt leider zusammen mit ihm zu Grabe getragen würden."[23]
 
In der Tat traten an die Stelle der alten Freundschaft zwischen Berlin und Petersburg gegenseitige Ängste und Befürchtungen. Höchst charakteristisch war in diesem Zusammenhang eine Notiz über die Verteilung der deutschen Kräfte im Kriegsfall, vom Chef des Großen Generalstabs F. Moltke aufgestellt und im September 1908 vom Kaiser bestätigt.[24] Das Dokument wurde von Oberst Michel'son wahrscheinlich über Geheimagenten erhalten und dann der GUGŠ zugeleitet. Der Inhalt der Notiz ließ keinen Zweifel über den offensiven Charakter des künftigen Krieges für die deutsche Armee aufkommen, wobei der Beginn der Kampfhandlungen zu einem Zeitpunkt angenommen wurde, da Deutschland, wie es im Dokument hieß, zu der Überzeugung gekommen sein werde, daß die Friedenserhaltung mit seiner Ehre nicht mehr zu vereinbaren sei. Über das Russische Reich schrieb General Moltke u.a.: Nach dem Willen des obersten Führers, Seiner Majestät Kaiser Wilhelm, dürfe der Krieg gegen Rußland nicht über die Grenzen Russisch-Polens hinausgehen, und beim Friedensschluß werde Österreich Zugeständnisse verlangen können. Den baltischen Provinzen müßten die Kampfhandlungen nach Möglichkeit erspart werden, und bei einem glücklichen Ausgang des Krieges sollten diese Länder ihre eigene Verwaltung zurückerhalten, eventuell sogar in Form eines selbständigen Pufferstaates. [...] Man werde Angriffshandlungen der Russen in Rußland unpopulär machen und sich die Sympathien der baltischen Lande sichern... Der russische Soldat sei nicht mehr jener furchteinflößender Gegner, der er vor 100 Jahren gewesen sei; in religiöser Hinsicht zwar abergläubisch, sei er in sittlicher Beziehung heruntergekommen; er werde die Waffen gegen Deutschland ebenso ungern ergreifen, wie er in die Kämpfe in der Mandschurei fast ausschließlich zwangsweise gegangen sei; er verstehe die Notwendigkeit eines Kampfes gegen Deutschland nicht, solange er im eigenen Vaterland eine politische Null sei.
 
Somit konnte man faktisch vom Beginn der Ausarbeitung nicht nur strategischer Pläne, sondern auch operativer Maßnahmen des Reichsoberkommandos in östlicher Richtung sprechen, obwohl auffällt, daß der Verfasser der Notiz sehr vorsichtig die Frage von Gebietseroberungen in Rußland erörtete und daß sich Wilhelm II. mit diesem Herangehen einverstanden zeigte. Es sieht so aus, als hätte es Berlin ursprünglich nur darauf abgesehen, ein Stück des Territoriums seines Nachbarn gewaltsam "abzutrennen", ohne die Frage eines Sturzes der Dynastie, der vollen Zergliederung des Romanovschen Reiches zu stellen.
 
Während man in Deutschland, wie sich später herausstellen sollte, zu einer Unterschätzung der Kampffähigkeit der russischen Armee neigte, überschätzten die russischen Militäraufklärer ihrerseits das Kriegspotential des Deutschen Reiches, wenn auch nicht in dem Maße, von dem der amerikanische Historiker W. Fuller jr. schreibt, der behauptet, die russischen Offiziere hätten gegenüber dem künftigen Gegner einen "Komplex von Gefühlen" - Angst, Neid und Bewunderung - empfunden.[25]
 
Was jedoch unbestreitbar erscheint, ist die merkliche Umstellung der GUGŠ, der Aufklärungsabteilungen der Bezirke und der Militärattachés auf ein vertieftes Studium der strategischen Pläne, des Ausbildungssystems und der technischen Neuausrüstung der deutschen Armee, die vor dem Hintergrund der Bosnienkrise von 1908-1909 vor sich ging.
 
Schon im Januar 1909 verfaßte Oberst Michel'son einen umfangreichen Bericht über die Kriegsbereitschaft Deutschlands und leitete ihn dem Grafen N.D. Osten-Saken, dem russischen Botschafter in Berlin, zu. In puncto Militärtechnik ist die Meinung des Verfassers kategorisch: Im Frühjahr 1909 sei Berlin durchaus imstande, in Europa Kriegshandlungen zu eröffnen. Nur ein Flottenabkommen mit London könne Wilhelm II. die Handlungsfreiheit auf dem Kontinent gewähren, weil Deutschland dann nicht zu befürchten brauche, daß die Engländer Frankreich, dessen Armee durch die Aktivitäten der Sozialisten und Pazifisten geschwächt seien, und Rußland, das gerade mitten in der Reorganisierung seiner Streitkräfte stehe, unterstützen würden. Die Prognose zog deshalb "Zufälligkeiten" in Betracht. "Wenn es jetzt keinen Krieg gibt und sich die Ereignisse weiter im selben Tempo und in dieselbe Richtung entwickeln, können sie zu folgender Situation führen: Der Dreibund kann zerfallen, Rußland wird wieder erstarken, die slawische Bewegung kann sich zu einem geschlossenen Ganzen, das für den Pangermanismus ungünstig wäre, herauskristallisieren. Es ist unvorteilhaft für die Deutschen, diese Situation untätig abzuwarten. Die Deutschen verstehen sehr wohl, daß die Zeit auf dem Kontinent gegen sie arbeitet, daß die Zeit ein Bundesgenosse Rußlands und des Slawentums ist, d.h. gerade das Gegenteil von dem eintritt, was sich auf See abspielt, wo die Zeit für sie arbeitet. In dieser Dualität der Lage Deutschlands liegt der Schlüssel zur gesamten heutigen militärisch-politischen Lage und der Grund für Englands entscheidende Rolle."[26]
 
Dem Militärattaché zufolge waren gerade die englisch-deutschen Beziehungen der Angelpunkt der Entwicklung, da von Großbritannien das konkrete Datum der deutschen Kriegserklärung an Frankreich und Rußland abhing (daß er beginnen mußte, daran zweifelten die GUGŠ-Offiziere beinahe nicht mehr). Daher der alarmistische Ton der Mitteilungen Michel'sons über die diplomatischen Manöver von König Edward "Nunmehr gehen Gerüchte über den Abschluß eines Abkommens auch mit England um", hieß es in einer Übersicht der GUGŠ vom 31. Januar (13. Februar) 1909; "obwohl das Wesen dieses Abkommens noch unbekannt ist, meint Oberst Michel'son aufgrund von Nachrichten, die aus verschiedenen Quellen gekommen sind, daß England nicht Deutschland eine Carte blanche für dessen Handlungen auf dem Kontinent gegeben hat, weshalb in Berlin eine gewisse Enttäuschung zu beobachten ist."[27]
 
Die geheimen Nachrichten, die die Stäbe der Grenzbezirke erhielten, ergänzten die Informationen. Der operative Sammelbericht Nr. 1 vom 7. (20.) April 1909, von der Abteilung Aufklärung des Bezirksstabs in Wilno aufgrund der Angaben von Geheimagenten vorbereitet, enthielt Tatsachen, die davon zeugten, daß das Deutsche Reich sich auf den Kampf mit der führenden Macht der slawischen Welt rüstete:
 
"Das nächste Ziel eines Krieges Deutschlands gegen Rußland ist offenbar die Eroberung des Baltikums, das nach der tiefsten Überzeugung der Deutschen ihnen kraft des geschichtlichen Rechts und der deutschen Abstammung der herrschenden Klasse in dieser Region gehöre. Die Deutschen verbergen solche Gedanken und Bestrebungen auch vor den Russen nicht, denen in Privatgesprächen sogar gewaltige Vorteile einer solchen Eroberung zugesichert werden, weil die Deutschen unsere baltischen Häfen angeblich sofort auf eine Weise umbauen würden, daß der gesamte russische Handel (besonders mit Getreide) mit ungewöhnlicher Kraft dorthin strömen und dank diesem Umstand enorme Ausmaße annehmen werde."
 
Interessanterweise setzte Berlin, wie aus demselben Dokument hervorgeht, gewisse Hoffnungen in die "Sozialrevolutionäre" der Baltischen Region, die angeblich durch Streiks und andere regierungsfeindliche Aktionen den Verlauf der Mobilmachung in den nordwestlichen Gouvernements Rußlands zu erschweren imstande waren.[28]
 
Zum erstenmal wurden Russlands Verbündete und Gegner klipp und klar in einer analytischen Notiz der GUGŠ vom 4. (17.) Dezember 1909 genannt, auch die Richtungen der wahrscheinlichen Stöße Deutschlands und Österreich-Ungarns gegen Frankreich und Rußland bezeichnet, ferner wurde die Bedeutung der Unterstützung der zwei letzteren Staaten seitens Großbritanniens betont und die Zwiespältigkeit von Italiens Position eingeschätzt. Die Verfasser der Notiz, die leider nicht festgestellt werden konnten (obwohl man annehmen kann, daß das Dokument von Offizieren der Hauptverwaltung unter General Ju.N. Danilovs Anleitung aufgestellt wurde), sprachen von der erstrangigen Bedeutung der Westfront, gegen die sich der Hauptstoß der Deutschen richten würde, und betrachteten deshalb den Kriegsschauplatz im Raum Elsaß-Lothringen besonders gründlich (sie legten sogar eine Landkarte bei). Bestrebt, die "Schwächen" des Deutschen Reiches herauszufinden, lenkten die Verfasser des Dokuments die Aufmerksamkeit auf die süddeutschen Staaten. Nach dem Inhalt der Notiz zu urteilen, hegten die russischen Generalstabsoffiziere gewisse Zweifel daran, daß Bayern, Württemberg, Baden oder Hessen Preußen im künftigen Krieg vorbehaltlos unterstützen würden.[29]
 
Im Frühjahr 1909 erreichten die Spannungen in den russisch-deutschen Beziehungen ihren Höhepunkt, ließen dann jedoch nach, was Oberst Michel'son dazu brachte, im Januar 1910 eine Verringerung der Kriegsgefahr in Europa zu konstatieren, und das trotz Deutschlands großem Kriegshaushalt.[30] Im gleichen Geist schilderte der russische Attaché die Situation auch im Mai 1910, wobei er allerdings die Führung vor eventuellen "diplomatischen Diversionen" Berlins in China, Persien, auf Kreta usw. warnte. "Meines Erachtens läge es in unserem Interesse, auf solche Diversionen nicht zu reagieren und ihnen mit Ausdauer und Ruhe zu begegnen", schrieb Oberst Michel'son, "weil sie gegenwärtig nicht von Belang sein können. Deshalb können wir, soweit die Situation momentan etwas voraussehen läßt, ruhig unsere friedliche Arbeit fortsetzen, ohne natürlich zu vergessen, daß an unserer Grenze eine mächtige deutsche Armee in ständiger Bereitschaft steht."[31]
 
Doch Ende 1910 - Anfang 1911 verschlechterte sich die Lage erneut. Der russische Militärattaché in Berlin meldete, Wilhelm II. versuche, von den innenpolitischen Problemen durch Zuspitzung der internationalen Beziehungen abzulenken; als Vorwand dienten ihm die Truppenmanöver des Petersburger Bezirks. Dort waren die "Kampfhandlungen" nicht zwischen den traditionellen anonymen Gegnern - den "Östlichen" und den "Westlichen" - abgelaufen, sondern zwischen Rußland und Deutschland, was bei Wilhelm und den pangermanischen Kreisen stürmische Entrüstung hervorrief.[32]
 
Die Kombination innerer und äußerer Faktoren - zu den letzteren rechnete Michel'son die Aktivierung der deutsch-türkischen Kontakte (Mission Colmars von der Goltz), der deutsch-rumänischen Beziehungen (geheimer Berlin-Besuch des Kriegsministers Rumäniens)[33] und der deutsch-schwedischen Kontakte, die das Fundament der früheren dynastischen Solidarität untergruben - bildete einen ungünstigen Hintergrund für das Treffen beider Monarchen in Potsdam (November 1910).
 
All das macht das Interesse der Militäraufklärung Rußlands für den politischen Kampf in Deutschland durchaus verständlich. Die Berichte des Attachés erwähnen recht oft diese oder jene Ereignisse im Leben innerhalb des Kaiserreiches. Besonders aufmerksam verfolgte er die Parlamentswahlen und die Konstellation der politischen Kräfte im Zusammenhang mit dem wachsenden Einfluß der Sozialdemokraten, den regierungsfeindlichen Schritten der Zentrumspartei und der relativen Schwächung der Positionen der rechtsnationalistischen Kreise im Reichstag.[34]
 
Wenn wir zu den Einschätzungen der parteipolitischen Rivalitäten und Stimmungen in Deutschland zurückkehren, so ist es angebracht, die Einschätzung von Oberst Michel'son mit den Beobachtungen seines Kollegen im Generalstab, Hauptmann Černavin, zur vergleichen, der Oberoffizier zur besonderen Verwendung beim Stab des Militärbezirks Wilno war. Černavin besuchte 1909 Kassel und schrieb einen dienstlichen Reisebericht.[35]
 
Der lange Aufenthalt in der deutschen "Provinz" und Gespräche mit einfachen Menschen ließen Černavin bemerkenswerte Schlüsse ziehen:
 
"Unterhaltungen, die ich über diese Themen sowohl mit meinen Kasseler Bekannten (Militärs) als auch mit zufälligen Gesprächspartnern auf meiner Reisen durch Deutschland führen konnte, haben mich davon überzeugt, daß zur Zeit in Deutschland ein sehr ernstes [unterstrichen im Dokument - E. S.] Zerwürfnis zwischen Regierung und Gesellschaft besteht. Schon nach Durchführung der Finanzreform hörte ich, der Kaiser stehe gänzlich in der Macht der Konservativen, die jetzt allmächtig seien. Oft habe ich über die allgemeine Verteuerung des Lebens nach der Finanzreform klagen hören, wobei die Ungerechtigkeit der Besteuerung, die ausschließlich die arbeitenden Klassen betreffe, hervorgehoben wurde. Der Entwurf des neuen Wahlgesetzes hat, wie mir schien, eine noch größere Aufregung bewirkt. Ich hörte hie und da die Meinung, wenn die Innenpolitik weiterhin denselben Weg gehe, werde Deutschland eine Revolution nicht vermeiden können, und die jetzt an der Macht stehenden Konservativen seien bestrebt, Unruhen auszulösen, weil sie damit rechnen würden, sie gegenwärtig leicht unterdrücken zu können und den eigenen Einfluß auf den Kaiser zu verstärken. [...] Bezüglich der Stimmung in der Armee sagte dieselbe Person, die Regierung könne gegenwärtig zweifellos mit den Truppen rechnen, bei einer Verstärkung des Sozialismus im Volk werde mit der Zeit auch in der Armee die Stimmung umschlagen."
 
Oberst Michel'sons Ausführungen, die sich ungefähr auf die gleiche Zeitspanne bezogen, enthielten Gedankengänge, die konkrete Folgen für Rußland nach sich ziehen sollten: "Deutschland hat zwei Auswege aus der heutigen inneren und finanziellen Krise: Der eine ist der normale, nämlich der Weg innerer Reformen und einer friedlichen Arbeit, der andere führt über ein militärisches Abenteuer im Ausland und wird alles aufs Spiel setzen. Vorläufig geht Deutschland den ersten Weg, und eine gewaltige Mehrheit der Öffentlichkeit wird auch künftig auf diesen friedlichen Weg bestehen."[36]
 
Dem Militärattaché zufolge war das Hohenzollernreich 1910 an einem historischen Scheideweg. Es gab noch die Möglichkeit eines alternativen sozialökonomischen und außenpolitischen Kurses, obwohl das Land, nach dem Bericht von Hauptmann Černavin zu urteilen, den "kritischen Punkt" in Richtung Krieg schon passiert hatte. Dieser Umstand berechtigt zu der Behauptung, daß die Periode 1910-1911 jenen Wendepunkt bildete, an dem in Deutschland die Weichen für die Entwicklung der nächsten Jahre gestellt wurden, und daß es der russischen Aufklärung gelang, die oberste Landesführung mit einer hinreichend fundierten Prognose in dieser Hinsicht zu versorgen.
 
Hier sei ein weiteres bemerkenswertes Detail erwähnt: Neuerdings berücksichtigten die militärischen Diplomaten ökonomische Informationen. So berichtete Oberst Michel'son über die wahrscheinliche Mißernte in Deutschland im Sommer - Herbst 1909 und begründete die Verringerung der Kriegsgefahr so:
 
"Von größter Bedeutung ist die Mißernte im Falle von Kriegshandlungen, weil die Seewege im Krieg blockiert sein werden. Deswegen ist die in Deutschland zu erwartende Mißernte zusammen mit der Finanzkrise ein mächtiger Faktor, der die kriegerische Außenpolitik Deutschlands in Richtung Frieden zwingt. Die Mißernte ist ein Trumpf in unserer Hand, weil sie absolut unerwartet die gegenwärtigen militärischen Vorteile Deutschlands mindert und es mehr denn je von ausländischen Lieferungen abhängig macht."[37]
 
Berlins ökonomische und strategische Berechnungen hinsichtlich eines bevorstehenden Konfliktes basierten auf ausreichender Versorgung mit Rohstoffen, Nahrungsmitteln und Rüstungsgütern. Daraus ergab sich für die Gegner Deutschlands, wie unschwer zu sehen ist, mit eiserner Logik die Aufgabe einer Seeblockade des Reiches, deren effektive Verwirklichung ohne England unmöglich war, was die Ereignisse von 1914-1918 auch veranschaulichen sollten.
 
Charakteristisch für die Innenpolitik der meisten europäischen Staaten war in dieser Periode das Ende neoliberaler Reformen und die Bearbeitung der öffentlichen Meinung durch Schaffung eines äußeren Feindbildes. Der als hinterlistig und schlau gezeichnete Gegner wurde als Hauptschuldiger an den sozialen Spannungen in der Gesellschaft hingestellt.
 
Ein weiteres wichtiges Motiv der europäischen Politik war die nationale Frage, die die herrschenden Kreise besonders der großen Kontinentalreiche - Rußland, Deutschland, Österreich-Ungarn oder die Türkei - bewegte. Doch nicht weniger akut wurde sie um 1914 auch für Großbritannien, Italien und andere Länder, deren Regierungen zu jener Zeit keine Alternative zu einer gewaltsamen Lösung der Probleme sahen (die norwegische Variante der friedlichen Auflösung der Union mit Schweden war eine unbestreitbare Ausnahme aus dem allgemeinen Kontext der bewaffneten nationalen Befreiungsbewegungen).
 
Die auf Auslandsmärkten entstandenen Handelsgegensätze, die Kollision der geopolitischen Interessen im Vorderen Orient, die anwachsenden Spannungen im Zentrum Europas und Propagandakampagnen innerhalb des Landes - all diese Faktoren machten die deutsche Abteilung des russischen Nachrichtendienstes besonders wichtig. Die Jahre 1911-1913 waren für den Abschluß der Vorbereitung Deutschlands zu einem Schlag gegen Frankreich und Russland von entscheidender Bedeutung.
 
Die erhöhte Aufmerksamkeit der russischen Militäraufklärung für die Situation innerhalb des Deutschen Reiches hatte in jener Etappe auch spezifische Züge: Deutlich äußerte sich ein beständiges Interesse für paramilitärische patriotische Massenorganisationen der Jugend. Die Offiziere des russischen Generalstabs verstanden nämlich die besondere Rolle solcher Strukturen bei der Vorbereitung eines Landes auf einen totalen Krieg, zumal in Rußland so gut wie keine ähnlichen Organisationen bestanden. Deshalb begann die Armeeaufklärung, die Frage der militärpatriotischen Ausbildung eigens zu studieren.
 
Eine recht vollständige Information legte z.B. der Stab des Militärbezirks Wilno vor, dessen Fachleute in geheimen Heften umfangreiche Angaben über Rußlands westlichen Nachbarn machten:
 
"Bekanntlich sind in Deutschland Vereine von Reservisten sehr verbreitet, sie spielen eine merkliche Rolle im öffentlichen Leben. Das vornehmliche Ziel solcher Vereine ist die Aufrechterhaltung des Kampfgeistes unter den ausgedienten Reservisten und überhaupt in der Bevölkerung, die Aufrechterhaltung der Treue zum Thron usw. Die militärischen Vereine genießen eine tätige Unterstützung seitens der Regierung. Zum 1. Januar 1911 zählte Deutschland 30.071 militärische Vereine mit 2.618.000 Mitgliedern (gegenüber 27.675 Vereinen mit 2.500.000 Mitgliedern am 1. Januar 1910). In der Entwicklung der militärischen Vereine steht Preußen (17.287 Vereine, 1.522.000 Mitglieder) an erster Stelle, in Bayern bestehen 3.486 Vereine mit 304.350 Mitgliedern, in Sachsen 1.710 Vereine mit 210.800 Mitgliedern."[38]
 
Mit Hilfe von Militärattachés in anderen europäischen Ländern wurde diese Information erweitert und konkretisiert. Oberst D.I. Romejko-Gurko, der russische Attaché in der Schweiz, schilderte detailliert, wie "Jungdeutschland", eine zentrale wehrpatriotische Jugendorganisation, geschaffen wurde; sie solle diverse Sport- und patriotische Organisationen vereinigen, die die Gesundung und körperliche Ertüchtigung der heranwachsenden Generation anstreben und die Kampffähigkeit der künftigen Rekruten erhöhen. Interessanterweise enthält diese Meldung einen ausführlichen Rückblick auf die Entstehungsgeschichte von "Wehr- und Sportvereinen" in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. So nennt der Autor gesamtdeutsche und lokale patriotische Vereine, paramilitärische Verbände, Jugendgruppen und Sport- und Wandergruppen sowie die sozialdemokratische Arbeiterjugend. Die staatliche Unterstützung für solche Gesellschaften äußerte sich darin, daß der Reichstag alljährlich für die Zwecke der wehrpatriotischen Jugenderziehung eine Million Reichsmark - ein für jene Zeiten beeindruckender Betrag - bereitstellte.[39]
 
Im März 1912 stellten die Analytiker des Generalstabes einen Bericht über den sogenannten Deutschen Wehrverein zusammen. Er war Anfang des Jahres entstanden und verfolgte das Ziel, "in breiten Schichten der Gesellschaft die Bekanntschaft mit der wirklichen Sachlage in den Streitkräften Deutschlands und seiner wahrscheinlichen Gegner zu verbreiten" sowie "die Regierung zu weiteren Reformen in der Armee zu bewegen". Die Organisatoren des Wehrvereins waren Generale a.D., aber im Vorstand waren auch einige einflußreiche Politiker vertreten. Die Einschätzung der russischen Aufklärungsoffiziere war in diesem Zusammenhang unmißverständlich: Der neu gegründete Verein sollte die Tätigkeit des Deutschen Flottenvereins ergänzen, um den Behörden bei der Verwirklichung der allgemeinen Wehrpflicht zu helfen. Die Gründung einer Militär- und Sportgemeinschaft, eine nach Meinung des einfachen Bürgers belanglose Tatsache, war für die GUGŠ-Experten ein ernstes Indiz für die Vorbereitung Deutschlands auf einen Krieg. In bezug auf die Ziele des Wehrvereins hoben sie hervor:
 
"Während in Frankreich alle Wehrdiensttauglichen, ja zum Teil auch begrenzt Taugliche in die Armee eingezogen werden, werden in Deutschland alljährlich etwa 100.000 körperlich taugliche Menschen in die Reserve aufgenommen, die aus finanziellen Erwägungen gar nicht zu den für sie bestimmten Ausbildungslehrgängen einberufen werden und somit ein absolut nicht ausgebildetes Kontingent darstellen."[40]
 
Alle laufenden Ereignisse des parteipolitischen Lebens wurden von der russischen Militäraufklärung unter zwei wichtigsten Aspekten betrachtet: Sie untersuchte die Gesetzgebung des Reichstags im Verteidigungsbereich und analysierte die gesellschaftliche Stimmung angesichts der Krise auf dem europäischen Kontinent. Nicht selten wurde die Rolle einzelner politischer Kräfte, vor allem der erstarkenden Sozialdemokratie, die nach den Wahlen von 1912 ihre Mandate im Reichstag erhöht hatte, recht widersprüchlich eingeschätzt:
 
"Falls sich die Regierung in der Frage der Verstärkung der Streitkräfte nicht die notwendige Mehrheit sichert, um ihre wichtigsten Forderungen durchzubringen, ist auf der anderen Seite die Tatsache ebenso wahrscheinlich, daß sie auf große Schwierigkeiten stößt, um die für die Deckung der damit verbundenen Ausgaben erforderlichen Mittel ausfindig zu machen. Eine Steuererhöhung im neuen Reichstag zu erlangen, dürfte eine ziemlich schwierige Angelegenheit sein. Ein neues Gesetz über die Erbschafts- und die Vermögenssteuer durchzudrücken hieße, die Rechtsparteien und das Zentrum in beträchtlichem Maße gegen sich aufzubringen. Infolge dessen könnten hier jene Unterwasserklippen auftreten, die das Staatsschiff wohl kaum ohne eine ernsthafte Panne wird umgehen können, und dann droht dem neuen Reichstag eine Katastrophe. Diese inneren Erschwernisse können ihrerseits Deutschlands Außenpolitik stark beeinflussen, in der die Regierung vielleicht erneut nach Unterstützung wird suchen müssen, um die eigene Lage im Lande zu festigen."[41]
 
Der Militärattaché Bazarov schrieb Anfang November 1912:
 
"Gesellschaft und Volk halten weiter an der Meinung fest, daß ein Krieg zwischen den Großmächten wegen eines größeren oder kleineren Stücks Territorium, das in Europa der Türkei überlassen werden soll, oder wegen eines Hafens von zweifelhaften Eigenschaften, den sich Serbien zu erhandeln sucht, sinnlos wäre, besonders für Deutschland. Die Presse bewahrt überhaupt einen beherrschten und ruhigen Ton; nur die Festnahme der österreichischen Konsuln durch die Serben und die aufkommenden Nachrichten über die von den Serben angeblich verübten Bestialitäten riefen Entrüstung hervor. Auf jeden Fall sind die Stimmungen von Gesellschaft und Presse mit denen während der vorjährigen Marokkofrage [gemeint ist die Agadir-Krise - E. S.] nicht zu vergleichen. Sie unterscheiden sich auch kraß vom Ton unserer Presse vom Schlage der Novoe Vremja und der erhöhten Nervosität unserer Gesellschaft. Aus Rußland eintreffende Personen staunen über die ,Inhaltslosigkeit` und ,Langweiligkeit` der deutschen Zeitungen in einer solchen Zeit."[42]
 
Oberst Bazarov erwähnte nicht von ungefähr die "aus Rußland eintreffenden Personen". Die Verstärkung der Spannungen in den russisch-deutschen Beziehungen bewog nämlich Duma-Abgeordnete verschiedener politischer Couleur zu häufigen Reisen nach Deutschland. Einer von ihnen war der bekannte Führer der Oktobristen-Partei A.I. Gučkov, über dessen Reise der Militärattaché im August 1912 berichtete.[43]
 
Bazarovs Bericht enthielt eine Information, die Petersburg beunruhigen mußte. Es handelte sich um die Anhänger der "Kriegspartei", die noch in der Minderheit, aber schon recht einflußreich waren und zu denen, wie der russische Militärattaché meldete, Mitglieder aller möglichen pangermanischen Vereine und Organisationen gehörten, z.B. der sogenannten Asiengesellschaft mit Feldmarschall Colmar von der Goltz an der Spitze. Eine ausführliche Analyse der programmatischen Ziele dieser Vereinigung ließ keine Zweifel an dem Streben ihrer Anhänger aufkommen, die deutsche Außenpolitik auf die Behauptung der deutschen Interessen in Europa und in Asien auszurichten, da sich erwiesen hatte, daß die afrikanischen Kolonien den deutschen Bevölkerungsüberschuß nicht aufnehmen konnten:
 
"Die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Politik und selbst mit dem Kaiser [hervorgehoben von mir - E. S.] nimmt nicht nur in der Bevölkerung zu, sondern auch in der Armee, die seit fast einem halben Jahrhundert keinen Krieg führt und die ihrer Tatenlosigkeit überdrüssig ist... Ein Krieg tut not, und das nicht nur vom Standpunkt der materiellen Vorteile, die er Deutschland sichern soll, sondern auch für die Hebung des Volksgeistes, dem unter dem Einfluß des sich entwickelnden Materialismus Zersetzung droht." [44]
 
Bazarovs Fazit lautete:
 
"Dieser Gesinnung muß zweifellos Rechnung getragen werden. Es ist durchaus möglich, daß am Ende des kommenden Jahres 1913 oder zu Beginn von 1914, wenn die fieberhafte Tätigkeit an der militärischen und maritimen Vorbereitung Deutschlands im wesentlichen beendet sein wird, wenn die Feierlichkeiten zum 25jährigen Jubiläum der Herrschaft des Kaisers und der 100jährigen Jubiläen einer ganzen Reihe von ruhmreichen Taten und Ereignissen der Befreiungskriege nebst feierlicher Enthüllung des Denkmals am Ort der Leipziger Schlacht zur Hebung der Moral von Volk und Armee genutzt werden, der kritische Moment kommen wird, da sowohl die öffentliche Meinung als auch die Armee und die Personen am Staatsruder zu der Auffassung gelangen, daß Deutschland unter den günstigsten Bedingungen für den Beginn eines siegreichen Krieges befinde."[45]
 
Am 6. (19.) November 1912 hielt Reichskanzler Bethmann-Hollweg im Reichstag eine programmatische Rede zur Balkanfrage. Sie fand in allen europäischen Hauptstädten viel Beachtung. Nur natürlich, daß sie auch Oberst Bazarov zu einem umfangreichen Kommentar veranlaßte. Er versuchte, die ersten Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit zusammenzufassen. "Die Rede des Reichskanzlers befriedigte die Vertreter des Volkes wenig und die öffentliche Meinung noch weniger", schrieb er an den Generalstab
 
"Man erwartete von ihr präzisere Hinweise auf die gegenwärtige politische Lage. Der Eindruck entstand, als wolle die Regierung etwas verbergen, wobei zu gleicher Zeit eine recht deutliche Anspielung auf die Bedrohung seitens Rußlands gemacht wird. Keine Billigung findet auch der Passus der Rede, in dem der Reichskanzler Deutschlands Zukunft und Sicherheit von der Politik Österreich-Ungarns abhängig macht. [...] Aus den hier angeführten kurzen Auszügen aus den Ansprachen einzelner Abgeordneter kann man folgern, daß weite Kreise des deutschen Volkes den Krieg nicht wünschen, da sie vorläufig keine ausreichenden Anlässe dazu sehen. Doch mit Ausnahme der Sozialdemokraten und einiger ihnen nahe stehender Parteien ist sich das deutsche Volk über die Notwendigkeit im klaren, seinen Verbündeten bei dessen Zusammenstoß mit Rußland im äußersten Fall zu unterstützen, da bei dessen Erfolg die Existenz der Doppelmonarchie selbst in Frage gestellt wird."[46]
 
Der Information, daß die Balkanpolitik der Regierung im Herbst 1912 keine vorbehaltlose Unterstützung der Öffentlichkeit des Landes genoß, kam große Bedeutung zu. Die Schlüsse, die Bazarov in diesem Zusammenhang zog, waren eindeutig: "Es bestätigt sich wieder einmal: Während die Deutschen einerseits einen glücklichen Ausgang des Kampfes des Dreibundes (plus Rumänien) gegen Rußland und Frankreich für möglich halten, flößt die Aussicht auf einen gleichzeitigen Krieg gegen England Deutschland große Furcht ein und stellt zur Zeit die beste Friedensgarantie dar."[47] In Bazarovs Schema der außenpolitischen Bestrebungen der wichtigsten europäischen Staaten war nicht Petersburg, sondern London die größte Gefahr für Berlin und die Sicherheit des Wilhelminischen Reiches.
 
Doch waren schon für den Beginn des nächsten Jahres, 1913, merkliche Veränderungen in den Stimmungen der Deutschen erkennbar. Bazarov schrieb: "In der öffentlichen Meinung Deutschlands ist eine Veränderung in einem für uns ungünstigen Sinne zu bemerken." Die Forderungen, bei der Beilegung der Balkankrise "nicht die staatlichen Interessen des deutschen Volkes den solidarischen Handlungen der Großmächte zu opfern", gingen mit der Sorge wegen der "Ansprüche Rußlands" auf türkische Wilajets [Bezirke] einher.
 
"Die Lage Deutschlands ist schwer; nicht nur die Regierung, sondern auch weite Kreise der politisch bewussten Volksschichten sind sich darüber klar, daß wegen des Umbruchs im Vorderen Orient eine neue Situation entstanden ist. Die Wahrscheinlichkeit dessen, daß Rußland durch wechselseitige Garantie der lebenswichtigen und realen Interessen die südslawischen Staaten auf die Seite der Triple-Entente bringen könnte, läßt Deutschland erkennen, daß es sich im Falle eines künftigen europäischen Krieges fast ausschließlich auf eigene Kräfte verlassen muß. Mit dieser Erkenntnis erklärt sich jene eilige und in ihren Ausmaßen beispiellose Verstärkung der Streitkräfte Deutschlands, die in beiden letzten Jahren vor sich geht."[48]
 
Während 1911-1912 nur die Presse der "entsprechenden Ausrichtung", wie die Generalstabsoffiziere schrieben, auf der Verstärkung der Armee und der Aufrüstung bestand[49], war im Frühjahr 1914 das umgekehrte Bild zu beobachten: "Auf jeden Fall sind in der deutschen Presse, die extrem linken Presseorgane ausgenommen, schon beinahe keine Einwände dagegen anzutreffen, den Überschuß aus der einmaligen Militärsteuer für die Erfordernisse des Kriegsministeriums zu verwenden."[50]
 
Besondere Beachtung galt möglichen internationalen Schritten von Kaiser Wilhelm II. Bazarovs Erwägungen lauteten:
 
"Die in Europa entstandene politische Mächtegruppierung, der Wunsch, die Organisation des eigenen Heeres abzuschließen und eine möglichst günstige Relation zwischen den Seestreitkräften herbeizuführen, zwangen Deutschland dazu, beinahe an die Grenze der möglichen Zugeständnisse zu gehen. Indes hat sich die politische Situation, trotz der Versuche Deutschlands, eine gewisse Übereinkunft mit England zu erreichen [im Rahmen der bekannten Mission von Lord Haldane - E. S.], vorläufig wenig geändert. Deshalb sieht sich Deutschland, das eine Niederlage und vielleicht sogar die volle Vernichtung seiner Flotte bei seinem immer wahrscheinlicheren Zusammenstoß mit England befürchtet, gezwungen, eine Kompensation in einem siegreichen Krieg gegen Frankreich zu suchen, aus dessen Mitteln (Kontributionen) es seine neue Flotte zu bauen hofft. [...] Was die Frage betrifft, ob es für Deutschland vorteilhafter ist, den Krieg vor dem Winter oder während eines in Rußlands Grenzgebieten ausbrechenden militärischen Alarms zu beginnen, so verdient sie zweifellos Beachtung. Die Deutschen sind mehr an Kälte gewöhnt als die Franzosen, und umgekehrt vertragen die Franzosen die Hitze besser, deshalb ist es für die Deutschen günstiger, den Feldzug im Winter zu beginnen, zumal sie an ihrer Westfront keine besonderen Schwierigkeiten haben werden, was die Passierbarkeit der Straßen selbst in der schlechtesten Jahreszeit angeht. Außerdem ist festzustellen, daß bei der Führung des Hauptstoßes gegen Frankreich und beim defensiven Charakter der Operationen an der russischen Front die Zeit vor Beginn der Schlammzeit im Norden des Warschauer Militärbezirks der für die Deutschen vorteilhafteste Moment ist. Schließlich sind vom Standpunkt der Klimabedingungen und des Zustands der unbefestigten Erdstraßen die vermutliche Aktionsweise der Österreicher und besonders dieses letzteren Kriegsschauplatzes in Betracht zu ziehen. Die Gesamtheit der zur Zeit vorhandenen Anzeichen läßt alles in allem den Schluß ziehen, daß sich Deutschland verstärkt zu einem Krieg in nächster Zeit vorbereitet."
 
Der Verfasser des Berichts sah es als wahrscheinlich an, daß "die Kriegshandlungen eben durch Deutschland begonnen werden" [unterstrichen im Dokument - E. S.], weil es "nur dank der Überraschung damit rechnen kann, die Erfolgschancen der englischen Flotte bis zu einem gewissen Grad auszugleichen und sich einen Vorteil für den Kampf gegen Frankreich zu sichern".[51]
 
Somit waren die russischen Geheimdienste davon überzeugt, Deutschland werde seinen Hauptstoß im Westen führen, wobei Londons diplomatische Manöver Berlin zwingen würden, die französischen Stellungen überraschend, unabhängig von der Jahreszeit, anzugreifen. Doch wären defensive Operationen des Deutschen Reiches im Osten nur bei aktiver Teilnahme Österreich-Ungarns imstande gewesen, russische Divisionen abzulenken.
 
Die deutsche Führung, die über die Pläne von Rußlands Generalstab genügend Informationen hatte, war bestrebt, Petersburg auf bestimmte Weise zu desinformieren. Zu diesem Zweck ließ der Abwehrdienst des Kaisers immer wieder den russischen "Kollegen" Nachrichten über ein alternatives Szenarium der Kriegshandlungen zuspielen, das unter bestimmten Umständen (z.B. die Nichtteilnahme Österreich-Ungarns) die Anleitung zum Handeln hätte werden können. "In Deutschland gibt es auch noch einen anderen Plan, an dem einige hochrangige Personen aus dem Generalstab arbeiten", hieß es in einem Bericht des russischen Generalstabs: "Deutschland wird erst in zwei Jahren völlig kriegsbereit sein: Alle Aufstellungen werden abgeschlossen, der Kaiser-Wilhelm-Kanal wird umgebaut sein, die Flotte sich verstärkt haben. Eben darin liegt das Geheimnis von Deutschlands gegenwärtiger Friedenspolitik."[52]
 
Anders ausgedrückt: Trotz der Bemühungen von W. Nicolais Amt wurde das alternative Szenarium des Erstschlags gegen Rußland an der Newa recht skeptisch aufgenommen, und zwar unter Berücksichtigung des "britischen Faktors", weil, nach den Quellen zu urteilen, das deutsche Oberkommando die Teilnahme des "hinterlistigen Albion" am meisten befürchtete. Zur Bestätigung sei auf ein Referat des deutschen Admirals Breising hingewiesen, der im Bericht von Oberst Bazarov vom 4. März 1913 wiedergegeben wurde. Die Mitteilung dieses Vertreters des Flottenkommandos in einer Versammlung von Mitgliedern der patriotischen Vereine in Dresden zum Thema "Der Weltkrieg und das Deutsche Reich" enthielt zahlreiche statistische Angaben über die Land- und Seestreitkräfte der gegenüberstehenden Allianzen. Der Admiral gab die erdrückende Überlegenheit der britischen Flotte zu und stritt nicht ab, daß die deutschen Kriegsschiffe recht wenig Chancen hätten, eine Küstenblockade durchzubrechen. Nur zwei Umstände könnten nach Breisings Meinung die Seestreitkräfte des Vereinigten Königreichs ablenken: eine Gefahr für Ägypten und ein Kreuzerkrieg der Vereinigten Staaten auf Seiten Deutschlands (die letztere Bedingung gehörte schon ins Reich der Phantasie).[53]
 
Während des Konfliktes um Agadir teilte Oberst Bazarov dem Leiter der russischen Militäraufklärung, Generalquartiermeister Ju.N. Danilov, mit, wie sich die Ereignisse auf die innenpolitische Situation in Deutschland auswirkten. Die Bedeutung der Marokkofrage für die deutsche und die französische Regierung betonend, schrieb er:
 
"Unterdessen beginnen die wie ein undurchdringliches Geheimnis behandelten und sich hinziehenden Verhandlungen die öffentliche Meinung des Landes [Deutschlands - E. S.] immer mehr zu beunruhigen. Der Ton der Presse, die angewiesen wurde, völlige Reserve zu zeigen, wird weniger beherrscht, die Gesellschaft und diverse Presseorgane verlangen allmählich mehr Publizität, zumal sowohl die Gesellschaft als auch die Presse sich eindeutig in zwei Lager teilen: das der Anhänger einer unbedingt friedlichen Lösung der Frage, die um jeden Preis eine Einmischung anderer außer den beiden unmittelbar daran interessierten Staaten vermeiden wollten, und das der Anhänger der Ausnutzung der entstandenen Lage dazu, maximale Vorteile daraus zu ziehen, und sei es auf die Gefahr eines Krieges hin (Pangermanisten und unterschiedliche sogenannte patriotische Kreise und Presseorgane); die letzteren erkennen eine Kompensation nur in den Grenzen von Marokko selbst an, wobei sein ganzer südlicher Teil mit Agadir ausschließlich Deutschland überlassen werden müsse. Die auf diese Weise entstandene Spaltung im Lande selbst - eine Folge der geheimnisvollen und langwierigen Verhandlungen - erschwert der Regierung ihre Aufgabe noch mehr."[54]
 
Des weiteren wog Oberst Bazarov die Chancen eines friedlichen und eines militärischen Ausgangs des Konfliktes gegeneinander ab und kam zu dem Schluß, beide Seiten seien am Scheitern der Verhandlungen nicht interessiert, weil weder Deutschland noch Frankreich zu jener Zeit zum Krieg bereit waren und Großbritannien, das die traditionelle Vermittlerfunktion ausübte, dazu neigte, Paris zu unterstützen.
 
Dennoch klangen im September aus den Berichten aus Berlin immer häufiger alarmierte Töne heraus. "Die Verbitterung gegenüber Frankreich, besonders aber gegenüber England verstärkt sich und erfaßt immer breitere Massen", heißt es in Bazarovs Bericht vom 20. August (2. September) 1911.
 
"Der wichtigste Grund ist der Kurssturz an der Börse, was sowohl Privatpersonen als auch Großunternehmen bedeutenden und kaum wieder gutzumachenden Schaden zufügt. Die Sorgen über einen günstigen Ausgang der Verhandlungen wirken sich verhängnisvoll auf Handel und Industrie aus - beide sind ihrer nächsten Zukunft nicht gewiß. Die Verhandlungen dauern viel zu lange, weswegen die Nervosität zunimmt und eine überflüssige Empfindlichkeit entsteht. Das Ergebnis der Verhandlungen wird die Erwartungen der Mehrheit offenbar nicht zufriedenstellen, wenn Deutschland keine territorialen Kompensationen in Marokko und im Vergleich mit den anderen Staaten nicht einmal irgendwelche Vorteile in diesem reichen Land bekommt. Das Kompensationsobjekt Kongo liegt, ebenso wie die meisten deutschen Kolonien, in der Äquatorialzone, eignet sich deshalb nicht für eine auch nur halbwegs breite Auswanderung aus Deutschland und folglich auch nicht für einen erheblichen Absatz von deutschen Industrieerzeugnissen."[55]
 
Auch der Chargé d´affairs Rußlands in Belgien und den Niederlanden, Fürst noKudašev, berichtete, wie ernst die Situation sei. Ende August 1911 bemerkte er Kriegsangst in diesen Ländern.[56] Im Bereich der Flottenaufklärung lief eine ähnliche Information vom russischen Marineattaché in Deutschland, Fregattenkapitän E.A. Berens, ein. Er benachrichtigte den Chef des Admiralstabs, Fürst Lieven, über ein Gespräch mit dem britischen Militärattaché, Hauptmann Watson, der erklärt hatte, die deutsche Flotte sei am 15. (28.) August 1911 in voller Kampfbereitschaft zum Angriff auf Aberdeen gewesen.[57]
 
Die zweite Marokkokrise ermöglichte London einen der letzten Versuche, den Krieg aufzuschieben und so Zeit zu gewinnen. Wir meinen die schon erwähnte Mission des britischen Staatssekretärs für militärische Angelegenheiten R. Haldane in Berlin vom 27. Januar (9. Februar) 1912. Sein Besuch löste in allen europäischen Hauptstädten zahlreiche Gerüchte aus. Durchaus begreiflich daher, daß die GUGŠ nach der Meinung ihres Vertreters in Berlin fragte. Bazarovs Bericht über die Ergebnisse von Haldanes Reise gewährt einen Einblick in die Motive der britischen Regierung. Bemerkenswerterweise erhielt Bazarov die vertrauliche Information aus Kreisen, die den Verhandlungsteilnehmern nahe standen, nicht direkt, sondern über seinen Kollegen aus den Seestreitkräften, den schon erwähnten Marineattaché Fregattenkapitän E.A. Berens.[58] Dieser Information zufolge hatte ein ungenannter britischer Diplomat zugegeben: "Die Jahre 1912 und 1913 sind kritisch, weil in diesem Zeitraum das Kräfteverhältnis zwischen der deutschen und der englischen Flotte für die erstere seit Beginn des Flotten-Wettkampfes am günstigsten sein wird." In Weiterentwicklung dieses Gedankens teilte Bazarov dem Generalstabschef mit:
 
"Nach 1913 wird man feststellen können, daß die Krise vorbei ist, weil sich die Waagschale rasch auf die Seite der britischen Flotte senken wird. Außerdem wird die deutsche Regierung zu dieser Zeit, falls sie den Wettbewerb mit England um die Entwicklung der Seestreitkräfte fortsetzen will, im Reichstag neue Kredite für den Bau von Schiffen fordern müssen. Man kann jedoch mit Sicherheit behaupten, daß diesmal das neue Projekt angesichts der absolut klaren Nutzlosigkeit des weiteren Wettlaufs und der außerordentlichen Anspannung der Mittel im Reichstag die energischste Abfuhr erhalten wird, besonders bei dessen gegenwärtiger Zusammensetzung. Das seinerseits wird den größten Anhänger der Entwicklung der deutschen Flotte, Admiral Tirpitz, und seine Gleichgesinnten, die viel Einfluß auf den Kaiser haben, stürzen."[59]
 
E.A. Berens äußerte sich über das Kalkül der Engländer noch präziser. Seine Information für den Admiralsstab wurde, da nicht nur für die Seestreitkräfte wichtig, der GUGŠ zugeleitet. Zur Begründung des britischen Strebens, eine 2 zu 1-Überlegenheit über Deutschland bei der Zahl der Kriegsschiffe aufrechtzuerhalten, stellte der Marineattaché fest:
 
"Bei seiner Handlungsweise hofft England, daß die dadurch verursachten Rüstungsausgaben die unter der Steuerlast ohnehin ächzende Bevölkerung Deutschlands endgültig empören und daß die hiesigen Sozialisten, die vorläufig noch nationalistisch empfinden, ihre Couleur wechseln, sich mehr den Sozialisten üblichen Typs annähern und mit Unterstützung noch anderer mit den Kriegssteuern unzufriedener gemäßigterer Bevölkerungsgruppen den weiteren Wettkampf mit England ablehnen werden. Deshalb ist es für die Engländer wichtig, daß ihre Verstärkung lediglich eine Antwort [alle Unterstreichungen lt. Dokument - E. S.] auf die deutsche ist, denn dann entfällt für die deutsche Regierung das wichtigste Argument zugunsten der Ausgaben, nämlich die Notwendigkeit der Selbstverteidigung, und sie wird als Schrittmacher dastehen. Zum gleichen Zweck wird England seinen Entwurf der Aufrüstung und seinen Haushalt etwas verzögern, solange nicht die entsprechenden deutschen Dokumente veröffentlicht sind. [Übrigens ist am Rande des zitierten Absatzes geschrieben: ,So wird eine planmäßige Politik gemacht', offenbar schien die britische Methode und Konsequenz der obersten Militärführung Rußlands als unerreichbares Ideal. - E. S.] Eine solche Perspektive läßt England hoffen, daß Deutschland bei weiteren Versuchen, es mit England aufzunehmen, unbedingt ein Fiasko erleiden wird, da es nicht imstande ist, Armee und Flotte gleichzeitig zu verstärken, und das muß nach Englands Berechnungen spätestens Ende 1913 geschehen. Dann ist auch der Sturz von Admiral Tirpitz sowie die Chance zu erwarten, mit Deutschland übereinzukommen, ohne dabei seine Weltmachtstellung zu verlieren oder seine Sicherheit zu riskieren, wenn natürlich kein Bruch erfolgt, d.h. Deutschland es nicht vorzieht, die Frage gewaltsam zu lösen."[60]
 
Somit verfolgte die Haldane-Mission nach Erkenntnissen der Militärattachés, das Ziel einer Sondierung hinsichtlich einer weiteren Fortsetzung des Rüstungswettlaufs. Großbritannien hoffe auf den eventuellen Ruin Deutschlands, dessen Bevölkerung die Abgabenlast der Aufrüstung einfach nicht aushalten würde.
 
Es ist bemerkenswert, daß sich in den Memoiren des britischen Botschafters Buchanan eine Bestätigung jener Aufmerksamkeit findet, die der "Herr über die russischen Lande" den Nachrichten aus militärischen Aufklärungsquellen schenkte. So erinnerte sich der Chef der diplomatischen Mission Großbritanniens daran, wie sehr die Engländer eine mögliche Wiederaufnahme der früheren Kontakte zwischen Petersburg und Berlin befürchteten, und schrieb anläßlich seiner Audienz bei Nikolaus am 1. (14.) April 1912 u.a.: Der Zar
 
"versteht worauf die beabsichtigte zahlenmäßige Verstärkung der deutschen Armee zurückzuführen ist, doch habe die deutsche Regierung voraussehen müssen, daß ihr Beispiel auch die anderen Staaten verpflichte, ihm zu folgen. Deutschland werde es an Menschen bestimmt nicht fehlen, doch frage es sich, ob es die wachsenden Steuern werde aushalten können [hervorgehoben von mir - E. S.]. Rußland seinerseits könne eine unbeschränkte Anzahl von Menschen und unbeschränkte Geldbeträge bereitstellen, und ähnlich dem, wie die britische Regierung das Kräfteverhältnis zwischen der britischen und der deutschen Flotte mit 16 zu 10 festgelegt habe, habe auch er beschlossen, ein gleiches zahlenmäßiges Verhältnis zwischen den russischen und den deutschen Armeen aufrechtzuerhalten."[61]
 
Als 1912 der Balkanbund der orthodox orientierten Staaten geschlossen wurde, trug das ein neues Element in die gesamteuropäische Konstellation ein. Die Perspektive, die Aktivitäten Serbiens, Bulgariens, Griechenlands und Rumäniens gegen Österreich-Ungarn zu "kanalisieren", erlaube es Rußland, laut Bazarov, nach Abschluß des Feldzugs gegen Istanbul einen Kompromiß mit Deutschland zu schließen, indem man diesem eine territoriale Kompensation in Form der von Deutschen besiedelten österreichischen Gebiete anbot. In diesem hypothetischen Fall würden gemeinsame Stöße des Balkanbundes vom Süden und der russischen Armee vom Nordosten aus den Kollaps der Habsburger Monarchie herbeiführen. Freilich würde das die Hegemonie Preußens im Deutschen Reich gefährden, da die süddeutschen katholischen Staaten, etwa Bayern, gestärkt würden.[62]
 
Doch das größte Hindernis für die Verwirklichung dieses Projekts war der Drang beider Mächte - Deutschlands und Rußlands - nach den Meerengen und dem Vorderen Orient. In dieser Hinsicht war Berlin deutlich Petersburg voraus, denn die Deutschen hatten ihr ökonomisches, politisches und militärisches Eindringen ins Osmanische Reich aktiviert. Eine recht vollständige Vorstellung von diesem Projekt vermittelte eine analytische Übersicht von Offizieren des Stabs des Militärbezirks Wilno, in der XXV. Folge von Sbornik svedenij o Germanii [Sammlung von Angaben über Deutschland], die 1914 kurz vor Kriegsbeginn zusammengestellt wurde. In der Übersicht wurden die Methoden betrachtet, mit deren Hilfe Wilhelms Untertanen die türkische Provinz "erschlossen". Auf die Meinung deutscher Experten im Bereich der Geopolitik und Orientalistik, beispielsweise des bekannten Professors P. Rohrbach, gestützt, machte sich die russische Militäraufklärung eine deutliche Vorstellung von den Mitteln und Wegen des deutschen Eindringens im Orient. Zusätzlich zur Reorganisation der Streitkräfte der Türkei, wovon die "Instruktions"-Mission von Generalleutnant Liman von Sanders in die Türkei im November 1913 zeugte[63], waren auch Schritte in andere Richtungen vorgesehen.
 
Die Verfasser der Übersicht betonten folgende Momente:
 
"In Zukunft muß Deutschland noch mehr als bisher dem Beispiel der übrigen Kolonialmächte, besonders Englands, folgen. [...] Große Hoffnungen werden hierbei auf Geschäftskontakte mit türkischen Handelsagenten, auf die Eröffnung oder Subventionierung von Hotels und Herbergen und großen Handels- und Industrieunternehmen gesetzt, deren Besitzer Deutsche oder ihre erklärten Sympathisanten sein sollen. Außerdem erwartet man viel von der offiziellen Begünstigung der von Deutschen verwalteten Krankenhäuser, besonders der Apotheken, an denen, wie auch an den anderen oben erwähnten Einrichtungen, in der Provinz großer Mangel herrscht. [...] Die Versorgung interessierter Türken mit Büchern könnte über die deutschen Schulen und Banken organisiert werden. Die Frage der Stipendien für in Deutschland studierende junge Türken ist schon angesprochen worden, überdies sollen sie unentgeltlich zu allen öffentlichen Vorträgen über die Lage Deutschlands, seine Politik und seine Interessen im Orient Zutritt haben. Die Aufstockung der Zahl der deutschen Konsulate innerhalb des Landes wird, ebenso wie die Herausgabe deutscher Zeitungen in türkischer Sprache, von allen gebilligt. [...] Systematisches Hervortreten in türkischen Zeitungen [so im Dokument - E. S.], die Veröffentlichung entsprechend honorierter Artikel darin, in denen die Lage Deutschlands, seine Politik und die türkischen Interessen den Lesern ständig und populär erläutert würden, und dies unter Hinweis auf die Vorteile aus den Kontakten mit diesem Staat (zu vergleichen sind die Artikel der Engländer über den Flottenbau), werden als ein angemessenes Mittel angesehen, die Interessen Deutschlands im Orient zu unterstützen."[64]
 
All diese Pläne beunruhigten Petersburg sehr. Nicht von ungefähr folgte Ende 1913 - Anfang 1914 an der Newa eine Sitzung der Sonderberatung über Probleme der Meerengen und der Teilung des "osmanischen Erbes". Außenminister S.D. Sazonov legte dem Zaren im November und Dezember 1913 zwei Denkschriften zur dieser Frage vor.[65]
 
Inzwischen verschlechterte sich das russisch-deutsche Verhältnis weiter. Um 1911 war endgültig klar, daß die früheren "Sonderbeziehungen" zwischen Rußland und Deutschland nicht mehr möglich waren. Wie P.A. Bazarovs Vorgänger im Amt des Militärattachés, A.A. Michel'son, nach Abschluß eines Empfangs, den der Kaiser im Januar desselben Jahres für eine Abordnung des Husarenregiments von Grodno gab, nach Petersburg meldete: "Die Politik bewegt sich nun in neuen Bahnen und wird von anderen, neuen machtvollen ökonomischen und politischen Faktoren gelenkt, die durch die alten Traditionen allein nicht mehr zu besiegen sind."[66]
 
Eine Unterhaltung I.L. Tatiščevs, dem bevollmächtigten Vertreter Rußlands beim Kaiser, mit Moltke vom 31. Januar 1913, über deren Inhalt Bazarov der Führung berichtete, zeugte unmißverständlich von der Abkühlung zwischen Berlin und Petersburg. Tatiščevs Versuche, die Verantwortung für die Balkanereignisse Österreich-Ungarn in die Schuhe zu schieben, das nach den Worten des russischen Vertreters Deutschland in einen europäischen Konflikt hineinziehen könne, stießen bei General Moltke auf entschiedene Ablehnung. Das sei völlig richtig, erklärte er Tatiščev gegenüber, aber Deutschland könne nicht umhin, diese Verbündeten zu unterstützen, weil es Österreich so, wie dieses jetzt sei, brauche ("das heißt ein deutsches und nicht ein slawisches Österreich, zu dem es, wenn von Rußland im Bunde mit den südslawischen Staaten besiegt, werden könnte", fügt Oberst Bazarov von sich aus hinzu). Er betonte noch, im Ergebnis würden "Fragen der Verstärkung des Slawentums und die Möglichkeit seiner Einigung trotz der außerordentlichen Reserve, durch die sich die Deutschen auszeichnen, immer häufiger zum Gesprächsthema."[67]
 
Die Konfrontation beider Staaten verstärkte sich allmählich. Ein chiffriertes Telegramm Bazarovs vom 12. (25.) März 1913 im Zusammenhang mit dem Beginn der Parlamentsdebatten über den neuen Militärhaushalt enthielt folgenden Satz: "Erstmalig wird offen [durch Reichstagsabgeordnete - E. S.] das Deutschtum dem Slawentum entgegengesetzt, dessen Verstärkung [...] die Notwendigkeit einer eiligen zahlenmäßigen Verstärkung der Streitkräfte Deutschlands bedingen."[68]
 
Die Verfasser eines weiteren Generalstabsberichts betonten im Dezember 1913:
 
"Laut einer vertrauenerweckenden geheimen Quelle herrscht in Berlin nach wie vor die Überzeugung, der Krieg gegen Rußland sei letzten Endes unvermeidlich, weshalb man ihn dann anfangen solle, wenn es für Deutschland am vorteilhaftesten sei. [...] Der Große Generalstab beabsichtigt, demnächst eine verstärkte Pressekampagne zu eröffnen, um in der Gesellschaft den Gedanken an die Notwendigkeit eines Krieges gegen Rußland zu verbreiten."[69]
 
Im Winter und Frühjahr 1914 wurde im Kaiserreich eine beispiellose Propagandakampagne gegen den Panslawismus und die Kriegsvorbereitungen Rußlands begonnen. Als Signal für diesen umfassenden Feldzug diente ein Artikel in der Kölnischen Zeitung, mit dem Titel "Rußland und Deutschland" vom 17. Februar (2. März) 1914. Der Inhalt lief darauf hinaus, das Romanov-Reich sei auf den Krieg nicht vorbereitet, es bestehe aber trotzdem eine "russische Gefahr" für Deutschland. Aus der Publikation wurde klar, welche Ziele die Hintermänner der Publikation verfolgten: die eigene Bevölkerung zu beeinflussen, die Maßnahmen zur Verstärkung der Kampfbereitschaft der Österreicher voranzutreiben, Petersburg zum Abschluß eines neuen Handelsvertrags mit Berlin zu bewegen und schließlich die Äußerungen der nationalistischen russischen Presse zu parieren.[70] Gerade solche Publikationen veranlaßten V.A. Suchomlinov zu einer Äußerung, die davon zeugte, daß alle Brücken zwischen beiden Reichen bereits abgebrochen waren. "Wir sind bereit", erklärte der Kriegsminister, obwohl Rußland trotz des beschleunigten militärischen Aufbaus im Lande (z.B. Errichtung von Festungen und Verlegung von Feldeisenbahnen an den Grenzen, übrigens in hohem Maße aus französischen Krediten)[71] bis zur vollen Bereitschaft noch dreieinhalb Jahre blieben, und das war der deutschen Aufklärung wohlbekannt. Versuche einiger Germanophilen, etwa P.P. Rosens und P.N. Durnovos, Kritik am extremen Panslawismus zu üben, hatten keinen Erfolg.[72] Die Büchse der Pandora war schon geöffnet, und nichts konnte mehr die Bewegung beider Reiche zur Kriegskatastrophe von 1914-1918 aufhalten.
 
(Übersetzung: Nina Letneva)

[1] Unter den zu beachtenden Arbeiten zu dieser Frage, die in den letzten Jahren erschienen, siehe: Knowing One's Enemies (ed. by E. R. May). Princeton 1984; Höhne, H.: Der Krieg im Dunkeln. Macht und Einfluß der deutschen und russischen Geheimdienste. Berlin 1988; Laqueur, W.: A World of Secrets. New York 1985; Faligot, R: Histoire mondiale du renseignement. Paris 1994; B.de. 1 - 2; Alekseev, M.: Voennaja razvedka Rossii ot Rjurika do Nikolaja II. [Rußlands Militäraufklärung von Rurik bis Nikolaus II.]. Moskau 1998; B.de. 1-2.
 
[2] Siehe: Sergeev, E.Ju., Ulunjan, Ar.A.: Voennye agenty Rossijskoj Imperii v Evrope (1900-1914) [Militärattachés des Russischen Reiches in Europa]. Moskau 1999.
 
[3]Siehe die Aufstellung im Anhang zu diesem Artikel.
 
[4] Siehe: Bestužev, I.B.: Bor'ba v Rossii po voprosam vnešnej politiki. 1906-1910 [Der Kampf in Rußland um außenpolitische Fragen. 1906-1910. ] Moskau 1961; Ignat'ev, A.V.: Svoeobrazie rossijskoj vnešnej politiki na rubeze XIX-XX vv. [Eigenart der russischen Außenpolitik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert]. - In: Voprosy istorii. Heft 8/1998, S. 32-43; Lieven, D. C.: Russia and the Origins of the World War II. New York 1983, p. 65-101.
 
[4] Russisches Staatliches Militärhistorisches Archiv (RGVIA), Bestand 165, IL. 1, Akte 4945, Bl. 632. Obzor inostrannoj pressy po donesenijam voennych agentov [Übersicht der ausländischen Presse nach Berichten von Militärattachés]. 21. Juni (4. Juli) 1900.
 
[5] Ebenda, Bestand 165, IL. 1, Akte 6554, Bl. 2-3 Rückseite. Šebeko an Celebrovskij, Berlin, 12. (25.) August 1902.
 
[6] Ebenda, Akte 44, Bl. 13. Otnošenie i. d. načal`nika Glavnogo Morskogo Štaba načal`niku 7-go otdela Glavnogo Štaba V.P. Celebrovskomu [Bericht des interimistischen Chefs des Hauptstabs der Seekriegsflotte an den Leiter der 7. Abteilung des Hauptstabs V.P. Celebrovskij]. Sankt Petersburg, 31. Oktober (13. November) 1903.
 
[7] Ebenda, Bestand 400, IL. 4, Akte 50, Bl. 92. Meroprijatija voennogo ministerstva za pjatiletie s 1898 po 1903 g. po podgotovke k vojne [Maßnahmen des Kriegsministeriums zur Kriegsvorbereitung im Jahrfünft 1898-1903]. Sankt Petersburg, April 1903.
 
[8] Ebenda, Bestand 432, IL. 1, Akte 277, Bl. 180-180 Rückseite. Šebeko an den Hauptstab. Berlin, 23. Februar (8. März) 1905.
 
[9]Ebenda, Bestand 970, IL. 3, Akte 880, Bl. 49-50. Šebeko-Frederiksu (načal`niku Voenno-pochodnoj kancelarii Ego imperatorskogo Veličestva [Šebeko an Frederiks (Leiter der Feldkanzlei Seiner kaiserlichen Majestät)]. Berlin, 18. September (1. Oktober) 1905.
 
[10] Siehe: Slavjano-germanskie otno[sinvcircumflex]enija [Die slawisch-deutschen Beziehungen]. Moskau 1964; "Drang nach Osten" i narody Central'noj i Jugo-Vostočnoj Evropy. 1871-1918 [Der "Drang nach Osten" und die Völker von Zentral- und Südosteuropa]. Moskau 1977.
 
[11] RGVIA, Bestand 2000, IL. 1, Akte 564, Bl. 19-19 Rückseite. Šebeko an Celebrovskij. Berlin, 1. (14.) März 1903.
 
[12] Ebenda, Bestand 401, IL. 5, Akte 143, Bl. 78-78 Rückseite. Donesenie general-lejtenanta Fullona načal`niku Štaba Waršavskogo voennogo okruga [Bericht des Generalleutnants Fullon an den Stabschef des Warschauer Militärbezirks]. Warschau, 7. (20) März 1902.
 
[13] Ebenda, Bestand 2000, IL. 564, Bl. 3-11. Analitičeskaja zapiska podpolkovnika Ogorodnikova "Pol'skij vopros v Germanii" [Analytische Information von Oberstleutnant Ogorodnikov "Die polnische Frage in Deutschland"]. 25. November (8. Dezember) 1901.
 
[14] Ausführlicher darüber siehe: Bachturina, A.Ju. "Vozzvanie k poljakam 1 avgusta 1914 g. i ego avtory" [Der Aufruf an die Polen vom 1. August 1914 und seine Autoren/. - In: Voprosy istorii, Heft 8/1998, S. 132-136.
 
[15] RGVIA, Bestand 1956, IL. 1, Ergänzung Akte 34-36. Spravka nacal`nika razvedyvatel`nogo otdelenija Štaba Vilenskogo voennogo okruga polkovnika Efimova [Auskunft des Leiters der Abteilung Verwaltung des Militärbezirks Wilno Oberst Efimov]. Wilno, 21. November (4. Dezember) 1910.
 
[16] Ebenda.
 
[17]Nicolai, W.: Germanskaja razvedka i kontrrazvedka v mirovoj vojne [Der deutsche Aufklärungs- und Abwehrdienst im Weltkrieg]. (Publikation von N.G. Žyčkin). - In: Voenno-istoričeskij urnal, Heft 1/1996, S. 67-68.
 
[18] Ausführlicher darüber siehe: Zvonarev, K.K.: Agenturnaja razvedka [Agenturaufklärung]. Moskau 1929-1931, Bd. 2, S. 159; Gilensen, V.M.: Germanskaja voennaja razvedka protiv Rossii (1891-1917) [Die deutsche Militäraufklärung gegen Rußland (1891-1917)]. - In: Novaja i novejšaja istorija, Heft 2/1991, S. 153-169.
 
[19]Istorija diplomatii [Geschichte der Diplomatie]. Moskau 1963, Bd. 2, S. 603.
 
[20] RGVIA, Bestand 2000, IL. 1, Akte 564, Bl. 73-73 Rückseite. Michel'son an Palicyn. Berlin, 14. Mai 1906.
 
[21]Taube, M:. Der großen Katastrophe entgegen. Die russische Politik der Vorkriegszeit und das Ende des Zarenreiches (1904-1917). Erinnerungen. Leipzig 1937.
 
[22] Suchomlinov, V A.: Vospominanija [Erinnerungen]. Moskau-Leningrad 1926, S. 152.
 
[23] RGVIA, Bestand 2000, IL. 1, Akte 564, Bl. 15-15 Rückseite. Informacionnaja svodka GUGŠ po Germanii [Bericht der GUGŠ über Deutschland]. 31. Januar (13. Februar) 1909.
 
[24] Ebenda, Bestand 1343, IL. 8, Akte 33, Bl. 98-106 Rückseite. Zapiska o raspredelenii germanskich vooruennych sil v slučae vojny [Information über die Verteilung der deutschen Streitkräfte im Falle eines Krieges]. Berlin, 22. August (5. September) 1908.
 
[25]Fuller, W.: The Russian Empire. - In: Knowing One's Enemies, p. 113.
 
[26] RGVIA, Bestand 2000, IL. 1, Akte 6799, Bl. 9-13 Rückseite. Michel'son an Osten-Saken. Berlin, 20. Januar 1909.
 
[27] Ebenda, Akte 564, Bl. 15-15 Rückseite. Informacionnaja svodka GUGŠ po Germanii [Informationssammelbericht der GUGŠ über Deutschland]. 31. Januar (13. Februar) 1909.
 
[28] Ebenda, Bestand 1956, IL. 1, Ergänzung Akte 2046, Bl. 2-3. Svodka svedenij po Germanii, polučennych posredstvom tajnoj agentury ¹ 1 [Sammelbericht von Nachrichten über Deutschland, erhalten durch die Geheimagentur Nr. 1]. Wilno, 7. (20.) April 1909.
 
[29] Ebenda, Bestand 1343, IL. 8, Akte 51, Bl. 1-23 Rückseite. Zapiska GUGŠ o naibolee verojatnom sosredotočenii germanskich vooružennych sil na russkoj granice [Information der GUGŠ über die wahrscheinlichste Konzentration der deutschen Streitkräfte an der russischen Grenze]. 4. (17.) Dezember 1909.
 
[30] Ebenda, Bestand 2000, IL. 1, Akte 7238, Bl. 11. Michel'son an Miller. Berlin, 25. Dezember 1909 (7. Januar 1910).
 
[31] Ebenda, Bl. 21-22. Michel'son an Gerngross. Berlin, 8. (22.) Mai 1910.
 
[32] Ebenda, Bl. 31-33. Michel'son an Gerngross. Berlin, 18. September (1. Oktober) 1910.
 
[33] Ebenda, Bl. 39-40. Michel'son an Gerngross. Berlin, 30. Oktober (12. November) 1910.
 
[34] RGVIA, Bestand 2000, IL. 1, Akte 598, Bl. 18-18 Rückseite. Michel'son an Palicyn. Berlin, 12. (25.) Januar 1907.
 
[35] Ebenda, Akte 600, Bl. 12-17 Rückseite. Svedenija, polučennye vo vremja prebyvanija v zagraničnoj komandirovke v g. Kassele v 1909 g. General'nogo Štaba kapitana Černavina [Nachrichten, erhalten vom Hauptmann des Generalstabs Černavin in der Stadt Kassel während seiner Deinstreise ins Ausland 1909]. Wilno, 18. (31.) März 1910.
 
[36] Ebenda, Akte 7238, Bl. 28-29. Michel'son an Gerngross. Berlin, 13. (26.) Juni 1910.
 
[37] Ebenda, Akte 612, Bl. 6. Izvlečenie iz donesenij polkovnika Michel'sona v GUGŠ [Auszug aus den Berichten von Oberst Michel'son an die GUGŠ]. Berlin, 10. (23.) und 16. (29.) März 1909.
 
[38] RGVIA, Bestand 2000, IL. 1, Akte 2777, Bl. 46. Sborniki svedenij ¹ 14 [Sammlungen von Nachrichten Nr. 14]. Wilno 1911.
 
[39] Ebenda, Akte 2535, Bl. 1-6. Romejko-Gurko an die GUGŠ. Bern, 29. Januar (11. Februar) 1912.
 
[40] Ebenda, Akte 235, Bl. 50-51 Rückseite. Doklad po GUGŠ. Zapiska o Germanskom sojuze oborony [Bericht für die GUGŠ. Information über den Deutschen Wehrverein]. Sankt Petersburg, 9. (22.) März 1912.
 
[41] Ebenda, Bestand 1850, IL. 1, Ergänzung zur Akte 3378, Bl. 2-3. Bazarov an die GUGŠ. Berlin, 5. (18.) Januar 1912.
 
[42] RGVIA, Bestand 2000, IL. 1, Akte 7255, Bl. 125-127. Bazarov an die GUGŠ. Berlin, 27. Oktober (9. November) 1912.
 
[43] Die internationale Beziehungen in der Epoche des Imperialismus, Folge II, Bd. XX, T. II. Moskau 1940, S. 99-101. Bazarov an Žilinskij. Berlin, 1. (14.) August 1912.
 
[44] RGVIA, Bestand 2000, IL. 1, Akte 7255, Bl. 125-127. Bazarov an die GUGŠ. Berlin, 27. Oktober (9. November) 1912.
 
[45] Ebenda.
 
[46] Ebenda, Bl. 133-133 Rückseite. Bazarov an die GUGŠ. Berlin, 7. (20). November 1912.
 
[47] Ebenda, Bl. 136-138 Rückseite. Bazarov an die GUGŠ. Berlin, 8. (21.) November 1912.
 
[48] Ebenda, Bl. 151-155. Bazarov an die GUGŠ. Berlin, 18. (31.) Januar 1913.
 
[49] Ebenda, Bestand 2465, Bl. 4-4 Rückseite. Voenno-statističeskaja svodka GUGŠ [Militärstatistischer Sammelbericht der GUGŠ]. Sankt Petersburg, 28. Januar (10. Februar) 1912.
 
[50] MOEI, Folge III, Bd. 1. Moskau 1927, S. 106-107. Bazarov an die GUGŠ. Berlin, 12. (25.) April 1914.
 
[51] RGVIA, Bestand 2000, IL. 1, Akte 2009, Bl. 9-10; Akte 7255, Bl. 54-55 Rückseite. Bazarov an die GUGŠ. Berlin, 4. (17.) Februar 1912.
 
[52] Ebenda, Akte 7256, Bl. 7-8 Rückseite. Sammelbericht von Nachrichten über Deutschland. Sankt Petersburg, 7. (20.) Juni 1912.
 
[53] Ebenda, Akte 7256, Bl. 181-182 Rückseite. Bazarov an die GUGŠ. Berlin, 19. Februar (4. März) 1913.
 
[54] Ebenda, Akte 7247, Bl. 26-28 Rückseite. Bazarov an Danilov. Berlin, 13 (26.) Juli 1914.
 
[55] Ebenda, Bl. 32-32 Rückseite. Bazarov an Danilov. Berlin, 20. August (2. September) 1911.
 
[56] Ebenda, Bl. 37. noKudašev an das Außenministerium. Brüssel, 26. August (8. September) 1911.
 
[57] Ebenda, Akte 7255, Bl. 83-84. Berens an Lieven. Berlin, 3. (16.) September 1912.
 
[58] RGVIA, Bestand 2000, IL. 1, Akte 7255, Bl. 74-76. Berens an Lieven. Berlin, 18. (31.) Januar 1912.
 
[59] Ebenda, Bl. 50-51a Rückseite. Bazarov an Suchomlinov. Berlin, 19. Januar (1. Februar). 1912.
 
[60] Ebenda, Bl. 74-76. Berens an Lieven. Berlin, 18. (31.) Januar 1912.
 
[61] Buchanan, G.: Memuary diplomata [Memoiren eines Diplomaten]. Moskau 1991, S. 120.
 
[62] RGVIA, Bestand 2000, IL. 1, Akte 7255, Bl. 157-158, Rückseite. Bazarov an die GUGŠ. Berlin, 19. Januar (1. Februar) 1913.
 
[63] Ebenda, Akte 2000, Bl. 11-11 Rückseite. Operativnaja svodka GUGŠ [Operativer Sammelbericht der GUGŠ]. Sankt Petersburg, 12. (25.) Oktober-27. Oktober (10. November) 1913.
 
[64] Ebenda, Akte 1778, Bl. 8-10 Rückseite. Sammelbericht von Nachrichten über Deutschland. Folge XXV. Wilno 1914.
 
[65] Geschichte der Diplomatie, Bd. 2, S. 761-763.
 
[66] RGVIA, Bestand 2000, IL. 1, Akte 7247, Bl. 8-12. Michel'son an Danilov. Berlin, 22. Januar (4. Februar) 1911.
 
[67] Ebenda, Akte 7255, Bl. 179-179 Rückseite. Bazarov an Danilov. Berlin, 16. Februar (1. März) 1913.
 
[68] Ebenda, Akte 2535, Bl. 179. Bazarov an die GUGŠ. Berlin, 12. (25.) März 1913.
 
[69 ]Ebenda, Akte 2465, Bl. 33-33 Rückseite. Operativer Sammelbericht der GUGŠ über Deutschland. Sankt Petersburg, 28. November (11. Dezember) 1913.
 
[70] K voprosu o podgotovke mirovoj vojny [Zur Frage der Vorbereitung eines Weltkrieges]. (Publikation von E. Adamov). - In: Krasnyj archiv, Heft 3(64)/1934, S. 109-120, 120-126. Bazarov an die GUGŠ. Berlin, 15. (28.) Februar und 25. Februar (10. März) 1914.
 
[71] RGVIA, Bestand 2000, IL. 1, Akte 7256, Bl. 12-12 Rückseite. Bazarov an die GUGŠ. Berlin, 16. Februar (1. März) 1913. Davon, daß sich das russische Oberkommando über die Bedeutung strategischer Eisenbahnstrecken für die Erhaltung der Verteidigungsfähigkeit des Landes klar war, zeugt ein Artikel in der XXVI. Folge der "Sammlung von Angaben über Deutschland" des Bezirks Wilno für 1914. Er hieß "Polevye železnye dorogi v sovremennoj vojne" [Feldeisenbahnen im modernen Krieg]. RGVIA, Bestand 2000, IL. 1, Akte 2778, Bl. 35, Rückseite-45.
 
[72] Ausführlicher darüber siehe: Rosen, P.P.: Evropejskaja politika Rossii [Rußlands Europapolitik]. Vertrauliches Memorandum, zusammengestellt im Sommer 1912. Petersburg 1917.