Buchbesprechung von L. Luks


Buchbesprechung von J. Motyl

V. Buchbesprechungen

Simon Sebag Montefiore: Stalin. The Court of the Red Tsar. Phoenix, Orion Books Ltd., London 2004, 720 S., 25,- £

 

Montefiore hat ein furioses Werk vorgelegt, das im Jahre 2004 in Großbritannien zum „Geschichtsbuch des Jahres“ gewählt wurde. In zahlreichen emphatischen Rezensionen wurde es zur besten Biographie Stalins erklärt, die je geschrieben worden ist. Gewiß trug dazu der Umstand bei, daß Montefiore in emsiger Arbeit die bisher nicht ausgewerteten Archivbe­stände durchwühlt und Gespräche mit noch lebenden Zeugen der Stalin-Ära durchge­führt hat. Eine nicht minder große Bedeutung für den Erfolg des Buches liegt aber auch in der Tatsache, daß der Autor als erfahrener Biograph großer Männer der russischen Geschichte durch gezielten Rückgriff auf die „leichte Kost“ der Geschichtsschreibung – auf Anekdoten – eine alle Standards der Wissenschaft erfüllende Untersuchung zu einem spannenden Roman werden ließ. Gerade darin scheint der kommerzielle Erfolg des Buches begründet zu sein, vermeidet doch der Verfasser sensationelle Thesen, und sein Urteil bleibt stets nüchtern ausgewogen. Der Leser wird aber trotzdem garantiert von der Darstellung und Ana­lyse der den Sowjetdiktator umge­benden Welt ergriffen sein.

Dem Schein zum Trotz hat Montefiore keine Biographie Stalins vorgelegt. Nicht von unge­fähr lautet der Untertitel seines Werkes „Der Hof des roten Zaren“, worunter die Stalin am nächsten stehenden Menschen verstanden werden. Die Erzählung über sie beginnt mit der literarisch anmutenden Darstellung der letzten Stunden von Nadežda Allilueva am Tag ihres vermeintlichen Selbstmordes am 8. November 1932. Nach Montefiore markiert dieser Tag den Wendepunkt im Leben jener höchsten Funktionäre der bolschewistischen Partei, die im Kreml und in dessen Nähe lebten. Das familiäre Scheitern Stalins wird somit zu einem Grund erklärt, wes­halb der sozialistische Diktator auch seine nächsten Mitarbeiter und Angehörigen dem Terror unter­stellte. Montefiore verfällt jedoch keineswegs in billiges Psychologisieren, sondern ist viel­mehr bemüht, die Wirklichkeit außerhalb des „Hofes“ nicht aus den Augen zu verlieren. Zugleich aber schreibt er keine Geschichte der Sowjetunion, obwohl der Hunger der Kollektivierungszeit, die Industrialisierung, der fürchterliche Krieg gegen die Deutschen und der Hunger nach dem Zweiten Weltkrieg in seinem Buch immer, wenn auch meistens nur andeu­tungsweise, präsent sind. Er konzentriert sich jedoch klar vor allem auf den „Hof“.

Dieser entwickelt sich im Laufe der dreißiger Jahre zunehmend zu einem Hort der mit Privi­legien versüßten Überlebensangst. Diese wird durch die Spirale des Terrors gesteigert, der als Reaktion auf die Ermordung von Kirov im Dezember 1934 beginnt und in den Jahren 1936–38 seinen Höhepunkt erreicht. Montefiore zeigt sowohl die Lenkung der Terror­maschine durch Stalin als auch das unerträgliche Warten der höchsten Funktionäre samt ihrer Familien auf Verhaftung wie auch die Folgen der Drangsalierung. Das Auseinanderfallen der freundschaftlichen Gemeinschaft der Kreml-Größen im Laufe der Dreißiger spiegelt in gewisser Weise die Atomisierung der „normalen“ sowjetischen Gesellschaft in der gleichen Zeit wider. Den höchsten Funk­tionären werden Privilegien entzo­gen, ihre Familien werden zerstört, Kinder verwaisen und werden in staatliche Einrich­tungen abgeschoben – all dies dient der Beseitigung der tatsächlichen wie auch der potentiel­len Widersacher Stalins, die sich während des 17. Parteikongresses im Januar 1934 gegen ihn zu verschwören begannen. Die unter Druck gesetzten Spitzenbolsche­wiki bestehen diese schwierige Prüfung nicht. Sie lehnen sich gegen den Diktator nicht auf, wenngleich sie ein breites Spektrum an charakterologisch motivierten Überlebensstrategien an den Tag legen: von der grenzenlosen Naivität eines Nikolaj Bucharin über den kalkulierten Funktio­nalismus eines Vjačeslav Molotov oder Lazar’ Kaganovič bis zur sadistischen und sexuellen Degeneration der Chefs der „Organe“: Ežov, Jagoda und Berija.

Vor diesem Hintergrund erscheint Stalin als ein geradezu begnadeter Zyniker, der als Draht­zieher des Terrors seine Rolle nicht zuletzt durch die Morde an Ežov und Jagoda zu ver­stecken weiß, was dazu führte, daß nicht nur die gewöhnlichen Sowjetuntertanen immer wieder seufzten: „Wenn Stalin es nur wüßte, was nun mit den Menschen geschieht!“ Stalin wird somit als der gewiefteste Killer in einer Clique von nicht zuletzt ideologisch motivierten Verbrechern gezeigt. Die Spit­zenfunktionäre waren einander insofern alle gleich, als sie sich zum Teil rührend um das Schicksal ihrer Familien und insbesondere ihrer Kinder kümmern, während sie allesamt ohne Widerrede Befehle, die Hunderttausende und Millionen Menschen das Leben kosten, signie­rten. Montefiore läßt keinen Zweifel daran entstehen, daß nicht nur die berüchtigten Chefs der „Organe“ samt Stalin, sondern auch Chruščev, Kaganovič, Molotov, Malenkov u. a. – wie Chruščev es ausdrückte – „Hände bis zum Ellenbogen in Blut“ hatten. Stalin ragte insofern heraus, als er seine Intelligenz, politische Erfahrung und Autorität, die von niemandem angezweifelt wurde, im fürchterlichen Spiel des Terrors am besten einzusetzen wußte.

Als der einzige Gegner, der ihm fast gewachsen war, wird Hitler dargestellt. Stalin, daran gewöhnt, daß die ausländischen Politiker bestimmten Prinzipien folgen, hat seinen deutschen Partner völlig falsch eingeschätzt. Dieser hat sich nämlich als ein ebenso rücksichtsloser Mörder erwiesen, dem weder die Ehre noch das Menschenleben etwas bedeuteten. In­tellektuell war er aber Stalin unterlegen, was nicht zuletzt in seinen „Kriegskünsten“ zum Ausdruck kam. Im Gegensatz zum sowjetischen Diktator, der nach vernichtenden Niederla­gen gegen die Deutschen im Jahre 1941 gelernt hatte, daß er sich auf die Kompetenz jener wenigen Hochoffiziere stützen muß, die er vor 1939 nicht hatte umbringen lassen, verstand sich der militärische Dilettant Hitler bis zum Ende als ein Feldherr. Stalin gelang es dagegen, seine fähigsten Generäle (vor allem Žukov) sowohl gegen die deutschen Angreifer zu nut­zen als auch nach dem Krieg zu entmachten. Seine Autorität als „Bezwinger des Faschis­mus“ ist dadurch so groß geworden, daß er nach dem Krieg eigentlich keinen Widersacher mehr zu fürchten brauchte. Trotzdem ging er erneut gegen seine vermeintlichen Gegner vor. Daß keine neue Spirale des großen Terrors aufgedreht werden konnte und die große Verfolgung von Juden und Ärzten letztlich ausblieb, geht ausschließlich auf den Tod des Autokraten Anfang März 1953 zurück. Er lag einige Tage lang im Sterben, davon einen halben Tag auf seinem mit Urin befleckten Sofa ohne ärztliche Fürsorge allein gelassen, während die Mitglieder des Politbüros die Weichen für den Kampf um die Nachfolge stellten.

Montefiore liefert neben dem Porträt Stalins, der nicht nur als Politiker, sondern auch als Vater, Intellektueller und „Freund“ gezeigt wird, zahlreiche Persönlichkeitsskizzen der wichtigsten Parteifunktionäre. Ferner erhellt er Hintergründe, die zahlreiche Erscheinungen der da­maligen Zeit besser verstehen lassen. Trotzdem bleibt Stalin die zentrale Figur des Werkes. Er erscheint als ein Mensch aus Fleisch und Blut, etwa in Ausführungen über seine in­tellek­tuellen Qualitäten – er hat unermüdlich gelesen, nach seinen eigenen Angaben ca. 500 Seiten am Tag. Solche Informationen bewirken zwar eine gewisse „Normalisierung“ dieser oft mythologisierten Gestalt, aber sie lassen leider die Bedeutung Stalins als die Schlüsselperson des der sozialistischen Idee verpflichteten gesellschaftli­chen und politischen Systems etwas außer acht.

Zugleich wird die Redewendung vom „roten Zaren“ (es war – nebenbei bemerkt – der hervorragende polnische Rußland­kenner Jan Kucharzewski, der im Jahre 1922 als erster über das „rote Zarentum“ schrieb) von Montefiore durchaus ernstgenommen. Er achtet dabei nicht darauf, „Rußland“ von der „Sowjetunion“ abzugrenzen und benutzt beide Begriffe auf auswechselbare Weise. Damit fügt er sich in die im heutigen Rußland typische „Russifizie­rung“ der Sowjetunion ein, und dies ist eine der größten Schwächen des Werkes. Stalin mag sich Ivan den Schrecklichen zum Vorbild genommen haben und über seine eigene Rolle als (eine Art) „Zar“ ab und zu nachgedacht haben. Er war aber letzten Endes vor allem ein Führer jenes Sowjetstaates, der entstanden ist, um den Sozia­lismus und Kommunismus aufzubauen. Er war zudem der Chef einer Partei, die sich zu diesem Zweck dieses Staates bediente. Seine Mitarbeiter waren insofern keine – wie Montefiore sie immer wieder nennt – „Magnaten“, „Bojaren“ und „Prokonsule“, sondern in erster Linie die höchsten Apparatschiks des ideologischen Parteistaates.

Auf das Verhältnis Stalins zu Rußland geht Montefiore mehrfach ein. An einer Stelle schreibt er darüber, daß Rußland für den Georgier ein „Schicksal“ geworden sei. Auch die Proble­matik der Einstellungen Stalins zu verschiedenen Nationen wird sehr gut beleuchtet. Er erscheint insofern als moderner Mensch, als er in schlichten, zuweilen primitiven Vorurteilen über ganze Nationen denkt: die Juden seien immer verdächtig und könnten nicht trinken, die Polen würden stets eine Bedrohung für Rußland und die Sowjetunion darstellen, die Russen bräuchten den Zaren u. a. Montefiore zeigt zudem, daß diese Einstellungen sich auf eine fürchterliche Weise auf die Behandlung der betroffenen Völker und Nationen durch die Sowjetmacht auswirkte. Der Leser wird aber das Gefühl nicht los, daß in diesem vom Verfasser skiz­zierten Weltbild eines „russifizierten Georgiers“ die ideologische Hingabe zum sozialistischen Imperium zu kurz kommt. Ähnliches läßt sich leider über das Verhältnis des ehemaligen Priester-Aspiranten zur Religion und insbesondere zur russisch-orthodoxen Kirche sagen. Es ist in diesem Zusammenhang nicht nachvollziehbar, weshalb das Treffen Stalins mit dem Metropoliten Sergij im September 1943, das diese Kirche endgültig zum Teil des Sowjetstaa­tes umwandelte, im Buch nicht erwähnt wird.

Der größte Wert des Werkes besteht nicht darin, daß Montefiore etwa Fakten entdeckt hätte, die beispielsweise Robert Conquest (Stalin. Breaker of Nations) unbekannt gewesen wären. Es gelingt ihm aber ohne Zweifel, jene auch in der Wissenschaft populäre Sicht zu revidieren, die ein anderer bolschewistischer Verbrecher, Lev Trockij, und ein fanatischer Trotzkist, Isaac Deutscher, maßgeblich geprägt hatten: Stalin sei ein Bürokrat, eine Art Verkörperung der Herr­schaft des gefühllosen Apparates gewesen. Vielmehr skizziert Montefiore ein plastisches und packendes Bild des Menschen Stalin, der im­mer dann charmant und witzig sein konnte, wenn die Intelligenz, kühnes Machtkalkül und die ihm zur Verfügung stehende staatliche Mordmaschine nicht ausreichten, um zum Teil wahnwitzige politische Ziele zu erreichen oder schlicht Mordgelüste zu stillen.

Jerzy Maćków

 

"Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation. Bearbeitet und herausgegeben von Jochen P. Laufer und Georgij P. Kynin unter Mitarbeit von Viktor Knoll, 3 Bände, Duncker & Humblot, Berlin 2004 (Band 1: 22. Juni 1941 bis 8. Mai 1945, CXVI + 715 S., 88 €; Band 2: 9. Mai 1945 bis 3. Oktober 1946, CXLVIII + 805 S., 88 €; Band 3: 6. Oktober 1946 bis 15. Juni 1948, CXVI + 780 S., 88 €, Gesamtausgabe 240 €).

Die Pläne Moskaus in bezug auf die europäische Nachkriegsordnung und die Gestaltung Deutschlands nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus geben der Forschung, ungeachtet einer partiellen Öffnung der russischen Archive, viele Rätsel auf. Leonid Gibianskij, der zu den besten Kennern der Thematik zählt, erklärt diese Schwierigkeiten mit dem Charakter der Quellen, die den Forschern seit der Auflösung der Sowjetunion zugänglich geworden sind:

 

„Spricht man von den Quellen [...], die in den letzten Jahren freigegeben wurden, [so gibt] es darunter nur wenige, ja beinahe gar keine Dokumente [...], die darüber berichten, auf welche Weise die außenpolitischen Entscheidungen auf höchster sowjetischer Ebene ausgearbeitet und getroffen wurden: nämlich von Stalin und seiner nächsten Umgebung [...], d. h. auf jener Ebene, auf der allein damals solche Entscheidungen getroffen werden konnten“ (Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 8.Jahrgang, 2/2004, S. 115).

 Auch in der vorliegenden dreibändigen Edition der Dokumente aus dem Archiv des Außenministeriums der Russischen Föderation sind die Quellen, die Gibianskij vermißt, kaum enthalten. Dessenungeachtet spiegeln sich in diesen Texten (so im diplomatischen Briefwechsel, in den Berichten führender Vertreter der sowjetischen Besatzungsbehörden in Deutschland an die Moskauer Zentrale, in Denkschriften verschiedener Kommissionen des Moskauer Außenministeriums – bis 1946 Narkomindel – und in Gesprächsprotokollen der Treffen sowjetischer Führer mit ausländischen Politikern) die Grundzüge der sowjetischen Deutschlandpolitik zwischen dem deutsch-sowjetischen Krieg und dem Beginn der Berliner Krise im Juni 1948 deutlich wider.

Der erste Band der Edition enthält Dokumente der Kriegszeit, wobei das Gesprächsprotokoll vom Treffen Stalins mit dem britischen Außenminister Eden (Dezember 1941) besonders aufschlußreich ist. Stalin war fest entschlossen, territoriale Gewinne, die er in der Zeit der Freundschaft mit dem Dritten Reich erzielt hatte, als integralen Bestandteil der Sowjetunion für immer zu behalten. Die deutschen Truppen befanden sich damals in unmittelbarer Nähe Moskaus, das Schicksal des sowjetischen Staates als solchen stand auf dem Spiel. Trotzdem hielt Stalin es für wichtig, den genauen Verlauf der künftigen sowjetisch-polnischen Grenze festzulegen. Abgesehen davon plädierte er für eine nachhaltige Schwächung Deutschlands, vor allem aber Preußens. Von Preußen sollten Ostpreußen und alle Gebiete östlich der Oder zugunsten Polens abgetrennt werden. Österreich und Bayern sollten als selbständige Staaten wiederhergestellt werden (Band 1, S. 21).

Eden reagierte skeptisch auf diese Pläne und meinte, die Teilung Deutsch­lands werde nur zur Entstehung einer Nationalbewegung führen, die das Land erneut einigen würde. „Stalin entgegnete, daß eben derartige Erwägungen uns zum gegenwärtigen Krieg geführt hätten. Wünsche denn Eden einen neuerlichen Überfall von seiten Deutschlands?“ (Band 1, S. 25).

Es gehörte allerdings zu den Eigentümlichkeiten der Stalinschen Politik, daß der Moskauer Diktator nicht selten mit zwei verschiedenen, oft entgegengesetzten Optionen operierte. So spielte er nicht nur die antideutsche, sondern auch die deutsch-nationale Karte. Dies spiegelte sich in der Gründung des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ wider, was die westlichen Verbündeten Moskaus außerordentlich beunruhigte. Am 26. Juli 1943 fragte der britische Botschafter in Moskau, Kerr, den Narkomindel-Chef Molotov, welchen Zweck die UdSSR mit der Gründung des Komitees verfolge. Es seien rein propagandistische Zwecke, versuchte Molotov seinen Gesprächspartner zu beruhigen (Bd. 1, S. 132). Die Ängste der Westalliierten blieben aber bestehen. Der stellvertretende Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Litvinov, schrieb am 9. Oktober 1943 an Molotov: „In einigen Kreisen im Ausland ist der Eindruck entstanden, daß wir beabsichtigen, mit Deutschland bedeutend milder umzugehen als andere Staaten der Vereinten Nationen, wobei uns in dieser Hinsicht die absurdesten Nachkriegspläne unterstellt werden“ (Band 1, S. 194).

Aber auch in Moskau war das Mißtrauen gegenüber dem Westen während des Krieges, ungeachtet eines recht reibungslosen Funktionierens der Anti-Hitler-Koalition, tief verankert. So erklärte Stalin am 19. Oktober 1942 die Weigerung Churchills, sofort eine zweite Front im Westen zu eröffnen, folgendermaßen: „Bei uns allen in Moskau entsteht der Eindruck, daß Churchill Kurs auf die Niederlage der UdSSR nimmt, um sich dann später mit dem Deutschland Hitlers oder Brünings auf Kosten unseres Landes zu einigen. Ohne diese Vermutung läßt sich das Verhalten Churchills in der Frage der Zweiten Front in Europa [...] schwerlich erklären“ (Band 1, S. 67; vgl. dazu auch S. 196, 630 f.).

 Der zweite, vor allem aber der dritte Band der Edition bezeugen, daß sich Stalins Spiel mit der deutsch-nationalen Karte nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, in der Zeit des immer schärfer werdendenden Ost-West-Gegensatzes, zunehmend intensivierte.

In seinem Gespräch mit der SED-Führung vom 31. Januar 1947 führte Stalin aus: Er habe die Überzeugung,

„daß England und die USA schreckliche Angst davor haben, Deutschland könnte wieder auf die Beine kommen, da sie befürchten, daß es sich zu einem gefährlichen Konkurrenten entwickeln könnte  [...]. Deutschland kann mit seiner Bevölkerung von 70 Millionen Menschen nicht aus der Geschichte verbannt werden. Es kann auch nicht vom Weltmarkt ausgeschlossen werden. Amerika schlägt etwas Unseriöses vor, weil man heute ohne Deutschland nicht auskommen kann“ (Band 3, S. 151 f.; vgl. dazu auch S. 205, 256 f., 384, 463, 555, 610 ff.).

Der Politische Berater der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) Vladimir Semenov berichtet von ähnlichen Gedankengängen, die Stalin bereits 1945 formuliert haben soll. Auf einer Sitzung des Politbüros vom Ende Mai 1945, an der Semenov ausnahmsweise teilnehmen durfte, soll Stalin folgendes gesagt haben:

„Es wäre einfach unrealistisch, daran zu denken, Deutschland aufzusplittern oder seine Industrie zu vernichten und es zu einem Agrarstaat zu degradieren. Wer heute glaubt, durch die Agrarisierung oder Aufteilung Deutschlands könne er den Weltmarkt selbst in die Tasche stecken, der irrt [...] Weder Käufer noch Verkäufer sind daran interessiert, daß die Waren auf dem Markt teurer werden [...] Die Aufgabe besteht nicht darin, Deutschland zu zerstören, sondern darin, ihm die Möglichkeit zu nehmen, erneut als aggressive Kraft in Europa aufzusteigen“ (Wladimir S. Semjonow, Von Stalin bis Gorbatschow. Ein halbes Jahrhundert in diplomatischer Mission 1939–1991, Berlin 1995, S. 201).

In seinen Erinnerungen berichtet Semenov über einen besonders kuriosen taktischen Zug Stalins bei seinem Werben um die Gunst der national gesinnten Gruppierungen in Deutschland. So soll Stalin im März 1948 bei seinem Treffen mit der SED-Führung folgende Überlegungen entwickelt haben:

„Glauben Sie nicht, daß es an der Zeit wäre, die Trennlinie zwischen den ehemaligen Nazis und Nichtnazis aufzuheben? Vielleicht sollte man ehemaligen Mitgliedern der Nazipartei, die keine Verbrechen gegen das deutsche Volk oder gegen andere Völker auf sich geladen haben, alle aktiven und passiven Bürgerrechte zurückgeben, damit sie am Aufbau Deutschlands teilnehmen können? In der Nazipartei waren immerhin über zehn Millionen Menschen [...] Das ist eine große Zahl [...]. Geben wir den ehemaligen Nazis die Möglichkeit, wenn sie es wollen, eine eigene Partei zu gründen, natürlich eine demokratische [...] An ihre Spitze könnte ein bekannter Nazi treten“ (ebenda, S. 253 f.).

Semenovs Bericht läßt sich durch zahlreiche Dokumente im dritten Band der Edition bestätigen. Nur beim Datum hat sich der sowjetische Diplomat geirrt. Die erste Unterredung zu diesem Thema fand nicht im März 1948, sondern bereits am 31. Januar 1947 statt. Stalin sagte damals: Es habe in der Nazipartei doch auch patriotische Elemente gegeben. Man müsse diese für die eigene Sache anwerben. Vielleicht solle man jemanden aus der mittleren Führungsebene der ehemaligen Nazipartei oder einen der ehemaligen Führer nehmen. Man solle für die ehemaligen Nazis irgendeine Partei gründen, die geeignet wäre, Patrioten und nichtaktive Elemente aus der ehemaligen nationalsozialistischen Partei einzubinden. Dann würden sie nicht mehr befürchten, von den Sozialisten vernichtet zu werden. Man könne diese Partei „National-Demokratische Partei“ oder so ähnlich nennen (Band 3, S. 143 f.). Diese Überlegungen des Kreml-Herren haben die SED-Führer sichtlich konsterniert. Eine solche Vorgehensweise würde die SED vor erhebliche Probleme stellen, sagte Wilhelm Pieck. Die SED kämpfe „gegen die Nazitheorien und das gesamte nazistische Erbe“, fügte Otto Grotewohl hinzu. Stalin erwiderte: „Richtig. Doch müssen [die ehemaligen Nazis in diesen] Kampf einbezogen werden“ (Band 3, S. 144).

Viele Dokumente des Bandes zeigen, wie diese „theoretischen“ Überlegungen Stalins in die Praxis umgesetzt wurden und, ungeachtet mancher Bedenken und Widerstände der SED-Führer, zur Entstehung der National-Demokratischen Partei führten (Band 3, S. 165 f., 338, 363, 365 f., 427 f., 548, 578, 602–605).

Die Moskauer Führung gebärdete sich nun als Verfechterin des „einheitlichen“ und „demokratischen“ deutschen Staates und gab ausschließlich den Westalliierten die Schuld an der Vollendung der „Spaltung Deutschlands [...] und Europas“ (Band 3, S. 616 f.). Die Appelle Moskaus an das Nationalgefühl der Deutschen dienten allerdings nicht nur der Vereitelung der Pläne der Westmächte, einen Westblock unter Einschluß Westdeutschlands zu organisieren (S. 617). Die nationalistische Phraseologie sollte auch den wahren Charakter des sowjetischen Besatzungsregimes und des politischen Systems, das Moskau in Deutschland errichtete, verschleiern. Daß diese Verschleierungstaktik nicht zum gewünschten Erfolg führte und daß die Mehrheit der Deutschen sich über das Wesen des sogenannten „demokratischen“ Systems sowjetischer Prägung im klaren war, wird in dieser Edition wiederholt belegt (Vgl. dazu u.a. Band 2, S. 267 f., 275 f., 307, 328 f., 345f. 400 f.).

 Leonid Luks


"Jerzy Maćków: Totalitarismus und danach. Einführung in den Kommunismus und die postkommunistische Systemtransformation. Baden-Baden: Nomos, 2005, 168 S., 24 €

   

Dies ist ein äußerst wichtiges Buch. Lapidar und nicht ohne Humor geschrieben, stellt Totalitarismus und danach eine klare und überzeugende Analyse des Totalitarismus-Begriffs und des Totalitarismus selbst und seiner Folgen dar. Jerzy Maćkóws Verdienst besteht auch darin, die Diskussion über den Totalitarismus gewissermaßen entpolitisiert zu haben. Ob man mit Maćkóws Analyse einverstanden ist oder nicht, sie ermöglicht eine nüchternere Betrachtung des sogenannten Totalitarismus-Modells. 

Wie wichtig  eine solche Entemotialinisierung ist, werden diejenige Sowjetologen wissen, die die siebziger und achtziger Jahre bewußt miterlebten. Damals war der Totalitarismus-Begriff fast wie ein Schimpfwort, das den Benutzer zum Antikommunisten, Imperialisten, und Kapitalismus-Apologeten abstempelte. Besonders bemerkenswert war das übliche Ritual, wonach man eine Analyse mit der obligatorischen Denunziation des Begriffs anfing. Diese einschränkende Politisierung wurde erst zur Zeit der Perestrojka geschwächt, wenn, ganz unerwartet für die Gegner des Begriffs, sogar sowjetische Analytiker anfingen, die Sowjetunion als totalitär zu bezeichnen. Als die Behauptung damit unmöglich wurde, daß nur Sowjetgegner den Begriff benutzten, konnte die langsame Rehabilitation des Modells kurz danach folgen.

Warum erlebte der Begriff ein Comeback? Hauptsächlich darum, weil die Sowjetologie der siebziger und achtziger Jahre den Zerfall des sowjetischen Systems nicht erklären konnte. Dieses Manko war das Resultat der vorhandenen Präferenz für soziale Geschichte, für das Partikulare, das Lokale, das Nicht-systematisierende. An und für sich war das keine schlechte Richtlinie für die wissenschaftliche Forschung. Aber eine derartige  Fokusierung auf das Partikulare war einfach nicht imstande, die Sowjetunion als System zu verstehen und den Zerfall des ganzen Systems zu begreifen. Ob die Sowjetologie den sowjetischen Zerfall voraussagte oder nicht, eines ist klar: sie versagte, den Zerfall sogar nach dem Zerfall zu verstehen. Der Vorteil der Totalitarismus-Theorie bestand darin, daß sie systembezogen war und deshalb die Gründe des Zerfalls im System als System finden konnte.

Wie die Erfinder des Modells versteht auch Maćków den Totalitarismus als System, das vom Autoritarismus und Demokratie zu differenzieren ist. Kurz gesagt:

„Im Totalitarismus strebt die kommunistische Partei im Auftrag der totalitären Ideologie eine möglichst vollkommene (‘totale’) Kontrolle und Lenkung der Gesellschaft an. [...] Der Totalitarismus stellt sowohl ein politisches System als auch eine Gesellschaftsordnung dar, weil er die Autonomie der gesellschaftlichen Subsysteme aufhebt. Die Folgen sind eine schier grenzenlose Entpolitisierung und Atomisierung der Untertanen – der ‘Sowjetmenschen’.“ (S. 152).

Das Hauptmerkmal des Totalitarismus ist weniger die Macht des Parteistaates als die Abwesenheit von autonomen außerparteistaatlichen Institutionen. Infolgedessen besteht die Hauptaufgabe der postkommunistischen Systemtransformation darin, die im Totalitarismus nichtexistierenden oder äußerst schwach entwickelten Institutionen auf einmal zu etablieren oder zu konsolidieren. „Die postkommunistischen Regierungen streben die gleichzeitige Umwandlung aller gesellschaftlichen Subsysteme an. Sie sind bemüht, gleichzeitig die staatliche Regulierung der Wirtschaft, der Kultur and des Sozialen auf ein vernünftiges, die Gesellschaft nicht erstickendes Maß zurückzufahren“ (S. 89). Das ist mehr als ein „Gleichzeitigkeitsdilemma,“ denn, wenn man sich wirklich darum bemüht, alle politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, und sozialen Institutionen gleichzeitig und radikal zu ändern, ist dieser Versuch einer Revolution von oben gleich. Abgesehen davon, wie man diese Aufgabe nennt, ist die Verwirklichung einer postkommunistischen Systemtransformation offensichtlich alles andere als einfach.

Zwei von Maćkóws Thesen hätten etwas überzeugender formuliert werden können. Maćków behauptet, daß die Wurzeln des Zerfalls im Versuch lagen, das totalitäre System nach  Osteuropa von außen einzuführen. Da die Institutionen, Traditionen und Kulturen dieser Region für den „eingeführten“ Totalitarismus nicht geeignet waren, kam es unweigerlich zu Krisen, Umbrüchen und, im Laufe der Zeit, zum Zerfall. „Wenn in der Gesellschaft die Ablehnung der totalitären Ideologie, das Streben nach staatsunabhängigen Institutionen und der Mut, gegen das System zu handeln, verbreitet sind, muß dies einen zersetzenden Einfluß auf den ideologischen Parteistaat haben. Die Bedrohung der totalitären Ordnung kann folglich durchaus aus der Gesellschaft in den Parteistaat hineingetragen werden“ (S. 83). Ma­ć­kóws Aussage ist theoretisch und empirisch überzeugend für die Satelliten-Staaten, aber nicht für die Sowjetunion. Es ist deshalb kein Zufall, daß seine Erklärung des sowjetischen Zerfalls eher historisch und tatsachenbezogen als theoretisch wirkt. Statt von der „latent vorhandene[n] Spannung zwischen Staat und Gesellschaft“ in der Sowjetunion zu sprechen, hätte Ma­ć­ków die Thesen vieler Totalitarismus-Theoretiker der fünfziger Jahren benutzen können. Ihnen zufolge, war der Totalitarismus als System – egal ob eingesetzt oder endogen – lebensunfähig. Karl Deutsch, z. B., entwickelte bereits 1954 eine elegante Theorie, basiert auf den systemzersetzenden Konsequenzen der Zentralisation der Information. Bereits George Kennan sprach von den internen Schwächen des Totalitarismus in seinem berühmten X. Artikel von 1947. Solche systembezogene Theorien hätten Maćkóws Analyse nur bereichert.

Nicht ganz überzeugend ist auch Maćkóws Behauptung,  beim ökonomischen Erfolg „der postkommunistischen Systemtransformation […] kam [es] […] auf die Konsequenz und das Geschick der Regierenden an, an der marktwirtschaftlichen Umwandlung auch dann festzuhalten, wenn in der Bevölkerung Widerstände gegen die Reformpolitik wuchsen“ (S. 112). Das stimmt, aber diese Erklärung ist nicht ganz im logischen Geist von Ma­ć­kóws allgemeiner These, daß das totalitäre System die postkommuni­stische Transformation stark beeinflußte. In diesem Licht wäre der wirtschaftliche Erfolg auch mit dem Zustand der vorhandenen, geerbten Institutionen und kulturellen Traditionen zu erklären. Es kann ja kein Zufall sein, daß gerade die Regierenden in den Satelliten wesentlich mehr Geschick erwiesen als ihre Kollegen in den ehemaligen Sowjetstaaten. Die osteuropäischen Regierenden waren vielleicht kluger, aber ihr Hauptvorteil bestand darin, daß ihre Staaten auch weniger totalitär als die Sowjetrepubliken gewesen waren.

Man kann nur hoffen, daß Maćkóws exzellentes Buch bald auf Englisch erscheint.

Alexander J. Motyl