Buchbesprechung von N. Lobkowiccz |
V. Buchbesprechungen Der neueste Band der Serie „Dokumente der sowjetischen Geschichte“, die bei russischen und ausländischen Wissenschaftlern verdiente Anerkennung findet, ist erschienen. Die Herausgeber des Sammelbandes wenden sich einem Problem zu, das nicht nur für die Geschichte des späten Stalinismus, sondern auch für die zwei darauffolgenden Jahrzehnte zentral ist. Die Rede ist davon, wie der politische Mechanismus der Sowjetunion „weitab vom Zentrum“ funktionierte, wie groß der Einfluß der führenden regionalen Parteikader war und nach welchem Prinzip sich die Nomenklatura der einzelnen Republiken und Gebiete formte. Die neue Publikation wird den ewigen Streit zwischen den Verfechtern der Totalitarismus-Theorie und den „Revisionisten“ über das Wesen des Sowjetsystems wohl kaum beilegen können, jedoch zweifellos diesen wie jenen neue Argumente liefern. Der erste Abschnitt des Sammelbandes behandelt diverse Aspekte der Kontrolle, die das Zentrum über die nachgeordneten Ebenen des Partei- und Wirtschaftsapparates ausübte. Sie lag in der Zuständigkeit des Organisationsbüros und des Sekretariats des ZK; in einigen Fällen wurden (meist für die 1940 gegründeten Republiken) spezielle Büros gebildet und ständige Bevollmächtigte des ZK der KPdSU(B) ernannt, die an Ort und Stelle wirkten. Eine allgemein anerkannte Praxis bestand in der Überprüfung von Regionen durch ZK-Instrukteure, denen sich in Krisensituationen Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft anschlossen. Das System von sich überlappenden Kontrollen gab Stalin die Möglichkeit, nicht nur Belastungsmaterial über seine Umgebung zu sammeln, sondern auch in ihrem Milieu ein kompliziertes System von Kader-Gegengewichten aufzubauen. Als z. B. der Erste Sekretär der KP Aserbaidschans M.D. Bagirov buchstäblich um Hilfe rief, konnte Stalin die Richtung des Schlages umkehren und ihn gegen die Untersuchenden selbst richten (das Opfer war in diesem Fall L.Z. Mechlis, Minister für staatliche Kontrolle der UdSSR Dok. 46). Trotz der „organisatorischen Konsequenzen“, von denen jede Kontrolle begleitet wurde, entgingen der Aufmerksamkeit von Moskau verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens; es entstanden darin allmählich horizontale, clanmäßige Strukturen und gegenseitige Beziehungen. Die Herausgeber des Sammelbandes betonen, daß auch nach dem Krieg „nach wie vor in bedeutendem Maße [...] überwiegend zu administrativ-repressiven Maßnahmen [...] gegriffen wurde, wenn es galt, Widersprüche, die im System Zentrum Regionen entstanden, zu beseitigen“ (S. 5). Die zentrale Stelle im Sammelband nimmt der Abschnitt „Säuberungen in den regionalen Führungsgremien“ (Dok. 76-134) ein. Der Leser erhält zusätzliche Informationen sowohl über die ihm aufgrund der wissenschaftlichen Literatur schon bekannten Fälle („Leningrader Fall“, „Mingrelier-Fall“) als auch über weniger bekannte „Affären“ ähnlicher Art. Bemerkenswert ist, daß in der Liste von Verbrechen der regionalen Elite aus der Nachkriegszeit nicht politische Abweichungen, sondern solche Fakten wie materielle Entwendungen und moralische Zersetzung überwiegen. Ein Kapitel für sich ist der Fall der Leiter des Jüdischen Autonomen Gebiets, denen Vorschubleistung bei der „Propaganda der zionistisch-nationalistischen Ansichten“ zur Last gelegt wurde (S. 208). Leider zeugt nur ein Dokument von dem Fall, was ihn nicht in die Strategie des offiziellen Kampfes gegen den „Kosmopolitismus“ einreihen läßt. Der entsprechende Beschluß des Politbüros vom 25. Juni 1949 setzte einen besonderen Akzent auf die Bekämpfung der amerikanischen Propaganda. Unter den Kanälen ihrer Einschleusung wurden selbst „Fakten des Empfangs von Lebensmittel-Paketen“ aus den USA durch Sowjetbürger erwähnt. Zwanzig Dokumente des Sammelbandes gelten dem „Leningrader Fall“ von 1949 und seinen Nachwirkungen im Lande. Diese Säuberung, die mit der Erschießung mehrerer Vertreter der höchsten Führung des Landes endete, erinnerte an die Epoche des Großen Terrors. Dabei zeigen die Dokumente, daß die Situation in der Leningrader Parteiorganisation für jede beliebige Region des Landes typisch war. Die Herausgeber des Sammelbandes mußten natürlich die Frage behandeln, warum sich Stalin zur Ausdehnung der Leningrader Erfahrungen auf das ganze Land doch nicht entschlossen habe. Ihrer Ansicht nach betrachtete der sowjetische Diktator nach dem Krieg gewisse regionale „Sonderwege“ der örtlichen Beamten „bereits nicht als eine Bedrohung des Regimes, die radikale Beschlüsse erfordert hätte“. Das hing mit den Nachwirkungen des siegreichen Krieges zusammen, aber auch mit Stalins Überzeugung, die neuen Kader seien ihm unbedingt ergeben (S. 8). Die sporadischen Repressalien der Nachkriegsjahre waren nicht zuletzt Stalins Reaktion darauf, daß sich sowohl innerhalb der regionalen Elite als auch zwischen ihren Vertretern und den Moskauern „Chefs“ ein System von informellen Beziehungen (damals hießen sie „Chefbeziehungen“) herausbildete. Entgegen dem Willen des Diktators entstand die den Politologen bekannte Hierarchie von Patronen und Vasallen, in der bei der Auswahl von Kadern keineswegs ihre Kompetenz, sondern ihre persönliche Ergebenheit ins Gewicht fiel. Das Bestehen von Beamtenclans schloß die Cliquenwirtschaft, das gegenseitige Decken von Fehlern und Versäumnissen ein, in den Korridoren der Macht herrschte zunehmend der Kreislauf von Dokumenten, der die Annahme von erforderlichen Beschlüssen abblockte. Dahinter steckten nicht so sehr eigennützige Interessen, vielmehr ging es darum, Ressourcen herauszuschlagen, die zum Überleben der eigenen Region notwendig waren (siehe die im dritten Abschnitt des Sammelbandes veröffentlichten Schreiben örtlicher Leiter an das Zentrum). Bestandteil der informellen Beziehungen war der hinter den Kulissen geführte Kampf der Clans untereinander, in dem amtliche Interessen eng mit den persönlichen verflochten waren. So wuchs sich, wie die Kaderverwaltung des ZK der KPdSU(B) feststellte, die Verteilung wichtiger Posten in der Leitung der kommunistischen Partei Armeniens zu lauten Skandalen aus. „Eine der auffälligsten Äußerungen der Streitsucht sind die prinzipienlosen Beziehungen zwischen dem Minister für Staatssicherheit und dem Innenminister (Armeniens A.V.), die sich negativ auf die Tätigkeit dieser Ministerien auswirken und den Staatsinteressen Schaden zufügen“ (S. 77). Aber infolge der totalen Isoliertheit der herrschenden Spitzenschicht von der Gesellschaft konnte Stalin keine effektiven Mechanismen zur Bekämpfung solcher Erscheinungen finden. Die veröffentlichten Dokumente verhelfen zur Erkenntnis der inneren Dynamik der Periode von 1945-1953. Sofort nach Kriegsende fand, besonders in den Gebieten, die okkupiert gewesen waren, eine gründliche Umbesetzung von Kadern statt. Teilnehmer der illegalen Arbeit wurden überprüft, alte führende Funktionäre kehrten aus der Evakuierung zurück. Es wirkte sich auch der Zustrom von demobilisierten Offizieren, vor allem von Politoffizieren, zur Nomenklatura aus, und bei weitem nicht alle von ihnen erwiesen sich als fähig, sich ins friedliche Leben zu integrieren. Hier Angaben des Organisationsbüros für den Juni 1946 aus der Ukraine: „Von den 19.000 wichtigsten leitenden Mitarbeitern wurden in den letzten anderthalb Jahren 9.620 Personen bzw. 50,7 % ausgewechselt, wobei 62 % der abgesetzten leitenden Mitarbeiter ihr jeweiliges letztes Amt weniger als ein Jahr lang innehatten“ (S. 49). An der Wende zu den fünfziger Jahren erlangte das Nomenklatura-System zusätzliche Konsolidierung und Stabilität, es entstanden die Grundlagen jener Beamtenrotation, dank welcher ein Leiter, der sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, nie „aus dem Nest fiel“ und ständig auf gleicher Führungsebene blieb. Eine unter den regionalen Leitern populäre Methode, unbequeme Mitarbeiter loszuwerden, war ihre Entsendung zum Studium nach Moskau. Die umgekehrte Bewegung die Entsendung von Mitarbeitern des ZK-Apparates auf führende Posten in die Regionen verlor den Charakter einer ehrenvollen Verbannung und wurde zu einem folgenreichen Sprungbrett für die spätere Karriere. Ein weiterer Aspekt des Funktionierens des Nomenklatura-Systems, auf den die Herausgeber des Sammelbandes hinweisen, war die materielle Versorgung seiner Mitglieder (Dok. 62-75). Vieles in dieser Sphäre war auf die Findigkeit der „unteren Ebene“ zurückzuführen, die einen für das Stalinsche System erstaunlichen Reichtum an Initiative an den Tag legte. So waren die Praktiken der Prämiierung von Parteifunktionären aus den Mitteln von Ministerien und Betrieben ein anschauliches Beispiel für die Verflechtung der verschiedenen Zweige der örtlichen Nomenklatura miteinander (Dok. 65). Das Zentrum geißelte unermüdlich die „Zersetzung und kleinbürgerliche Entartung, die sich im Bau von persönlichen Häusern aus staatlichen Mitteln, in der Verschleuderung des Staatseigentums und der staatlichen Gelder, in der Auspowerung von Kolchosen äußerte“ (S. 77), konnte jedoch dem Drang der Beamten nach persönlicher Bereicherung nichts entgegensetzen. Erstaunlicherweise klingen viele solcher Beschuldigungen höchst aktuell und werfen die Frage nach Parallelen zwischen dem Leben und Wirken der Stalinschen Nomenklatura und der heutigen russischen politischen Elite auf. Ein unbestreitbarer Vorzug der Publikation sind die ausführlichen Kommentare zu den Dokumenten, die in einer Reihe von Fällen als selbständige Quelle betrachtet werden können. Diese Eigenschaft besitzt z. B. ein Auskunftsbericht des Generalstaatsanwalts der UdSSR über die Ergebnisse der Überprüfung der Richtigkeit der Verurteilungen von Kolchosvorsitzenden im Gebiet Smolensk (S. 65-68). Der Bericht gibt eine anschauliche Vorstellung von den Ausmaßen des administrativen „Druckes“ auf örtlicher Ebene und der absoluten Rechtlosigkeit der Menschen, die Getreide anbauten und an den Staat ablieferten. Beachtung verdienen auch die biographischen Auskünfte im Anhang zum Buch (S.406466). Aufgrund des Nomenklatura-Verzeichnisses aus dem ehemaligen Archiv des ZK der KPdSU aufgestellt, liefern sie Informationen nicht nur über die regionale Führung, sondern auch über die örtlichen Behörden zweiter Reihe. Bei weitem nicht alle im Sammelband vertretenen Dokumente sind von gleichem Wert, die Kriterien ihrer Auswahl und ihrer Aufnahme in den einen oder anderen Abschnitt sind nicht immer klar. Eine überflüssige Belastung des Lesers stellen nach meinem Ermessen das mehrseitige Verzeichnis der örtlichen Abteilungen von Industrie und Transport, die Lehrpläne der Parteihochschulen oder Kaderernennungen von gleichem Typ dar. In der Einführung wird erwähnt, daß die Nomenklatura des ZK der KPdSU zum Zeitpunkt von Stalins Tod über 45.000 Posten zählte. Man möchte mehr darüber erfahren, wie sich diese Posten auf die wichtigsten Behörden und Wirtschaftszweige verteilten und wie hoch ihre Zahl auf jeder Stufe der Nomenklatura-Hierarchie vom Ersten Sekretär eines Gebietskomitees der KPdSU bis zum Instrukteur eines Rayonkomitees war. Dennoch ist das Erscheinen eines weiteren Bandes der Serie „Dokumente der sowjetischen Geschichte“ ein bemerkenswertes Ereignis für Wissenschaftler, die sich mit den Problemen des Stalinismus befassen. Das Buch, das hier rezensiert wird, enthält keine aufsehenerregenden Dokumente und politischen Sensationen, vielmehr stellt es eine thematische Sammlung von Quellen dar, die wohldurchdacht ausgewählt und mit einem ausreichenden Kommentar versorgt sind. Selbst wenn sie den Wissenschaftlern der neuen Generation auch keine fertigen Antworten auf die in der Einführung formulierten Fragen geben, werden sie ihnen auf jeden Fall bei der Bekanntschaft mit der komplizierten und verworrenen Welt der Stalinschen Nomenklatura wertvolle Einblicke vermitteln. Aleksandr Vatlin (Übersetzung: Nina Letneva) Manfred Spieker (Hrsg.): Katholische Kirche und Zivilgesellschaft in Osteuropa. Postkommunistische Transformationsprozesse in Polen, Tschechien, der Slowakei und Litauen. Verlag Ferdinand Schöningh: Paderborn-München-Wien-Zürich 2003, 462 S. (Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Bd. 22).
Der Herausgeber dieses Bandes, ein Schüler von Hans Maier, seit 1983 Ordinarius für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück, legt mit dem anzuzeigenden Buch die Ergebnisse eines von der Volkswagen-Stiftung unterstützten dreijährigen Forschungsprojektes vor. Ziel des Forschungsprojektes war festzustellen, wie stark die katholische Kirche in postkommunistischen Ländern zur Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen beigetragen hat, und welche Bedeutung dabei der „Christlichen Gesellschaftslehre“, also der Sozialphilosophie und -theologie der Päpste seit Leo XIII., zukam. Daß das Forschungsprojekt nur vier Länder des vormaligen Ostblocks berücksichtigt hat, ist wohl dadurch zu erklären, daß man sich auf Länder beschränken wollte, in denen die katholische Kirche seit Jahrhunderten eine maßgebliche Rolle gespielt hatte; schon Tschechien, das vormalige Königreich Böhmen und Mähren, ist aufgrund seiner höchst komplizierten Religionsgeschichte in dieser Hinsicht ein Grenzfall (nur rd. ein Viertel der Tschechen verstehen sich heute noch als Katholiken, von denen weniger als 6 % regelmäßige Gottesdienstbesucher sind), konnte aber nicht übergangen werden, da sonst die Entwicklung in der Slowakischen Republik (immer noch zu fast 70 % katholisch) kaum darzustellen war (die Teilung der Tschechoslowakei fand ja erst Anfang 1993 statt). Was genau unter „zivilgesellschaftlichen Strukturen“ zu verstehen ist, wird nicht definiert. Nur die ersten zwei Kapitel des Beitrages von Spiekers Assistent Dirk Lenschen über „Kirche und Zivilgesellschaft in Polen“ gehen eingehender der Geschichte dieses Begriffes nach und erörtern unter Berücksichtigung von Überlegungen von Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas Themen wie das Demokratisierungspotential der Zivilgesellschaft, die Vermittlung von Grundwerten und die „kritische Funktion“ der Religion. Gemeint ist wohl, was die katholische Kirche neben der inneren Erneuerung zum gesellschaftlichen und ökonomischen Transformationsprozeß des jeweiligen Landes beigetragen hat und inwiefern katholische Laien der Aufforderung des Zweiten Vatikanum folgen, ihre Berufung darin zu sehen (und sie auch engagiert wahrzunehmen), „das Reich Gottes in der Verwaltung und gottgemäßen Regelung der zeitlichen Dinge zu suchen“ (Lumen gentium 31). Da dies nur darzustellen war, nachdem die Situation, das Selbstverständnis und die Tätigkeit der Kirche im jeweiligen Land insgesamt analysiert worden war, ist auf diese Weise ein Buch entstanden, das zahllose wichtige (und zuweilen auch weniger wichtige) Informationen enthält, etwa über die kirchlichen Traditionen des Landes, den ökumenischen Dialog, das Engagement der Kirche bei politischen Kontroversen, staatskirchliche Regelungen, Probleme der europäischen Integration und nicht zuletzt innerkirchliche und gesellschaftliche Hindernisse. Die einzelnen Beiträge von jeweils etwa 80 bis 100 Seiten (Polen: Stanisław Jopek; Tschechische Republik: Petr Křížek, Slowakei: Luba Žaloudková, Litauen: Andrius Navickas, jeweils zusammen mit mehreren Mitarbeitern) folgen so weit wie möglich demselben Schema. Zunächst wird die Geschichte, Lage und Rolle der Kirche im jeweiligen Land skizziert, dann werden die Transformationsprozesse innerhalb der Kirche dargestellt, dann die Aktivitäten nach 1989 (darunter u. a. in Schulen und Medien sowie der Dialog mit den politischen Eliten), danach die Beziehung der Kirche zum demokratischen Staat und ihr Verständnis der europäischen Integration, und schließlich gehen die Autoren auf Probleme und Hindernisse in den Transformationsprozessen ein und versuchen, Zukunftsperspektiven aufzuzeigen. Dieses Vorgehen erlaubt Vergleiche zu ziehen, Parallelen zu entdecken, Unterschiede hervorzuheben. Was die Rezeption und Auswirkungen der Katholischen Soziallehre betrifft, scheinen sie in allen vier Ländern nicht weit über ein kursorisches Studium der Sozialenzykliken hinausgekommen zu sein. Einführungen in der Landessprache und Analysen sozialer und politischer Entwicklungen anhand der Kriterien der Katholischen Soziallehre sind selten. Kein Wunder, da sie ja sozialwissenschaftliche Kompetenzen voraussetzen würden, die nach der Wende verständlicherweise nur selten zu finden waren (eine Übersetzung von Bernhard Sutors Politischer Ethik, 2. Aufl l992, ist m. W. nur in Polen erschienen). Kompetente katholische Sozialwissenschaftler sind auch in katholischen postkommunistischen Ländern immer noch eine Seltenheit (es gibt sie freilich: in Polen an der Warschauer Wyszyński-Universität, in der Tschechischen Republik Politikwissenschaftler an der Universität Brünn, die freilich nicht immer mit der „Politik“ der Bischofskonferenz einverstanden sind). Bei Spiekers Darstellung des Forschungsprojekts wird freilich nebenbei deutlich, daß dies oft auch im Westen nicht viel anders aussieht. In einer amerikanischen Veröffentlichung aus dem Jahre 1998 heißt es selbstkritisch (die Autoren waren drei Jesuiten), ihre Soziallehre sei the best kept secret in the Roman Catholic Church. Das Buch erschien zwei Jahre vor der Aufnahme der vier Länder in die EU; es wäre lohnend, es durch regelmäßig erscheinende Folgeprojekte fortzusetzen. Denn es gab Überraschungen. So waren in Polen die artikuliertesten Gegner des Eintritts in die EU die Bauern, da sie von ihm erhebliche wirtschaftliche Nachteile erwarteten; heute sind sie diejenigen, die in Polen am deutlichsten an den wirtschaftlichen Vorteilen dieser Entwicklung teilnehmen, da der Westen sich um ihre Produkte reißt sie sind billiger und oft auch in ihrer Qualität erheblich besser als westliche Agrarprodukte. Der tschechische Staatspräsident Václav Klaus galt, als er noch Ministerpräsident war, als einer der führenden Euroskeptiker, mit dem Argument, man könne doch nicht gut Teile der nationalen Souveränität abgeben, nachdem man sie vor kurzem überhaupt erst wiedergewonnen habe. Heute hört man aus seinem Munde keine solche Aussagen mehr; im Gegenteil hat die Tschechische Republik energisch die Chance aufgegriffen, an gesamteuropäischen Projekten mitzuwirken. Dergleichen Entwicklungen sind sicher nicht ohne Auswirkung auf die sozialpolitischen Entscheidungen der jeweiligen Kirchen geblieben. Ein für die Demokratisierung und den wirtschaftlichen Erfolg postkommunistischer Länder wichtiges Thema kommt in dem Band leider ein wenig zu kurz: Bemühungen um die Überwindung der allgegenwärtigen Korruption. Gerne hätte man etwas mehr darüber erfahren, inwiefern die Kirche energisch und wirksam genug gegen dieses Grundübel postkommunistischer Länder protestiert. Nikolaus Lobkowicz
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[1] Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspoli-tik im Zweiten Weltkrieg. Hamburg 1999. [2] Götz, Aly: Hitlers Volksstaat, in ders.: Rasse und Klasse. Nachforschungen zum deutschen Wesen. Frankfurt a. M. 2003. [3] Ebenda, S. 240. [4] Ebenda, S. 243. [5] Raim, Edith: Die Dachauer KZ-Außenkommandos Kaufering und Mühldorf. Rüstungs-bauten und Zwangsarbeit im letzten Kriegsjahr 1944/45. Landsberg a. Lech 1992, S.293. |