Buchbesprechung von L. Luks


Buchbesprechung von J.A.G. Fuchs

VII. Buchbesprechungen

Nikita Petrov: Pervyj predsedatel’ KGB Ivan Serov [Der erste KGB-Vorsitzende Ivan Serov], Moskau, Verlag Materik 2005. 416 S.

 

Das Genre des Buches, das hier rezensiert werden soll, geht über die Grenzen einer politischen Biographie hinaus. Vielmehr handelt es von der Geschichte des sowjetischen repressiven Systems ab Ende der dreißiger bis Anfang der sechziger Jahre, die aufgrund einzigartiger historischer Quellen dargelegt wird. Aber von diesen im Schlußteil der Rezension. Zuerst etwas über die Hauptfigur, einen Menschen, der für die Entwicklung der Staatssicherheitsorgane der UdSSR nicht wenig tat, doch im Schatten seiner ungeheuer prägnanten Vorgänger Nikolaj Ežov oder Lavrentij Berija blieb.

Der Beginn des Erwachsenenlebens von Ivan Aleksandrovič Serov, einem Sohn einfacher Bauern, fiel in die NÖP-Zeit. Er empfand sich bereits als Berufsmilitär, als er auf Befehl der Partei die Abzeichen an seiner Uniform wechseln mußte: Im Juli 1939 wurde er zum stellvertretenden Chef der Hauptverwaltung Staatssicherheit im Volkskommissariat des Innern (NKVD) der UdSSR ernannt. Seine Čekisten-Laufbahn zählte die Posten des Volkskommissars des Innern der Ukraine, eines Beraters des Ministeriums für öffentliche Sicherheit Polens und eines Bevollmächtigten des NKVD-MVD in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Serov beteiligte sich auf das engste an der Deportation der Wolgadeutschen in den ersten Kriegsmonaten, an der Aussiedlung der Tschetschenen und Inguschen 1944, an der Liquidation des nationalistischen Untergrunds in der Ukraine und im Baltikum nach 1945 und war eine der zentralen Gestalten bei der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes im Herbst 1956. Die Sternstunde seiner Laufbahn erlebte er nach Stalins Tod: „Gerade Serov vertraute es die neue Führung an, die Reform und Säuberung der Staatssicherheit zu leiten und durchzuführen“ (S. 5). Seine sechs Leninorden bestätigten zusätzlich, welch eine wichtige Rolle Serov im repressiven System unter Stalin und Chruščev spielte.

Dennoch birgt sein Lebenslauf bis heute noch viele Geheimnisse in sich. In erster Linie hängt das damit zusammen, daß die Archivalien, die die Geschichte der Staatssicherheitsorgane der UdSSR betreffen, beinahe völlig unzugänglich sind. Wir wollen Nikita Petrovs Mut hervorheben, der sich einer dermaßen schweren Aufgabe unterzogen hat, wohl wissend, daß es ihm nicht gelingen werde, Serovs Lebensweg voll wiederzugeben. Dennoch ist sein Versuch als erfolgreich anzuerkennen. Das Buch, das übrigens in einer lebhaften und klaren Sprache geschrieben ist, fesselt den Leser von der ersten bis zur letzten Seite, obwohl einige Sujets fragmentarisch sind.

Sehr karg sind zum Beispiel die Nachrichten über Serovs Tätigkeit im ersten Kriegsstadium, als er stellvertretender Volkskommissar des NKVD der UdSSR war und unter anderem auch an der Organisation der Verteidigung von Moskau teilnahm. Dagegen ist seine Rolle als „Sowjetisierer“ von Polen und Ostdeutschland recht ausführlich dargestellt. Auf Materialien aus dem Staatlichen Archiv der Russischen Föderation gestützt, rekonstruiert der Autor die Struktur und die Tätigkeitsmethoden von NKVD-MVD-Vertretern in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, die in mehrere „operative Sektoren“ geteilt war. Diese waren nicht nur für die Verfolgung aktiver Nazis und Kriegsverbrecher zuständig, sondern trugen auch die Verantwortung für die Bildung der deutschen Selbstverwaltungsorgane und arbeiteten mit der örtlichen Bevölkerung zusammen. Einige Sujets, die in dem Buch nur angedeutet sind, wirken wie echte Detektivgeschichten. So beteiligte sich Serov im Mai 1945 an der Beschlagnahmung der Werte in der Berliner Reichsbank; später wurde er der Aneignung von phantastischen Geldbeträgen und von Goldbarren beschuldigt.

Das Buch vermittelt eine Vorstellung vom Alltag der Offiziere der sowjetischen Militäradministration, wobei der Autor das Negative akzentuiert, das in die NKVD-Berichte aufgenommen wurde. Es handelt sich vor allem um die sogenannte Hamsterei: Die außerordentlich kriegsmüden Menschen, die zudem ständig hatten Entbehrungen leiden müssen, lernten in Deutschland den europäischen Lebensstandard kennen. Nur wenige konnten der Versuchung widerstehen und die sich bietende Chance versäumen, einen solchen Standard wenigstens in einer einzelnen sowjetischen Familie zu erreichen. SMAD-Offiziere ließen ihre Frauen nach Deutschland kommen, und diese benutzten die zahlreichen leerstehenden Wohnungen und horteten die billigen Waren, die für sie erst kurze Zeit zuvor Luxusgegenstände gewesen waren. Mit Zügen und Flugzeugen wurden in die UdSSR Klaviere und Wagen, Kunstwerke und Tafelgeschirr, ja selbst ausgebrochene Marmorrahmen von Zimmerkaminen transportiert.

Hierbei wurde die eigentliche „čekistische“ Arbeit unter der deutschen Bevölkerung in der gleichen Art wie auch im Stalinschen Rußland geleistet. Serovs Kollege Grigorij Bežanov, der später verhaftete Leiter des operativen NKVD-Sektors Thüringen, gab Fälle zu, „da meine Mitarbeiter Verfahren gegen Deutsche provozierten, die angeblich gegen die UdSSR auftraten“ (S. 301). Bei einer Durchsuchung in der Moskauer Wohnung Sergej Klepovs, Chef des operativen Sektors Sachsen, wurde eine reiche Beute entdeckt: „414 Gegenstände aus Gold und Silber, teures Eß- und Teegeschirr, insgesamt 301 Gegenstände, 198 antiquarische Erzeugnisse: Statuetten, Vasen, 15 Gemälde von Kunstwert, mehrere Fotokameras und Akkordeons“ (S. 277).

Im April 1947 wurde Serov zum Ersten Stellvertreter des Innenministers ernannt und kehrte von Deutschland nach Moskau zurück. Neben dem Gulag-System war er nun auch für GUPVI, d. h. die Hauptverwaltung der Lager für Kriegsgefangene und Internierte, zuständig. Gerade Serov „organisierte“ eine neue Welle von Gerichtsprozessen gegen deutsche Kriegsgefangene, so daß sie für unbestimmt lange Zeit in der UdSSR bleiben mußten.

Schon in Deutschland begann eine Konfrontation zwischen Serov und dem MGB-Chef Viktor Abakumov, die der Autor zu Recht als ein typisches Beispiel des Clan-Kampfes in der sowjetischen Führung ansieht. „Stalin heizte die Rivalität und gegenseitige Kontrolle der Geheimdienste an, er glaubte, auf diese Weise das Land leichter regieren zu können. Doch zogen solche Gebräuche und Zustände in der Stalinschen Umgebung sehr häufig tragische Folgen nach sich“ (S. 9). Auf jeden Angriff eines Rivalen wurde mit einer Denunziation reagiert; tödlich gefährlich waren Beschuldigungen, sich an Stalins Autorität vergriffen zu haben, auch „moralischer Verfall“ wurde hoch notiert. Abakumov beschäftigte sich sogar mit Serovs Genealogie: Laut einigen Angaben war dessen Vater zur Zarenzeit ein Gendarm gewesen. Der Konflikt erreichte solche Ausmaße, daß sich Stalin persönlich einmischte und von Abakumov verlangte, die Beschattung Serovs, der sich in Deutschland befand, einzustellen (S. 248).

Am 12. Juli 1951 wurde Abakumov verhaftet. Die damit zusammenhängenden Ereignisse sind in dem Buch in einen breiteren Kontext eingefügt: Es ging um eine abermalige Aktion der Unterordnung der Staatssicherheitsorgane unter Stalins persönliche Kontrolle. Diesmal hatten seine diesbezüglichen Weisungen eine unausgesprochene antijüdische Ausrichtung. Stalin erklärte: „Ein Čekist hat nur zwei Wege: entweder zur Beförderung oder ins Gefängnis“ (S. 106). Die Umbesetzungen dauerten das ganze Jahr 1952. Ihr Ergebnis war der Beschluß des Präsidiums des ZK der KPdSU vom 4. Dezember 1952 über eine Umstrukturierung der Staatssicherheitsorgane. Das ist ein wirklich einzigartiges Dokument. Es enthielt die Aufforderung zur Aktivierung der Geheimdienste, der Akzent wurde auf Diversionen und politische Morde außerhalb der UdSSR gesetzt. Der Stalinsche Stil dieses Beschlusses ist nicht zu verkennen. „Die Jammerčekisten sind von den Positionen des revolutionären Marxismus-Leninismus auf die Positionen des bürgerlichen Liberalismus und Pazifismus hinabgeglitten, ... sie verstehen die einfache Wahrheit nicht, daß das MGB ohne Diversionen, die er im feindlichen Lager durchführt, unvorstellbar ist“ (S. 124).

Die Beschuldigungen und Methoden, die Stalin für die Reorganisation der Staatssicherheitsorgane wählte, knüpfen offensichtlich an das Jahr 1937 an. Mit Recht schreibt Nikita Petrov: „Die Ereignisse von 1952 sind als Prolog zu einem neuen Terror zu betrachten, wenn auch in einer anderen, modifizierten Form (mit zielgerichteten Schlägen gegen bestimmte Schichten und nationale Gruppen)“ (S. 131). Stalins Tod führte zu einer kurzen Erhöhung Berijas, wobei Serov dessen Stellvertreter blieb. Doch gelang es diesem, Chruščev und Malenkov von seiner Loyalität zu überzeugen, so daß er bald beträchtlich befördert wurde und sich im Ergebnis des ihn mehr als zehn Jahre lang verfolgenden Prädikats „stellvertretend“ entledigte.

Am 13. März 1954 wurde Ivan Serov zum Vorsitzenden des Komitees für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR ernannt. Nachdem die Staatsicherheitsorgane ein Jahr lang im Ministerium für innere Angelegenheiten eingegliedert waren, wurden sie wieder selbständig. Die Kandidatur Serovs wurde bei der Erörterung im Präsidium des ZK der KPdSU vom 8. Februar 1954 von Chruščev vorgeschlagen; er motivierte das mit der Notwendigkeit, die Staatssicherheitsorgane wieder unter die Kontrolle der Partei zu stellen. Malenkov verlangte von Serov „mehr Parteigeist“, ihm sekundierten die anderen Präsidiumsmitglieder (S. 306–311).

Serov säuberte den KGB-Apparat weiter von den ehemaligen Anhängern Berijas und nahm an der Durchsicht und Vernichtung der Dokumente aus dessen Archiv teil. Bald fiel ihm die Aufgabe zu, sich auch mit Stalins Hinterlassenschaft zu beschäftigen. Mehrere absolut geheime Materialien, darunter über das Schicksal Raul Wallenbergs, die Morde an Würdenträgern der Kirche, die Verwendung von Giften u. ä., wurden dem KGB zur Aufbewahrung übergeben; dort befinden sie sich bis heute (S. 158–159). Die Dokumente von unteren NKVD-MGB-Strukturen dagegen wurden in großen Mengen vernichtet. Das Buch enthält Zahlen, die keines Kommentars bedürfen: Bei der Gründung des KGB zählte sein operatives Archiv über 5 Millionen Akten, 1991 gab es im Zentralarchiv dieser Organisation aber nur 654.000 Akten. „Der erste KGB-Vorsitzende leitete diesen barbarischen Prozeß der Vernichtung der Geschichte des Landes ein“ (S. 160–162). Serov kritisierte Chruščev wegen dessen Versuche, auf dem 20. Parteitag der KPdSU die realen Ausmaße der Repressalien aufzudecken, spielte jedoch keine geringe Rolle im Verlauf des Juni-Plenums des ZK der KPdSU von 1957, als das Schicksal des Ersten Sekretärs der herrschenden Partei an einem dünnen Faden hing.

Im Dezember 1958 wurde Serov unerwartet vom Posten des KGB-Vorsitzenden abgesetzt. Unter anderem wirkten sich dabei auch seine engen Beziehungen zu Marschall Žukov aus, der in Ungnade gefallen war. Gegen Serov intrigierte Chruščevs neuer Protegé Aleksej Kiričenko, der aus der Ukraine gekommen war und den Auftrag erhielt, die Staatssicherheitsorgane zu überwachen (S. 183). Hinzu kam ferner der Umstand, daß Serov gegen den Abbau des Kaders und des Haushalts der Staatssicherheitsorgane im Rahmen der recht radikalen Reformen aus der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre auftrat. Doch am wichtigsten war, daß Serov „für Chruščev die Vergangenheit verkörperte. Alle wußten, daß er an den furchtbarsten Stalinschen Verbrechen mit beteiligt war“ (S. 187).

Die letzte Etappe von Ivan Serovs Berufslaufbahn gestaltete sich äußerst unglücklich. Er wurde zum Chef der Hauptverwaltung Aufklärung (GRU) beim Generalstab ernannt und geriet so faktisch unter den Beschuß seiner ehemaligen Konkurrenten. Bei den Militärs war er unbeliebt, sie hielten ihn für einen Dilettanten in der Aufklärung. Es folgte eine Serie von Mißerfolgen; das größte Fiasko war die Geschichte um den GRU-Mitarbeiter Oberst Pen’kovskij. Der Spion, der für den amerikanischen und den britischen Nachrichtendienst arbeitete, war ein Protegé von Serov und hatte ihn oft besucht. Dem ersten KGB-Vorsitzenden wurden die Auszeichnungen aberkannt, er wurde degradiert und verlebte seinen Lebensabend unter der wachsamen Aufsicht der Organisation, die er selbst fünf Jahre lang geleitet hatte.

Unsere Rezension wäre unvollständig ohne den Hinweis auf den dokumentarischen Anhang des Buches, der umfangmäßig beinahe die Hälfte davon ausmacht. Der Gehalt des Anhangs geht über den Rahmen von Serovs politischer Biographie hinaus, die darin neu publizierten Dokumente enthalten nicht wenig Sensationen. Dazu nur ein Beispiel: der im Gefängnis verübte Mord an Karl Radek und Grigorij Sokol’nikov, die beim zweiten Schauprozeß von 1937 verurteilt worden waren. Gemäß einer Auskunft, die Serov am 29. Juni 1956 dem ZK der KPdSU vorlegte, sei dieser Mord von Berija und Kobulov mit Stalins Wissen vorbereitet worden. Dazu trafen in den Gefängnissen, in denen Radek beziehungsweise Sokol’nikov untergebracht waren, Häftlinge aus den Reihen ehemaliger NKVD-Mitarbeiter ein. Die Morde erfolgten im Beisein der Gefängnisdirektoren, seine Organisatoren wurden befördert, die Vollstrecker aber vernichtet (S. 313–315).

Der Anhang enthält ein Verzeichnis von Serovs Besuchen bei Stalin, den Personalbogen des ersten KGB-Vorsitzenden und kurze biographische Auskünfte über die in dem Buch erwähnten Personen. Die letzteren sind vor allem für diejenigen von Interesse, die sich mit der Nachkriegsgeschichte Deutschlands beschäftigen, weil sie über den Kaderbestand der operativen Sektoren des NKVD-MVD-MGB in der sowjetischen Besatzungszone Aufschluß geben. Neue Namen wären eine solide Grundlage für ein neues Buch, welches das bekannte, aufgrund der von Nikita Petrov gesammelten biographischen Materialien zusammengestellte Nachschlagewerk Kto rukovodil NKVD (Wer den NKVD leitete, Moskau 1999) sicherlich ergänzen würde.

Dem Autor des Buches wäre vielleicht vorzuwerfen, daß seine Untersuchung den kolossalen Umfang der gesammelten und veröffentlichten Dokumente nicht hat richtig „verdauen“ können: Die in der Einführung deklarierte analytische Komponente tritt im Text nur von Fall zu Fall auf. Bisweilen verliert sich Serovs Figur in den zahlreichen Ereignissen, die eher zu anderen Leitern oder zentralen Behörden des Sowjetstaates in Beziehung standen. Dennoch sollten sich künftige Historiker und Publizisten das Portrait des „zuverlässigen Vollstreckers“ des Stalinschen repressiven Systems, das Bild, das in dem hier besprochenen Buch entworfen worden ist, nicht entgehen lassen.

Aleksandr Vatlin

(Übersetzung: Nina Letneva)

 


Richard Overy: Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Rußland. Aus dem Englischen von Udo Rennert und Karl Heinz Siber. München, DVA 2005, 1023 S., 48 €.

Warum Auschwitz? Warum Archipel Gulag? Diese Fragen stehen im Zentrum des „kurzen 20. Jahrhunderts“ (E. Hobsbawm) und erschüttern bis heute das europäische Selbstverständnis.

Warum Deutschland und Rußland? Warum fanden diese beiden radikalsten Auflehnungen gegen die mit dem Westen assoziierten Wertvorstellungen ausgerechnet in diesen beiden Ländern statt? Auch diese Frage wartet noch auf eine adäquate Antwort. Um sie zu erhalten, ist eine vergleichende und auf einer breiten Materialgrundlage basierende Analyse der totalitären Regime rechter und linker Prägung erforderlich. Die Verwirklichung dieses Vorhabens stößt aber auf außergewöhnliche Schwierigkeiten, die nicht zuletzt darauf zurückzuführen sind, daß sich die Faschismus- und die Kommunismusforschung etwa seit dem Beginn der 60er Jahre – seit der Verdrängung der Tota­litarismus-Theorie an die Peripherie des wissenschaftlichen Interesses – weitgehend unabhängig voneinander entwickelten. Auf die äußerst aufschlußreichen komparativen Ansätze, die die Totalitarismus-Theorie ungeachtet all ihrer Defizite entwickelte, wurde bei der Analyse der modernen Diktaturen immer seltener zurückgegriffen. Manche Fehldeutungen des „deutschen Historikerstreits“ von 1986–88 oder der Kontroverse um das 1997 in Paris erschienene „Schwarzbuch des Kommu­nismus“ sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß Faschismus- und Kommunismus­forschung wenig Berührungspunkte haben.

Im vorliegenden Buch wird der Versuch unternommen, diese Kluft zumindest in einem wichtigen Bereich, nämlich beim Vergleich zwischen dem nationalsozialistischen und dem stalinistischen Regime, zu schließen. Die Untersuchung Overys ist äußerst breit angelegt. Hier werden u. a. die Herrschaftstechniken, die Terrorsysteme, die Herrschaftskulte, die Ideologie, die Kultur-, Wirtschafts- und Militärpolitik der beiden Regime wie auch deren Vorgeschichte miteinander verglichen. Ein äußerst ehrgeiziges Vorhaben, wenn man bedenkt, daß der Autor sich bisher im wesentlichen nur auf dem Gebiet der Militär- und Wirtschaftsgeschichte profiliert hat.

Bereits in der Einleitung fällt auf, daß der Autor bei einer Reihe der von ihm untersuchten Themen an seine Grenzen stößt. Dies betrifft u. a. einige Aspekte der russischen Geschichte. So spricht er z. B. von manchen Ähnlichkeiten zwischen dem Deutschen Reich und der Zarenmonarchie und führt aus: „Beide waren föderale Systeme mit einem beträchtlichen Anteil an dezentralisierter Verwaltung“ (S. 22).

Mit dieser Aussage läßt der Autor außer acht, daß das vorrevolutionäre Rußland ein unitaristischer und zentralistischer Staat par excellence war, wenn man von einigen Ausnahmen absieht. So verfügten nur das Großfürstentum Finnland seit 1809 und das Königreich Polen in den Jahren 1815–1831 über eine nennenswerte Autonomie. Dies waren aber lediglich winzige autonome Inseln in dem ansonsten unitaristisch strukturierten Riesenreich. In den russischen Staatsgrundgesetzen von 1906 wurde das zarische Reich als „einheitlich und unteilbar“ bezeichnet.

Auch mit der frühsowjetischen Geschichte hat der Autor manche Probleme. So schreibt er: „[Im] Unterschied zum Sowjetsystem, wo die Teilung der Gewalten formell in Kraft blieb, vereinigte die deutsche Regierung faktisch Legislative und Exekutive auf sich“ (S. 105).

In Wirklichkeit aber waren die Bolschewiki stolz darauf, daß sie die Gewaltenteilung, die sie für ein Relikt des bürgerlichen Zeitalters hielten, abgeschafft hatten. Im Artikel 7 der ersten sowjetischen Verfassung, die im Juli 1918 verabschiedet wurde (nicht im Dezember 1922, wie der Autor meint – S. 102), wurde das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee der Räte als „das höchste gesetzgebende, verfügende und kontrollierende Organ“ des Staates bezeichnet.

Wenig überzeugend sind auch einige pauschale Urteile, die der Autor über den bisherigen Stalinismus- und Totalitarismusdiskurs fällt. So vertritt er die These, neue Archivfunde seit dem Sturz des Kommunismus hätten das bis dahin in der Forschung vorherrschende Bild von Stalin als einem „rücksichtslosen Verfechter einer Zentralisierung der Macht und eines schrankenlosen Despoten erschüttert [...] Das Paradigma einer absoluten Macht, die in einem kohärenten zentralisierten Gemeinwesen ausgeübt wurde [...], war und ist ein Phantasiebild der Politikwissenschaft“ (S. 117, 119).

Die Tatsache, daß in der sowjetologischen Forschung bereits in den 70er Jahren (fast zwei Jahrzehnte vor der Öffnung der sowjetischen Archive) eine grundlegende „Revision“, des bis dahin vorherrschenden Totalitarismus-Modells stattgefunden hatte, daß die „Revisionisten“ gerade die chaotischen und planlosen Elemente im Stalinismus, die mangelnde Effizienz des Lenkungsapparats hervorhoben, widerspricht in eklatanter Weise dem Urteil Overys. Die Vernachlässigung der Rolle Stalins im stalinistischen Regime durch einige „revisionistische“ Autoren veranlaßte seinerzeit Bernd Bonwetsch zu folgender Aussage: „Konsequenterweise kommt Stalin in einer solchen Erklärung des Stalinismus kaum vor“ (Sozialwissenschaftliche Informationen, 2/1988, S. 123).

Und anders als Overy meint, präsentiert sich Stalin im Spiegel der neuen Quellen, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus an die Oberfläche kamen, keineswegs als „schwacher“ Diktator. Im Gegenteil: Sie zeigen, wie zentral die Rolle Stalins im damaligen System war, so z. B. während des Großen Terrors, und erschüttern damit manche Thesen der „Revisionisten“.

Auch bei seiner Charakterisierung der klassischen Totalitarismus-Theorien kann man Overy nicht folgen. Angeblich hätten diese die totalitäre Diktatur als eine „unbarmherzige Herrschaft über eine wehrlose Bevölkerung“ bezeichnet, wohingegen in Wirklichkeit, so der Autor, „weite Teile der deutschen und der sowjetischen Bevölkerung die Diktatur [...], häufig mit Begeisterung und Hingabe oder zumindest mit einer pauschalen Zustimmung“ unterstützt hätten (S. 408).

Als ob dieses Faktum von den Verfechtern des „herkömmlichen totalitären Modells“, so von Hannah Arendt, Carl J. Friedrich oder von Zbigniew Brzezinski in Frage gestellt worden wäre!

Die Stärken des Buches kommen dann zum Vorschein, wenn der Autor sich mit seiner eigentlichen Domäne befaßt – mit der totalitären Militär- und Wirtschaftspolitik. Beim Vergleich zwischen der nationalsozialistischen und der stalinistischen Wirtschaftspolitik fallen dem Verfasser außerordentlich viele Ähnlichkeiten auf. Deshalb warnt er vor der Überbewertung der Tatsache, daß das nationalsozialistische System „kapitalistisch“ und das stalinistische „sozialistisch“ war. In beiden Staaten sei ein atemberaubendes Wachstum der Industrieproduktion zu beobachten gewesen, und zwar

 

„unter den Bedingungen einer relativen wirtschaftlichen Isolation [...] Der Außenhandel ging sowohl in Deutschland als auch in der Sowjetunion zwischen 1928 und 1937 um zwei Drittel zurück [...] Beide beschlossen ganz bewußt, sich vom Weltmarkt zu isolieren, indem sie Auslandskredite durch Kapital aus heimischen Quellen [...] ersetzten“ (S. 525, 551).

 

Eine andere Ähnlichkeit zwischen den beiden Systemen sieht Overy darin, daß es sich in beiden Fällen um eine „Kriegswirtschaft in Friedenszeiten“ handelte. Zwischen 1928 und 1938 seien die Verteidigungsausgaben in beiden Staaten um das 26fache gestiegen (S. 556).

Overy hebt hervor, daß sich die zentrale Wirtschaftslenkung nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch im Dritten Reich durchsetzte:

 

„Nun ist zwar nicht zu übersehen, daß Formen des Privateigentums im Dritten Reich überlebten, aber ebenso klar ist, daß eine rapide Verstaatlichung von Eigentum in Gang war [...] Auch wenn das Privateigentum der meisten Deutschen vom NS-Staat nicht unmittelbar bedroht wurde, sorgten die rassischen und völkischen Prioritäten des Regimes dafür, daß die Rechtssicherheit im Bereich des Privateigentums auf vielfacher Weise durchlöchert wurde“ (S. 577 f.).

 

Trotz der brillanten und äußerst fundierten Argumentation Overys kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß er den Verwandtschaftsgrad zwischen den beiden Wirtschaftssystemen überbewertet. Die Tatsache, daß die NSDAP, anders als die bolschewistische Partei, infolge eines Kompromisses mit Teilen des herrschenden Establishments an die Macht kam, zwang Hitler, trotz seines vielfach geäußerten Bedauerns, zur Eindämmung der „zweiten Revolution“, die der sozial subversive Teil der NS-Bewegung anstrebte. Und sogar nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli wagte Hitler keine Abrechnung mit den alten Eliten nach Stalinscher Manier – trotz seiner Bewunderung für die Art, wie Stalin mit der sowjetischen Elite umging. Der Endkampf mit der Aristokratie werde warten müssen, bis der Krieg vorbei sei, sagte er nach dem 20. Juli. Jetzt sei nicht der Augenblick, Spaltungen innerhalb des Volkes hervorzuheben (Ian Kershaw, Hitler 1936–1945, Stuttgart 2000, S. 903).

Overy befaßt sich allerdings nicht nur mit den Ähnlichkeiten, sondern auch mit den Unterschieden zwischen den beiden Regimen, dies besonders intensiv in den Kapiteln, in denen er die totalitären Ideologien und die beiden Lagersysteme analysiert. So weist er darauf hin, daß der stalinistische Gulag trotz all seiner Schrecknisse keine Vernichtungslager wie Auschwitz-Birkenau, Treblinka, Bełżec, Sobibór oder Chełmno kannte, in denen die Menschen bereits einige Stunden nach ihrem Eintreffen ermordet wurden (S. 805 f.). Grundlegende Unterschiede bestanden auch zwischen den nationalen Zusammensetzungen der Lagerinsassen in beiden Systemen: „Hauptsächlich sperrte der Sowjetstaat seine eigenen Leute ein, während die deutschen Lager [in den Kriegsjahren] überwiegend durch Ausländer bevölkert waren“ (S. 815). Abgesehen davon hätten die sowjetischen Behörden versucht, die Häftlinge mit Hilfe der sogenannten „Kulturarbeit“ zu indoktrinieren. „In den deutschen Lagern [hingegen] war niemand für die Kultur zuständig“ (S. 822).

Dieses letztere Unterscheidungsmerkmal war eng mit den unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen der beiden Regime verbunden, die im Buch ausführlich analysiert werden. Das rassistische Denkmodell der NSDAP, das von der Unveränderbarkeit der biologischen Gesetze ausging, wird mit der bolschewistischen bzw. stalinistischen Auffassung von der Flexibilität der menschlichen Natur verglichen, die durch äußere Faktoren, also auch durch die sogenannte „Erziehung“ bzw. „Aufklärung“, beeinflußt werden kann.

Aber auch verwandte Züge im ideologischen Gebäude der beiden Diktaturen waren unverkennbar. Overy spricht in diesem Zusammenhang von der Ablehnung der modernen, avantgardistischen Kunst, die in beiden Regimen als „entartet“ galt, von ihrer antielitären Attitüde, von ihren Appellen an das „gesunde Volksempfinden“. Zugleich hebt der Autor hervor, daß diese Ablehnung der Moderne nichts mit der Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ zu tun hatte, sondern Bestandteil der revolutionären Programme der beiden Diktaturen war, die sich die Erschaffung eines „neuen Menschen“ zum Ziel gesetzt hatten. Overy betont allerdings, daß sich die Inhalte der beiden Programme bzw. Utopien, ungeachtet der ähnlichen Methoden, mit denen Stalin und Hitler sie zu verwirklichen suchten, diametral voneinander unterschieden. Es war eine biologistische Utopie in dem einen und eine soziale in dem anderen Fall. Und in beiden Fällen führten die Versuche, diese utopischen Träume zu verwirklichen, zur Realisierung eines „Alptraums der Gewalt, Diskriminierung, Verfolgung und Entstellung“ (S. 350).

Overys Überlegungen zu den totalitären Ideologien bzw. zur totalitären Kunst sind zwar nicht so originell wie seine Analyse der totalitären Wirtschafts- und Militärpolitik. Oskar Anweiler oder Igor’ Golomštok haben bereits ähnliche Thesen vertreten. Dessenungeachtet trägt die prägnante Zusammenstellung der bisherigen Forschungsergebnisse, die Overy präsentiert, erheblich zum Verständnis der jeweiligen Eigenart der beiden Diktaturen bei.

Um so kurioser wirken auf diesem Hintergrund erstaunliche sachliche Fehler, die das Buch auch in seinen scharfsinnigsten Passagen enthält und die wohl auf des Autors fehlende Kenntnis der russischen Sprache und seine mangelnde Vertrautheit mit einigen Kapiteln der russischen Geschichte zurückzuführen sind.

So schreibt Overy im Zusammenhang mit den Veränderungen, die in der Roten Armee während des deutsch-sowjetischen Krieges stattfanden, folgendes: „Die Anrede ‚Genosse‘ wurde bei der Truppe zunehmend seltener verwendet; an ihre Stelle traten vermehrt Rangabzeichnungen“ (S. 704). In Wirklichkeit lautete die Anrede auch weiterhin „Genosse“, und zwar zusammen mit der Rangabzeichnung: Genosse Hauptmann, Genosse Major usw.

Der in russischer Sprache verfaßte Befehl der deutschen Besatzungsbehörden in Weißrußland wird im Buch als eine in „weißrussischer Sprache“ verfaßte Bekanntmachung bezeichnet.

Der Fürst von Novgorod und Großfürst von Vladimir Aleksandr Nevskij, der 1242 (nicht 1245) die Schlacht am Peipus-See gewonnen hatte, wird von Overy als moskowitischer Fürst bezeichnet (S. 741). Der Aufstieg Moskaus zum mächtigsten russischen Fürstentum begann aber erst nach dem Tode Nevskijs.

Die Schlacht von Borodino fand 1812 und nicht 1811 statt (S. 740), Pässe für den innersowjetischen Gebrauch wurden 1932 und nicht 1934 eingeführt (S. 755), Stalins Leichnam wurde 1961 und nicht 1959 aus dem Mausoleum entfernt (S. 186). Der russische Religionsphilosoph und Kritiker des Bolschewismus Nikolaj Berdjaev wird im Buch als „messianischer Bolschewik“ charakterisiert (S. 363).

Auch der Stellenwert der Feierlichkeiten zum Gedenken an den Sieg     über das Dritte Reich wird vom Autor nicht ganz treffend eingeschätzt. So schreibt er: „Die Feierlichkeiten zum Gedenken an den Tag des Sieges, die jedes Jahr am 9. Mai stattfanden, wurden mit größerem Ernst und Aufwand begangen als alle anderen Feiertage im Kalender der Partei“ (S. 713). In Wirklichkeit wollte aber Stalin, aus welchen Gründen auch immer, die Siegesparade, die übrigens am 24. Juni 1945 stattfand, nicht im vergleichbaren Umfang wiederholen. Erst 1965 wurde der Tag des Sieges zu einem offiziellen Feiertag in der Sowjetunion erklärt (Rudolf Pichoja, Sovetskij Sojuz. Istorija vlasti 1945–1991. Moskau 1998, S. 285).

So enthält das Buch Höhen und Tiefen, und dies verwundert nicht, wenn man bedenkt, wie breit und umfassend die Untersuchung Overys angelegt ist. Trotz mancher Schwächen wird diese Monographie aber zur Belebung der vergleichenden Erforschung der totalitären Diktaturen beitragen. Dies gilt in erster Linie für die wahrlich brillanten Kapitel über die Wirtschafts- und Militärpolitik des Dritten Reiches und der stalinistischen Sowjetunion.

Leonid Luks


Anne Applebaum: Gulag – A History. New York, Doubleday 2003, illustriert, 677 S.


Am 11. Juni 2003 zitierte Michael McFaul in der New York Times den amerikanischen Präsidenten George W. Bush bei dessen Besuch im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz: „And this site is also a strong reminder that the civilized world must never forget what took place on this site. May God bless the victims and the families of the victims, and may we always remember.“ McFaul bemängelt, daß Bush bei seinem anschließenden Besuch in Sankt Petersburg nicht auch die Solowetzker Inseln besuchte, den Ort der ersten Lager in Sowjetrußland. Auch habe er die Welt nicht dazu aufgerufen, sich „immer an die Opfer des Kommunismus zu erinnern“. Diese, so McFaul, würden allzu oft vergessen.

Anne Applebaums 2003 bei Doubleday, New York, erschienenes Werk Gulag – A History[1] ist all jenen gewidmet, die nicht vergessen, sondern beschrieben haben, was in den russischen Lagern geschehen ist. Applebaum gliedert ihr Werk in drei große Themenbereiche: die Ursprünge des Gulags, das Leben in den Arbeitslagern sowie Aufstieg und Fall des Lagersystems. Sie kann ihr Werk nicht nur auf den zahlreichen detaillierten Berichten Betroffener und Zeitzeugen[2] gründen, sondern untermauert es mit intensiven Recherchen in den nun zugänglichen russischen Archiven.[3]

Gerade hierin liegt die große Leistung Applebaums: Anders als Solženicyn ist Applebaum keine Zeitzeugin, und ihr Gulag ist das erste Projekt eines westlichen Historikers, das nach der Öffnung der sowjetischen Archive einen Überblick über die Geschichte des Gulags von seinen Anfängen bis zu seinem Ende ermöglicht. Applebaums Aufarbeitung des Gulags vermeidet dabei jedes Aufwiegen mit den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Sie neigt in ihren Schilderungen nicht zu Übertreibungen und wortgewaltigen Inszenierungen des Schreckens. Ihre Sprache bleibt stets sachlich – Adjektive kommen fast überhaupt nicht zur Verwendung –, selbst die Schilderungen des Lagerlebens nebst den zum Alltag gewordenen Vergewaltigungen kommen ohne plakative Sprache aus, und sind durch die simple Wiedergabe der Fakten um so eindrücklicher (vgl. S. 308 ff).

„This is a history of the Gulag. By that, I mean that this is a history of the Soviet concentration camps“ (S. XXV) – diese Geschichte der russischen Konzentrationslager legt Anne Applebaum Schritt für Schritt frei, von den Vorgängern unter den Zaren, über den schrecklichen Terror des russischen Bürgerkrieges der Jahre 1918 bis 1921 und den Übergang von der Idee der Umerziehung zur menschlichen Versklavung. Hier läßt Applebaum einen Vergleich anklingen, der auf den ersten Blick gewagt scheint: Sie verwendet den Begriff Genozid im Zusammenhang mit dem Gulag, meint jedoch nicht genocide im Sinne von Vernichtung von Leben, wie sie von den Nationalsozialisten in den Vernichtungslagern betrieben wurde, sondern cultural genocide – die Transformation von Personen in Unpersonen im Orwell’schen Sinn. Namen wurden getilgt, Dokumente gefälscht, ganze Landstriche verschwanden von Karten – der Gulag war das Land der lebenden Toten.

Applebaum schreibt gegen diesen Zynismus an; sie macht es sich zur Aufgabe, gegen das Vergessen zu kämpfen, und dies gelingt ihr mit ihrer fachlichen, durch Anekdoten bereicherten Darstellung auf eindrückliche Weise. Vor diesem Hintergrund kann man auch die Schlaglichtartigkeit der drei Hauptteile des Buches erklären, denen es an einer gewissen Kontinuität und innerem Zusammenhang mangelt. Besonders der erste, chronologische Teil „The Origins of the Gulag, 1917–1939“ hebt sich von den beiden folgenden Teilen, „Life and Work in the Camps“ und dem ebenfalls chronologischen „The Rise and Fall“, ab. Mit dem Solowetzker Sonderlager und dem Bau des Weißmeer-Kanals bringt Applebaum die beiden Wurzeln des Gulags in den Fokus und illustriert anhand von Solowki und Belomor die damals grundgelegten, immer wiederkehrenden Muster im System des Archipel Gulag. Leider bleiben die schrecklichen Ereignisse und Millionen Opfer des russischen Bürgerkrieges und des Terrors (1918–21) kaum berücksichtigt. Dieser zweite Teil mit seinen detaillierten Beschreibungen der in den Lagern begangenen Verbrechen und der Leiden der Opfer bildet den Brennpunkt von Applebaums Anliegen.

Bereits in ihrem Vorwort ordnet Anne Applebaum ihr Werk in den Prozeß ein, in dem es darum geht, Licht ins Dunkel der russisch-sowjetischen Geschichte zu bringen. Sie möchte keine abschließende Geschichte des Gulags vorlegen, sondern ein vernachlässigtes Kapitel des 20. Jahrhunderts in den Fokus der Öffentlichkeit bringen. So ist auch zu verstehen, daß einige neuere Publikationen – wie z.B. Meinhard Starks Studien über die Frauen im Gulag[4] und Ralf Stettners Analyse des Gulags als Wirtschaftsgiganten[5] – bei Applebaum keine Berücksichtigung finden. Ärgerlicher jedoch ist der Umgang mit den verwendeten Bildquellen: Die Bildunterschriften sind teilweise nichtssagend und versäumen es, die Bilder in den nötigen Kontext zu stellen. Außerdem ist auf Abbildung 5c nicht Jagoda, sondern Ežov neben Stalin zu sehen.

Diese Pannen, so störend sie sind, schmälern jedoch keineswegs Applebaums Verdienst im Kampf gegen das Vergessen der „Hälfte der europäischen Geschichte“ (S. 576), wie sie es selbst wiederholt nennt. Indem sie die Greuel der kommunistischen Terrorherrschaft ans Tageslicht bringt, hilft sie einer breiten Öffentlichkeit, die dunkle Seite der menschlichen Natur zu verstehen; um es mit ihren eigenen Worten zu sagen:

 

“The more we are able to understand how different societies have transformed their neighbors and fellow citizens from people into objects, the more we know of the specific circumstances which led to each episode of mass torture and mass murder, the better we will understand the darker side of our own human nature. This book was not written ‘so that it will not happen again’ […] This book was written because it almost certainly will happen again” (S. 576).

 

Ihre abschließende Warnung vor der Attraktivität totalitären Gedankengutes für Millionen von Menschen betont ihre anfängliche Warnung vor der Herunterspielung der stalinistischen Verbrechen – und ist leider sehr aktuell. Stimmen, die eine Wiedererrichtung der Statue Felix Dzierżyńskis, des Gründers der Čeka, vor der Lubjanka fordern, wecken die brennende Hoffnung, daß Anne Applebaums Buch möglichst oft gelesen wird.

 

(J.A.G. Fuchs)

 


[1] Bei der deutschen Ausgabe, die 2004 im Siedler-Verlag, Berlin, erschienen ist, handelt es sich um eine gekürzte Fassung des Werkes.

[2] Wie z.B. die Bücher von Jewgenia Ginsburg Gratwanderung (München, Piper 1982) und Marschroute eines Lebens (München, Piper 1992) sowie Warlam Schalamow Kolyma (München, Langen-Müller 1975).

[3] Applebaum recherchierte u.a. im Moskauer Staatsarchiv, in den Baltischen Republiken, in Archangelsk, Petrozavodsk, Syktyvkar und Vorkuta.

[4] Stark, Meinhard: „Ich muß sagen, wie es war“. Berlin, Metropol 1999.

[5] Stettner, Ralf: „Archipel GULag“. Paderborn u.a., Schöningh 1996.