Vergeblicher Versuch, den Holocaust „rational“ zu erklären.

Zum Buch von Johannes Rogalla von Bieberstein: „Jüdischer Bolschewismus“. Mythos und Realität. Mit einem Vorwort von Ernst Nolte, Edition Antaios, Dresden 2002, 311 Seiten.




Am 15. November 1879 schrieb Heinrich von Treitschke in seinem Aufsatz „Unsere Aussichten“: „Heute [ertönt es] wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!“, und mit diesem Satz hat der berühmte Gelehrte wesentlich dazu beigetragen, den Antisemitismus salonfähig zu machen. Treitschkes „Respektabilität“ schien den damals verbreiteten judenfeindlichen Mythen eine zusätzliche Glaubwürdigkeit zu verleihen, so dem Mythos von der „jüdischen Presse“, die die Sitten zersetze, oder dem von den „jüdischen Gotteslästerern“, die die angeblich so frommen Christen zur Abkehr von ihren überlieferten Glaubensvorstellungen inspirierten, wie auch der Legende vom „jüdischen Sozialismus“, der die „obrigkeitstreuen“ Unterschichten zum Kampf gegen ständische Privilegien und soziale Mißstände anstachele. Nach 1917 entstand neben dem Mythos von der „jüdischen“ Sozialdemokratie auch der Mythos vom „jüdischen“ Bolschewismus. Ungeachtet der Tatsache, daß die Sozialdemokraten sich vehement für die Rechte der Arbeiter einsetzten, die Bolschewiki hingegen die Arbeiter ihrer Rechte beraubten und die Sozialdemokraten unversöhnlich bekämpften, ordneten viele Antisemiten die beiden Bewegungen in die gleiche Kategorie „jüdisch“ ein.

In welcher Beziehung stehen all diese Denkklischees zur Realität? Diese Problematik stellt den Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Buches dar.

Versucht der Autor das bereits erwähnte diffuse Sammelsurium aus Ressentiments und Vorurteilen zu entwirren? Keineswegs. Das Ziel, das er verfolgt, ist im Grunde entgegengesetzter Natur. Er will nämlich beweisen, daß die Mythen vom „jüdischen“ Sozialismus, Atheismus oder Bolschewismus gar keine Mythen seien; sie stimmten seiner Ansicht nach mit der Wirklichkeit im wesentlichen überein.

Seine Ausführungen beginnt der Verf. mit geschmacklosen Anbiederungen an die Juden. Um zu beweisen, welch differenzierte Einstellung in seiner „Herkunftswelt“ gegenüber dem Judentum vorherrschte, stützt er sich auf folgende Aussage von Jacob von Uexküll: Auf den frommen und gesetzestreuen Juden könne man sich auch heute verlassen, aber vor einem abtrünnigen, glaubenslosen Juden solle man sich hüten. Dann erwähnt der Autor sogar, daß ein Vetter seiner Mutter eine Halbjüdin geheiratet habe.

Nach all diesen höchst merkwürdigen Präliminarien schreitet der Verf. zur „Analyse“, und so erfährt der erstaunte Leser, daß die Säkularisierung der westlichen Welt in erster Linie den „jüdischen Gotteslästerern“ anzulasten sei, deren kirchenfeindliche Aussagen der Autor wiederholt zitiert. Die Tatsache, daß unzählige Christen sich von der Kirche ohne jegliches Zutun der Juden abgewandt hatten, und zwar in der Zeit, in der die Juden noch keinen Einfluß auf den innerchristlichen Diskurs besaßen, wird in diesem Buch außer acht gelassen.

Auch bei seiner „Analyse“ des Mythos vom „jüdischen Sozialismus“ verkennt der Autor die wahren Sachverhalte. So versucht er die Zuspitzung des Konflikts zwischen dem Industrieproletariat und den besitzenden Klassen in erster Linie auf das Wirken der „messianisch“ gesinnten Sozialisten jüdischer Herkunft zurückzuführen. In Wirklichkeit übertreibt er maßlos die Rolle der Juden bei der Entstehung der Arbeiterfrage, die wohl den größten sozialen Sprengstoff West- und Mitteleuropas im 19. Jahrhundert darstellte.

Es ist zwar richtig, daß viele Juden, die Generationen lang um ihre eigene Gleichberechtigung gekämpft hatten, eine besondere Sensibilität gegenüber Unterdrückung jeglicher Art entwickelten. Allerdings kämpften sie um die Rechte der Arbeiter Seite an Seite mit unzähligen Christen. Abgesehen davon darf man zugleich nicht vergessen, daß sich in diesem Kampf viele Juden auf der anderen Seite der Barrikaden, nämlich auf der kapitalistischen befanden.

Der Autor begnügt sich allerdings nicht mit der „Entlarvung“ der jüdischen Wurzeln des Säkularisierungsprozesses bzw. der Sozialdemokratie. Sein Ziel ist wesentlich ehrgeiziger. Er will eine „rationale“ Begründung für den Holocaust liefern, der seiner Ansicht nach mit dem „Mythos“ vom „jüdischen Bolschewismus“ eng verbunden sei. Mit der These Claude Lanzmanns, daß die Frage nach dem „Warum“ des Holocaust eine „Obszönität“ sei, ist der Autor nicht einverstanden.

Und so begibt er sich auf das ihm offensichtlich wenig vertraute Terrain der russischen Geschichte bzw. der Geschichte der russischen Revolution, denn hier liegt seiner Meinung nach der „Schlüssel“ für die „rationale“ Erklärung des nationalsozialistischen Judenmordes.

Bei der Suche nach den Gründen für die russische Revolution lehnt sich der Verfasser im wesentlichen an die in den Kreisen der russischen Rechten verbreiteten Erklärungsmodelle an, die sich unablässig darum bemühen, die russische Revolution zu „entrussifizieren“. Die Revolution gilt ihnen als Ergebnis einer Verschwörung fremder Mächte und nichtrussischer Völker des Zarenreiches, in erster Linie der Juden. Sie hätten das zarentreue und tiefgläubige russische Volk mit der revolutionären Propaganda vergiftet und gegen die Obrigkeit aufgewiegelt.

In Wirklichkeit verhielten sich die Dinge viel komplizierter. Das eigentliche Drama der russischen Revolution spielte sich in erster Linie innerhalb des russischen Staatsvolkes ab, und sein Prolog begann in der Zeit, als die überwältigende Mehrheit der Juden noch im sogenannten „Siedlungsrayon“ zusammengepfercht war und sich an den allgemeinen russischen Entwicklungsprozessen kaum beteiligte: „Hundert Jahre lang hatte die russische Gesellschaft der Zarenmonarchie mit einer Revolution gedroht“, schrieb 1927 der russische Schriftsteller Mark Aldanov: „[Der letzte russische Zar] hat wahrscheinlich deshalb den Vorwarnungen nicht geglaubt, weil es so viele davon gegeben hatte“. [1]

Bereits der Dekabristen-Aufstand von 1825 zeigte, wie tief die Kluft zwischen den aktivsten Teilen der russischen Bildungsschicht und dem Zarenregime war. Und diese Kluft vertiefte sich im Verlauf der nächsten Jahrzehnte unentwegt. Diesen Weg der europäisierten Eliten begannen an der Schwelle zum 20. Jahrhundert auch die russischen Unterschichten zu gehen. Auch bei ihnen fand eine Erosion des Glaubens an den Zaren statt, und das nun entstandene Vakuum wurde durch einen beinahe religiösen Glauben an die heilende Kraft der Revolution ersetzt. Von der Revolution und nicht vom Zaren erwartete die Mehrheit der russischen Bauern nun die Beseitigung aller sozialen Ungerechtigkeiten, vor allem aber die Lösung der Agrarfrage. Bei den Wahlen zur ersten, vor allem aber zur zweiten Staatsduma (1906 und 1907) wählten die angeblich zarentreuen russischen Bauern fast geschlossen revolutionäre und nicht konservative Parteien. So sehe also der vielgepriesene Konservatismus der russischen Bauern aus, spottete damals der russische Ministerpräsident Sergej Witte, der im Gegensatz zu seinen Kabinettskollegen keine Illusionen in bezug auf die angebliche Zarentreue der russischen Unterschichten besaß. Dies war gerade die Zeit, in der sich die russischen Juden nach einem generationenlangen Sonderdasein in die russische Gesellschaft zu integrieren begannen. Dies war eine aufgewühlte, von einer revolutionären Gärung erfaßte Gesellschaft, in der die bewahrenden Kräfte nur über wenige Stützen verfügten und praktisch auf verlorenem Posten standen. So gerieten auch viele Juden, ebenso wie Vertreter anderer nichtrussischer Nationalitäten, die sich damals zu emanzipieren begannen, beinahe zwangsläufig in den Sog der oppositionellen Gesinnung, die im Lande vorherrschte.

Die Tatsache, daß große Teile der russischen Gesellschaft sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem revolutionären Taumel befanden, spiegelt sich in diesem Buch kaum wider. Der Autor konzentriert sich im wesentlichen auf die Suche nach den jüdischen Wurzeln der russischen Revolution, und diese Suche wird bei ihm zu einer Art Obsession. Dort, wo es ihm nicht gelingt, die jüdische Herkunft bestimmter führender Revolutionäre aufzudecken, führt er als Beweis für ihre eigentlich „jüdische Gesinnung“ die Tatsache an, daß sie mit Jüdinnen verheiratet waren, wie z. B. der Ahnherr der russischen Sozialdemokratie, Georgij Plechanov. Und bei einigen Revolutionsführern, bei denen auch dieser Beweis nicht erbracht werden kann, entdeckt er entfernte jüdische Verwandte, um damit ihre Ablehnung des zarischen Regimes zu begründen.

So erklärt er allen Ernstes die Leninsche Kritik an den Judenpogromen im Zarenreich damit, daß Lenin einen jüdischen Großvater hatte, der bereits als Kind getauft worden war. Als ob es unbedingt notwendig wäre, einen jüdischen Vorfahren zu haben, um die Judenpogrome zu verurteilen.

Wie der Autor mit Recht bemerkt, spielten führende Parteifunktionäre jüdischer Herkunft sowohl im bolschewistischen als auch im antibolschewistischen revolutionären Lager (Menschewiki, Sozialrevolutionäre u. a.) eine wichtige Rolle. Warum konzentriert er dann seine Aufmerksamkeit vor allem auf das Wirken der „jüdischen Bolschewiki“ und läßt die Tätigkeit ihrer unzähligen jüdischen Gegner, bis auf wenige Ausnahmen, praktisch außer acht? Warum wird von ihm nicht die Tatsache thematisiert, daß in den sowjetischen Terrororganen der Lenin-Zeit die Letten und in der späten Stalin-Zeit die Georgier überrepräsentiert waren? Die Antwort auf diese Frage ist relativ einfach. Die Konstruktion „jüdischer Bolschewismus“ hilft ihm sehr bei der Suche nach einer „rationalen“ Erklärung für den Holocaust, mit der Konstruktion „lettische“ oder „georgische Tschekisten“ kann er seine Scheintheorie nicht begründen. Und so schließt sich der Kreis, und die zu Beginn dieser Besprechung erwähnte Aussage Treitschkes „Die Juden sind unser Unglück“ gewinnt im Zusammenhang mit der Thematik dieses Buches eine außerordentliche Relevanz. Man darf nicht vergessen, daß Treitschke diesen Satz 38 Jahre vor der bolschewistischen Revolution formuliert hatte, als man den Juden noch keine Beteiligung an einem Terrorregime vorwerfen konnte.

Nicht anders verhielt es sich mit den Gedankengängen H. S. Chamberlains, der in seinen Grundlagen des 19. Jahrhunderts von 1899 bereits eine „Endlösung“ der jüdischen Frage vorgeschlagen hatte, weswegen Hitler und Goebbels ihn als ihren Wegbereiter betrachteten. Voller Bewunderung blickt Chamberlain auf das alte Rom, das die „phönizische Frage“ durch die Vernichtung von Karthago „gelöst“ habe:

„Wäre das phönizische Volk nicht ausgerottet, [...] so hätte die Menschheit dieses 19. Jahrhundert, auf welches wir jetzt, bei aller demütigen Anerkennung unserer Schwächen [...], doch mit Stolz [...] zurückblicken, niemals erlebt. Bei der unvergleichlichen Zähigkeit der Semiten hätte die geringste Schonung genügt, damit die phönizische Nation wieder entstehe. [...] In den Juden haben wir eine andere und nicht minder bedrohliche Abart des überall das Edle und Produktive zerfressenden Giftes zu erblicken, und man müßte blind oder unehrlich sein, wollte man nicht bekennen, daß das Problem des Judentums in unserer Mitte zu den schwierigsten und gefährlichsten der Gegenwart gehört.“ [2]

Wie dieses „schwierige Problem“ zu lösen sei, wird von Chamberlain indirekt angedeutet. Nicht zufällig geht er so ausführlich auf das Schicksal von Karthago ein. Die Härte Roms imponiert ihm viel mehr als der seiner Ansicht nach naive Edelmut der modernen Europäer.

Das im Grunde eliminatorische Programm Chamberlains wurde 18 Jahre vor der bolschewistischen Machtübernahme formuliert. Genauso wie Treitschke konnte also auch Chamberlain seine Dämonisierung der Juden nicht damit begründen, daß sie für die Errichtung eines totalitären Regimes mitverantwortlich seien. Er warf ihnen lediglich die angebliche Propagierung antigermanischer bzw. der germanischen Rasse fremder Ideen vor.

Pikanterweise wird Chamberlain vom Autor als weitblickender Warner vor der Folgen des Wirkens der „jüdischen Atheisten“ gepriesen.

Die Aussagen Treitschkes, Chamberlains wie auch vieler ihrer Gesinnungsgenossen zeigen, daß der Mythos vom „jüdischen Bolschewismus“ sich kaum dazu eignet, den Holocaust zu erklären. Denn der Judenhaß steht selten mit konkreten Handlungen von Juden in Verbindung. Handlungen des Haßobjekts werden in der Regel nur selektiv als Vorwand genutzt, um die bereits bestehenden Denkklischees zu bestätigen.

Der nationalsozialistische Judenmord stellte im Gegensatz zu den Thesen des Autors wie auch seines Mentors Ernst Nolte, der in seinem Vorwort diese fragwürdige Studie über alle Maße lobt, keine Reaktion, sondern eine eigenständige Aktion des NS-Regimes dar. Das Dritte Reich verwirklichte bloß die eliminatorischen Träume vieler Judenhasser, die Jahrzehnte vor der bolschewistischen Revolution entstanden waren.

Um den Holocaust aus der Theorie in die Praxis umzusetzen, bedurfte es aber der massenpathologischen Atmosphäre des „Jahrhunderts der Extreme“ (E. Hobsbawm), das durch die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (G. F. Kennan) – den Ersten Weltkrieg – eingeleitet worden war. Das über viele Jahrhunderte hindurch vom Alten und vom Neuen Testament geprägte europäische Menschenbild wurde durch die Orgien der bolschewistischen und der nationalsozialistischen Gewalt zerstört. Archipel Gulag und Auschwitz waren die Folgen dieser zivilisatorischen Katastrophe.

Rußland und Deutschland bildeten das Zentrum dieses verheerenden Aufstandes gegen die überlieferten europäischen Wertvorstellungen, dessen Auswirkungen allerdings im gesamten europäischen Kontinent zu spüren waren und weit darüber hinausgingen. Unzählige Nichtdeutsche und Nichtrussen waren vom nationalsozialistischen wie auch vom bolschewistischen Vorhaben fasziniert, eine „reinrassige“ oder eine „klassenlose“ Gesellschaft zu errichten. Die letztere Vision übte auch auf viele Juden eine außerordentliche Anziehungskraft aus, wovon in diesem Buch ausführlich die Rede ist. Aber auch viele Franzosen, Italiener, Tschechen, Spanier und Vertreter anderer Völker wurden vom Lenin- bzw. Stalin-Wahn erfaßt, so wie Millionen von Deutschen dem Hitler-Wahn erlagen.

Wie repräsentativ war aber der Glaube an die heilende Kraft der kommunistischen Idee für die jüdische Bevölkerung als solche? Diese durchaus komplizierte Frage, ähnlich übrigens wie die Frage nach dem Ausmaß der deutschen Unterstützung für den Nationalsozialismus, beschäftigt den Autor. Vehement protestiert er gegen die gelegentlich vertretene These, die Deutschen seien als Nation für die Taten der Nationalsozialisten und für die Errichtung des nationalsozialistischen Regimes verantwortlich. Und in der Tat wurde die NSDAP in der Zeit, als die Deutschen noch die Möglichkeit besaßen, frei zu wählen, niemals von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Ihren größten Erfolg bei freien Wahlen erreichten die Nationalsozialisten am 31. Juli 1932, als etwa 37 % der Wähler sich für sie aussprachen. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme lassen sich verläßliche Zahlen über die Unterstützung des Regimes durch die Bevölkerung nicht mehr ermitteln. Authentische Wahlen bzw. Meinungsumfragen waren nicht mehr möglich. Sebastian Haffner ist der Ansicht, daß etwa 1938 die überwältigende Mehrheit der Deutschen die Regierung unterstützte. Man kann davon ausgehen, daß sich diese Zahl nach dem überraschenden Sieg der Wehrmacht über Frankreich im Mai/Juni 1940 noch erhöhte. All diese Angaben basieren aber im wesentlichen auf Vermutungen.

Und wie verhält es sich mit der jüdischen Unterstützung für den Bolschewismus bzw. für den Kommunismus? Die Tatsache, daß die Juden in den Führungen vieler kommunistischer Parteien überproportional vertreten waren, hält der Autor für einen ausreichenden Beweis für seine These, daß der Bolschewismus im wesentlichen „jüdische“ Züge trage. Reicht aber dieser „Beweis“ wirklich für eine derartige Verallgemeinerung aus? Um konsequent zu bleiben, müßte der Autor dann auch das Bankwesen oder solche wissenschaftlichen Disziplinen wie die theoretische Physik oder die Psychoanalyse als „jüdisch“ bezeichnen, denn auch in diesen Bereichen spielten die Juden eine unverhältnismäßig große Rolle. Und schließlich darf man nicht vergessen, daß die Zahl der Deutschen in der nationalsozialistischen Führung wesentlich höher war als die Zahl der Juden in den führenden Gremien vieler kommunistischer Parteien. Dessen ungeachtet wehrt sich der Autor vehement gegen die gelegentlich vertretene Tendenz, den Nationalsozialismus als ein typisch deutsches Phänomen zu bezeichnen. Von einem vergleichbar differenzierten Umgang mit dem Begriff „jüdischer Bolschewismus“ merkt man indes in diesem Buch, bis auf wenige Ausnahmen, nicht allzuviel.

Welchen Rückhalt genossen die Kommunisten wirklich bei der jüdischen Bevölkerung insgesamt? Eine präzise und auf genaue Zahlen gestützte Antwort auf diese Frage stellt ein äußerst kompliziertes Unterfangen dar, weil die Juden bis 1948 keinen eigenen Staat besaßen. So ist die Zahl der jüdischen Wähler für die kommunistischen Parteien in den Ländern der jüdischen Diaspora nicht leicht zu ermitteln. Erst nach der Gründung des Staates Israel änderte sich diese Situation, und man kann von diesem Zeitpunkt an mit verläßlichen Zahlen operieren. Und wie sehen diese Zahlen aus? So erzielte die israelische KP bei den ersten Knesseth-Wahlen vom Januar 1949 weniger als 4 % der Stimmen. Und dies ungeachtet der Dankbarkeit, die viele Juden gegenüber der Sowjetunion wegen des Sieges über das Dritte Reich und wegen der Unterstützung des Staates Israel in seiner Gründungsphase empfanden.

Von diesem für die Kommunisten enttäuschenden Wahlergebnis erfährt man aber nichts in diesem Buch. Denn dies würde die Grundthese des Buches, daß es sich beim Bolschewismus um eine vorwiegend jüdische Angelegenheit handele, erschüttern. Auch darin sieht man, daß es sich bei dieser Schrift nicht um eine gründliche wissenschaftliche Untersuchung, sondern im wesentlichen um ein tendenziöses Pamphlet handelt.

(Leonid Luks)


[1] Zit. nach Moskovskie novosti 27.09.1992, S. 21.
[2] Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. München o. J., S.162f.