Buchbesprechung von G. Simon

Buchbesprechung von G. Würzer

Buchbesprechungen von L.Luks



VI. Buchbesprechungen


"Vladimir Kantor, Willkür oder Freiheit? Beiträge zur russischen Geschichtsphilosophie, hrsg. v. Dagmar Herrmann, ibidem-Verlag, Stuttgart 2006, 334 S. (Soviet and Post-Soviet Politics and Society, hrsg. v. A. Umland, Nr. 31), € 29,90.

Vladimir Kantor, Professor für Philosophie an der Moskauer Hochschule für Ökonomie und Mitherausgeber der Zeitschrift Voprosy filosofii sowie einer anspruchsvollen Moskauer Buchreihe, gehört heute zu den im Westen bekanntesten russischen Philosophen. Er verdankt dies u.a. seiner Vertrautheit mit dem Denken des Westens; nicht zufällig hat er des öfteren vielbeachtete Vorträge in Deutschland, aber ebenso in den Vereinigten Staaten gehalten. Auch im Zentralinstitut für Mittel- und Osteuropastudien (ZIMOS) ist er oft ein gerne gesehener Gast. Der tiefere Grund seiner Bekanntheit dürfte freilich sein zugleich verständnisvoller und schonungsloser Blick auf russische Traditionen sein. Kaum ein anderer russischer Autor der Gegenwart spricht so deutlich Wahrheiten aus, die für den russischen Leser nicht selten schmerzlich sind, zugleich aber, weil sie so offen ausgesprochen werden, auch befreiend wirken dürften.

Der zu besprechende Band enthält elf verschieden lange Aufsätze, die ursprünglich alle in russischen und westlichen Zeitschriften erschienen; leider hat es der Verlag unterlassen, die Quellen anzugeben und dadurch dem Leser zu ermöglichen, die zeitliche Reihenfolge zu erkennen. Ob man im Westen alle Aufsätze bzw. die in ihnen untersuchten Gegenstände als im engeren Sinne „geschichtsphilosophisch“ bezeichnen würde, mag dahingestellt bleiben. Einige befassen sich mit Schriftstellern (Kantor hat ursprünglich an der Moskauer Staatlichen Universität Literatur und Linguistik studiert), etwa Tolstoj, dem der Verfasser eine verheerende Wirkung auf die russische Denkkultur bescheinigt, oder Turgenev, dem ersten russischen Schriftsteller, der in ganz Europa als bedeutend wahrgenommen wurde; andere erörtern Themen, die man geneigt wäre, als soziologisch zu bezeichnen, auch wenn unübersehbar ist, das sie aus der Feder eines philosophischen Zeitkritikers stammen, etwa eine nachdenklich-kritische Analyse der Geschichte der russisch-orthodoxen Kirche, die Kantor am Ende davor warnt, auch heute noch zu übersehen, daß die Masse ihrer Gläubigen vornehmlich aufgrund nationalistischer Motive Christen sind und deshalb eines Tages wieder einer   Ideo­­logie zum Opfer fallen könnten. („Eine Stammesreligion ist gut während der Landesverteidigung, aber machtlos in der Situation einer inneren Krise oder beim Aufbau des Staates. Sie kann allzu leicht in das Abergläubische abgleiten. Auf die Herausforderung der Globalisierung hat die russische orthodoxe Kirche keine Antwort“, S. 123).

Was Kantor besonders am Herzen liegt, wird am deutlichsten im ersten und im letzten Beitrag. Unter dem Titel „Der nationale Mythos der Unbegreifbarkeit“ analysiert der Verfasser die unter Russen weitverbreitete Vorstellung, Rußland folge einer schicksalhaften Bestimmung, die keiner rationalen Analyse, wie sie für das westliche Denken charakteristisch ist, zugänglich sei. Diesem „Pathos des Nichtverstehens“ oder eigentlich „Nichtverstanden-werden-Könnens“ hält Kantor entgegen, es sei an der Zeit, „das Begreifen Rußlands mit dem Verstand zur nationalen Tugend zu erklären“ (20), nur so könne man vermeiden, das in Rußland die „chthonischen Götter“ nochmals triumphieren. Im letzten Kapitel, das mit „Der russische Europäer als Aufgabe Rußlands“ überschrieben ist, wird deutlich, daß Kantor unter „rationaler Analyse“ nicht einfach das versteht, was man im Westen „Rationalismus“ nennt. Nicht zufällig bescheinigt er dem lateinischen Christentum, eine seiner wichtigsten historischen Rollen sei eine „Überwindung der nationalistischen Abschottung“ der jeweiligen Kultur gewesen, die es prägte. Für die Christen habe es weder Hellenen noch Judäer gegeben, alle waren Menschen. Diese Vorstellung, so Kantor, habe sich in Rußland nie wirklich durchgesetzt. Für die russischen Westler war Westeuropa ein Ideal, dem sie blind folgten, ohne auf die Probleme zu achten, mit denen die lateinische Welt im Verlauf ihrer Geschichte ringen mußte. Für die Slawophilen war dieselbe Welt nichts als eine Gefährdung der russischen Eigenheiten. Beide übersahen, daß ebenso Rußland wie Europa Schwächen hatten und deshalb mit Aufgaben ringen mußten, die es zu lösen galt. „Praktisch alle Richtungen (von den linken Radikalen bis zu dem Radikalismus vom Schlag eines Nikolaj Danilevskij und Konstantin Leonťev) lehnten Europa ab, da es von Rußland unweigerlich einmal übertroffen werden würde“ (323f.). Diesen beiden Richtungen stellt der Verfasser die Haltung der leider viel zu seltenen „russischen Europäer“ gegenüber, Denkern, denen es um „die Verteidigung europäisch-christlicher Grundwerte in jedem beliebigen Land“ ging. Sie betrachteten ebenso Rußland wie auch den Westen kritisch, weil nämlich beide Teile Europas seien und deshalb beide, Rußland wie Europa, das Recht hätten, ihre Verbesserung zu wünschen. „Es ist eine interne Selbstkritik der europäischen Kultur, die dazu beiträgt, daß man in der ganzen europäischen Welt normal existieren kann. Dann wird sich auch der Wunsch eines russischen Dichters erfüllen, der davon träumte, in Europa zu leben, ohne aus Rußland auszureisen“ (333). Wie Kantor an einer anderen Stelle betont, ist die Erfüllung dieses Traumes keineswegs nur eine Utopie: der grausame Terror Stalins habe bewirkt, daß heute die russische Gesellschaft die sich anbahnende Verwestlichung nach und nach akzeptiert. „Parallel dazu setzt sich der Wandel der russischen Mentalität fort, die nach der kolossalen Kräfteanspannung von 1917 bis 1956 nach Rechtsnormen strebt. Natürlich ist dies ein langwieriger historischer Prozeß: Wir sind bei seinem Anfang zugegen“ (315).

Die Aufsätze wurden unter der Leitung der langjährigen Mitarbeiterin von Lev Kopelev, Dagmar Herrman, kompetent und flüssig übersetzt. Es wäre hilfreich gewesen, einen Personenindex hinzufügen. Leonid Luks hat den Aufsätzen ein Vorwort vorangestellt, in dem er u.a. darauf hinweist, der Zusammenbruch des Kommunismus stelle für Kantor eine einzigartige Chance Rußlands dar, „an die in der sowjetischen Zeit verdrängten Traditionen des russischen Europäertums wiederanzuknüpfen“ (9).

(Nikolaus Lobkowicz)



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Friedrich von Halem, Recht oder Gerechtigkeit? Rechtsmodelle in Ost und West von der Antike bis zur Moderne. Eine Aufsatzsammlung, hrsg. v. Leonid Luks, Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2004, 269 S. (Schriften des Zentralinstituts für Mittel- und Osteuropastudien, Band 6), € 24,90.

Friedrich von Halem (1933–2003) war ein gelernter Rechtsanwalt und gelehrter Rechtshistoriker mit einem weiten Interessenhorizont. Sein zentrales Anliegen bestand darin, die spezifischen Züge der Rechtskultur des Abendlandes – wie er etwas altmodisch den Geltungsraum des römischen Rechts nennt – herauszuarbeiten und dem abendländischen Rechtsverständnis die griechisch-byzantinische Werteordnung gegenüberzustellen, die insbesondere in Rußland ihre Fortsetzung gefunden hat. Immer wieder wird der Leser zum Verständnis für andere Rechtskulturen aufgerufen und dazu, nicht in seiner abendländischen Engstirnigkeit andere mit der eigenen Elle zu messen.

Friedrich von Halem ist ein lebhafter Erzähler, stets mit Geschichten und Beispielen zur Hand, und er pflegt ein literarisches Genre, das zwischen wissenschaftlichem Essay und Feuilleton viele Register zieht. Die Spannweite der hier vorgelegten Beiträge reicht von wissenschaftlichen Aufsätzen bis zu unvollendeten Skizzen, die offenbar als Material für nicht mehr ausgeführte Arbeiten konzipiert waren. Einige Beiträge sind Erstveröffentlichungen, andere Wiederabdrucke.

In dem von Rom geprägten Abendland ist wahr, „was beweisbar ist“ (S. 60), und Recht ist das, was als Recht gesetzt worden ist und was „gewußt werden muß“ (61). „Für den Griechen steht die Gerechtigkeit des Einzelfalls im Vordergrund“ (ebd.). Die Gerechtigkeit aber ist ein Wert, und Werte werden nicht von einzelnen, sondern von der Gemeinschaft geschaffen. „Außerhalb der Gemeinschaft gibt es kein Recht“ (77). In der griechisch-byzantinischen Tradition spielt die Harmonie innerhalb der Gemeinschaft eine zentrale Rolle. „Die auf Werte und Wertordnung gegründete Gemeinschaft fällt sofort auseinander, wenn der Konsens ihrer Mitglieder darüber verlorengeht. Außerhalb des Abendlandes gibt es nur die Alternative Konsens, Friede und Harmonie oder Anarchie, Mord und Totschlag“ (110).

Im Abendland dagegen gibt es ein Recht, das „auf dem Begriffe der beweisbaren Wahrheit gründet und daher oberhalb von Wertordnung und Werten steht“ (111). Unser Recht ist deshalb hervorragend zur Bewältigung von Konflikten nach festgelegten Regeln geeignet.

Während im Abendland das Individuum, die Person „der einzig vorstellbare Träger von Rechten“ ist (27), existieren in der byzantinischen Tradition weder Person noch Körperschaft als Rechtsinstitute und deshalb auch kein „Verhältnis von Kirche und Staat“, das ja zwei Körperschaften mit jeweils verschiedenem Willen und Interessen voraussetzt (32). Deshalb gibt es und kann es auch keine Gewaltenteilung geben, denn „der Herrschaftsapparat ist ein einheitlicher Organismus“ (50).

Römisches Rechtsdenken prägte nicht nur Staat und Gesellschaft im Westen, sondern auch Theologie und Kirche, was der Autor zum Anlaß nimmt, wiederholt giftige Pfeile auf die katholische Kirche abzuschießen, die jedoch nach Einschätzung dieses Rezensenten am Ziel vorbeigehen. Der Autor konstatiert zu Recht die enge Verbindung von Glaubenswahrheit und rationaler Wahrheit in der abendländischen Tradition, sieht aber nicht, daß eben dies Ausdruck einer Aufklärung in der Spätantike war und die Voraussetzung für systematisches theologisches Denken schuf, das in der byzantinisch-russischen Tradition unterentwickelt blieb. Friedrich von Halem huldigt der seit 200 Jahren verbreiteten Vorstellung, Glaubenswahrheit und rationale Wahrheit stünden einander unversöhnbar gegenüber. Er gießt den Kübel des Hohns über jene aus, die noch immer an der Wahrheitsfrage in Glaubensdingen festhalten, „mit der im Abendlande keine Blumentöpfe mehr zu gewinnen“ seien (44). Die Theologie Joseph Ratzingers hat unseren Autor offenbar nicht erreicht.

Friedrich von Halem hat sich dem Abbau von Stereotypen verschrieben, verfällt ihnen jedoch manchmal selbst, insbesondere in seinen theologischen Exkursen. So wenn das Verhältnis zwischen Gott und Mensch in der Theologie der lateinischen Kirche in erster Linie als Rechtsverhältnis, in der östlich-griechischen Theologie dagegen als Liebesverhältnis charakterisiert wird (65). Ähnlich falsch ist die Behauptung, außerhalb des Abendlandes bestehe eine größere Toleranz gegenüber abweichendem menschlichen Verhalten (70). Tatsächlich dürfte es gegenwärtig in keinem Kulturkreis soviel Laisser-faire gegenüber deviantem Verhalten geben wie im Westen.

Besonders einprägsam und farbig schildert von Halem seine persönlichen Erfahrungen als Rechtsanwalt in Moskau in den 1990er Jahren (203–229). Der Anwalt fand viele Einsichten des Rechtshistorikers bestätigt, insbesondere die Schwierigkeit, westliche Rechtsvorstellungen in Rußland umzusetzen, wo als wichtigster Regelungsmechanismus die Macht auftritt, die „in vieler Hinsicht eine ähnliche Rolle spielt, wie das Recht bei uns“ (205), und jedes Urteil eines Gerichts wieder aufheben kann. Dem Anwalt wurde auch schmerzlich deutlich: „Wenn sich zwei Banken über die Rechtswirksamkeit der Prolongierung eines Wechsels streiten, dann sind alle Überlegungen über Gerechtigkeit fehl am Platz“ (216). Der Autor als Streiter für die Achtung vor der Andersartigkeit der Rechtskultur in Rußland findet einen gewissen Trost darin, daß „die Regeln des Anstands und der Ethik“ dort mehr Achtung finden als im „Konkurrenzdenken der freien Wirtschaft“ (218); allerdings dürfte nicht jeder Beobachter dieser Einschätzung zustimmen.

Zwei Beiträge beschäftigen sich mit den Eurasiern – einer intellektuellen Bewegung innerhalb der russischen Emigration in den 1920er und 1930er Jahren –  und der Wiederkehr des Eurasismus im postkommunistischen Rußland. Der Autor zitiert den eurasischen Rechtswissenschaftler M.V. Šachmatov, der die Sakralisierung der Macht in Rußland verherrlicht hat: „… der Staat der Wahrheit (pravda) bedeutet die Herrschaft des Helden, des Tatmenschen, des Märtyrers“ in der Gestalt des zarischen Selbstherrschers. „Der Rechtsstaat ist zu eng für die unendlichen Weiten Rußlands, für die Spannweite seines Genies.“ „Den Staat der Pravda aber zeichnet die Schönheit des religiösen Pathos, … der Kult der lichten und starken Persönlichkeit … aus“ (zit. 169, 181). Diese mystische Überhöhung des Staates und des Zaren bzw. Führers durch die Eurasier hat dazu beigetragen, Rußland und seine Eliten wehrlos zu machen gegen die Zerstörung des Landes durch die Bol’ševiki. Insoweit schließt sich dieser Rezensent – im Gegensatz zum Autor – jenen Abendländern an, die geneigt sind, „die Pravda als Vorspiegelung falscher Tatsachen, als Schwindel aufzufassen“ (180). Zwar distanziert sich auch der Autor an anderer Stelle vorsichtig von den Eurasiern (200), vermag aber nicht zu erkennen, wie verhängnisvoll die aus einer langen Tradition stammende Sakralisierung des Staates für Rußland im 20. Jahrhundert geworden ist.

Die Wiederkehr des Eurasismus im postkommunistischen Rußland ist allerdings anderen Denkansätzen aus dieser durchaus diffusen Schule geschuldet. Der Autor macht deutlich, daß insbesondere die positive Wertung der islamischen, „asiatischen“ Wurzeln Rußlands den Eurasismus heute populär macht. Das nachkommunistische Rußland ist auf der Suche nach Identität. Seine geopolitische und kulturhistorische Lage sowohl in Europa als auch im außereuropäischen „Osten“ bietet sich als Selbstwahrnehmung an, und hier haben die Eurasier intellektuelle Vorarbeit geleistet. In Kasachstan seien die Begriffe „Eurasier“ und „Eurasiertum“ sogar in offizielle Verlautbarungen eingegangen. Das Staatsvolk Kasachstans bilden zu beinahe gleichen Teilen Kasachen (45 %) und Russen (35 %).

Insgesamt bietet dieser Band interessante Einblicke in die politische Kultur des Westens und des Ostens Europas, dabei treten die Unterschiede hervor. Der Autor wirbt für ihre Achtung, zeigt aber auch, daß es gute Gründe für die Anziehungs- und Überzeugungskraft der westlichen Tradition von Recht und Rechtsstaat gibt.

(Gerhard Simon)


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Nicolas Werth, Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener Gulag, Siedler Verlag, München 2006, 222 S. (aus dem Französischen von Norbert Juraschitz und Enrico Heinemann), € 19,95.

Der reißerische Titel dieses neuen Werks des Mitherausgebers des Schwarzbuch des Kommunismus täuscht über seinen wirklichen Inhalt hinweg. Tatsächlich beansprucht der bekannte französische Historiker, eine wissenschaftliche Untersuchung vorzulegen. Dies ist ihm aber nur teilweise gelungen.

Er zeigt an einem krassen Beispiel die Arbeitsweise des stalinistischen Repressionsapparates auf. Dabei geht er vom Allgemeinen zum Besonderen vor. Zunächst beschreibt er, wie auf höchster Ebene Anfang 1933 der Plan heranreifte, sozial unliebsame Elemente aus den Städten zu deportieren und zur Kolonisation der Taiga in Westsibirien einzusetzen. Dann zeigt er auf, wie sich die Situation östlich des Urals vor Ort darstellte. Anschaulich schildert er das Klima der Gewalt, das dort unter dem Eindruck der ersten großen Deportationswelle infolge der Kollektivierung der Landwirtschaft eskalierte. Im weiteren führt er aus, wie die Vorgaben des Zentrums von den regionalen Parteidienststellen umgesetzt wurden und in welcher Weise das Schicksal der zu Deportierenden zur Verhandlungsmasse zwischen dem Kreml und den Provinzfürsten wurde. Die folgenden Abschnitte sind dem Leidensweg der Verschickten gewidmet, den er von der Verhaftung in Leningrad oder Moskau über den Transport nach Tomsk, den Aufenthalt dort bis zu den Zuständen auf Nasino schildert. Auf dieser unwirtlichen Insel nördlich von Tomsk wurden ab dem 14. Mai 1933 schließlich 6.600 bis 6.800 Personen interniert, ohne daß die notwendigen Vorkehrungen für die Befriedigung auch nur der elementarsten Bedürfnisse getroffen worden wären. Am 20. August 1933 lebten noch knapp 2.200 Deportierte (S. 163). Bei den umliegenden Einwohnern erhielt der Ort den Namen „Kannibaleninsel“. Dieser Ausdruck erscheint aber nicht angemessen. Tatsächlich wurden rund 50 Personen als Kannibalen verhaftet (147), was der Annahme einer verbreiteten Praxis der Menschenfresserei widerspricht. Interessant ist die Schilderung, wie auf die Initiative eines örtlichen Journalisten hin die Mißstände aufgedeckt wurden und sich ein Skandal entwickelte, der die höchsten Instanzen beschäftigte.

Insgesamt hinterläßt das Buch einen zwiespältigen Eindruck. Zum einen ist die Geschichte kompakt und spannend erzählt, und Werth hat wichtige Dokumente in Moskauer Archiven wie dem Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation und dem Archiv des Geheimdienstes erhoben, die westlichen Forschern meist verschlossen bleiben. Andererseits stützt er sich bei der Darstellung des Schicksals der Deportierten auf der Insel im wesentlichen auf zwei publizierte Dokumentensammlungen. Man hätte von dem Autor durchaus erwarten können, daß er selbst den Ort des Geschehens besucht und Interviews mit Zeitzeugen geführt hätte. In jedem Fall kommt Werth das Verdienst zu, die Vorgänge auf der „Kannibaleninsel“ auch dem Leser im Westen zugänglich gemacht zu haben. Überdies ist ihm eine anregende Lektüre gelungen, und es ist die besondere Leistung der Übersetzer Norbert Juraschitz und Enrico Heinemann, den fesselnden Stil aus dem Französischen übertragen zu haben.

(Georg Wurzer)

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Deutsch-jüdische und russisch-jüdische Beziehungen in der neuesten Geschichte – zwei neue Bücher zu einer alten Kontroverse"

Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte Deutschland für die osteuropäischen, vor allem für die russischen Juden, eine Art „Gelobtes Land“ dar. Mit Neid blickten sie auf die Erfolge ihrer deutschen Glaubensgenossen im Kampf um die gesellschaftliche Anerkennung und rechtliche Gleichstellung. Von einer solchen Gleichstellung konnte in Rußland bis zum Sturz der Romanow-Dynastie im Februar 1917 keine Rede sein. Nur wenige sahen damals die Anzeichen der sich anbahnenden Katastrophe des deutschen Judentums. Und auch etwas anderes wurde damals übersehen: wie eng die Geschicke Deutschlands und Rußlands wie auch diejenigen der dort lebenden Juden miteinander verflochten waren. Die Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben dies deutlich offenbart. Aus diesem Grund erachte ich es für sinnvoll, die vor kurzem erschienenen Bücher zur Geschichte der deutsch-jüdischen und der russisch-jüdischen Beziehungen in einer Sammelrezension zu besprechen.


Albert Bruer, Aufstieg und Niedergang. Eine Geschichte der Juden in Deutschland (1750–1918), Böhlau Verlag, Köln / Weimar / Wien 2006, 394 S. € 39,90.

Seit vielen Jahrzehnten werden heftige Kontroversen zum Charakter des deutsch-jüdischen Verhältnisses geführt. Stellte dieses Verhältnis eine Art Symbiose dar, die 1933 über Nacht zu Ende ging, oder handelte es sich bei der so viel beschworenen „Symbiose“ lediglich um ein Phantasiegebilde der assimilierten deutschen Juden ohne jeglichen Bezug zur Realität? Die Auseinandersetzung mit dieser Problematik steht im Zentrum der vorliegenden Monographie, die sowohl die beispiellose Erfolgsgeschichte des deutschen Judentums seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als auch die 1933 begonnene beispiellose Katastrophe zu ergründen sucht.

Im Mittelpunkt der Studie steht die Analyse des jüdisch-deutschen Verhältnisses in einem Staat, der am stärksten die Geschicke Deutschlands in der neuesten Geschichte prägte – in Preußen.

Als Emporkömmling im europäischen Konzert der Mächte, der über recht begrenzte finanzielle Ressourcen verfügte, mußte Preußen diese Defizite durch eine effiziente Ausnutzung seiner Ressourcen kompensieren. Dies machte die Monarchie vom finanziellen Geschick ihrer Bankiers abhängig, die in überwiegender Mehrheit Juden waren. Dazu schreibt Bruer: „Aus Preußens Zwangslage, die vor allem darin begründet war, daß der Staat ein eigentlich weit über seine Möglichkeiten gehendes Heer unterhielt, ergibt sich auch einer der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis der Judenpolitik unter den beiden Königen Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II.“ (S. 43).

Die Einstellung der beiden Monarchen zu den Juden sei zwar äußerst kritisch gewesen, setzt Bruer seine Ausführungen fort, indes habe die prekäre finanzielle Lage sie dazu gezwungen, über ihren Schatten zu springen und mit der jüdischen Finanzoligarchie eng zusammenzuarbeiten: „In wenigen anderen Ländern erreichten die Hofjuden [...] einen derart spektakulären Aufstieg wie in Preußen. Hier kam alles zusammen: ein ehrgeiziger, aber armer Staat, Mangel an einheimischen Financiers“ (75).

Die preußischen Juden profitierten allerdings nicht nur von der finanziellen Zwangslage des Staates, sondern auch vom Geist der Aufklärung mit seiner Lehre von der universalen Bedeutung der Menschenrechte, der damals Deutschland erfaßte. Das Problem der deutschen Aufklärer bestand allerdings darin, daß ihre geistigen Vorbilder aus einem Land stammten, das als der größte Widersacher Deutschlands, ja als sein Erbfeind galt – dies insbesondere seit den napoleonischen Kriegen.

Das gemeinsame Werk der deutschen und der jüdischen Aufklärer (Lessing, Mendelssohn) geriet sehr schnell unter den Beschuß der Gegenaufklärer, die den universalistischen Denkmodellen eine Absage erteilten: „Die Parolen von Toleranz und Humanität schienen einer versunkenen Epoche anzugehören [...]. An die Stelle des aufklärerischen Brückenschlags aller Nationen traten die Entdeckung und Typisierung der national-kulturellen Eigenheiten. Das Trennende rückte in den Vordergrund und mit ihm versank der Wunsch nach Integration einer über Jahrhunderte abgegrenzten Minderheit in den Bereich der Phantasterei“ (113, 116).

Damals fielen die verhängnisvollen Worte Fichtes über den jüdischen „Staat im Staate“, der einen nicht integrierbaren Fremdkörper innerhalb anderer europäischer Nationen darstelle: „Fast durch alle Länder von Europa verbreitet sich ein mächtiger, feindselig gesinnter Staat, der mit allem übrigen im beständigen Kriege steht [...]: es ist das Judentum“ (125).

Ungeachtet dieser geistigen Tendenzwende blieb das deutsch-jüdische Verhältnis weiterhin ambivalent. Und diese Ambivalenz prägt die beiderseitigen Beziehungen praktisch im Verlaufe des gesamten 19. Jahrhunderts. Sie offenbarte sich bereits nach der Katastrophe, die der preußische Staat 1806 im Krieg gegen Napoleon erlitten hatte. Um im damaligen Überlebenskampf zu bestehen, mußte sich Preußen dringend modernisieren. Das damalige Dilemma des Staates faßte 1807 einer seiner größten Reformer, Karl August von Hardenberg, folgendermaßen zusammen: „Der Wahn, daß man der Revolution am sichersten durch Festhalten am Alten [ausweichen könnte ...] hat besonders dazu beigetragen, die Revolutionen zu befördern“. Für Preußen wäre eine Revolution im guten Sinn erforderlich, so Hardenberg. Eine Revolution, die zur „Veredelung der Menschheit durch Weisheit der Regierung [führt] und nicht durch gewaltsame Impulsion von Innen nach Außen“ (176).

Von dem 1808 begonnenen Erneuerungswerk der preußischen Reformer profitierten auch die Juden, die durch das Edikt vom März 1812 die Möglichkeit erhielten, das Staatsbürgerrecht, wenn auch mit einigen Einschränkungen, zu erwerben.

Im Zeitalter der Restauration nach 1815 wurden indes viele Zugeständnisse an die Juden sowohl in Preußen als auch in den anderen deutschen Staaten rückgängig gemacht. Der Autor zeigt, daß der damalige Kampf gegen die Gleichberechtigung der Juden, ähnlich wie während der gegen-aufklärerischen Tendenzwende im ausgehenden 18. Jahrhundert, sowohl von oben (seitens der Behörden) als auch von unten (seitens der antijüdisch gesinnten Teile der Öffentlichkeit) geführt wurde. Antijüdische Ausschreitungen und Pogrome des Jahres 1819 stellten den Höhepunkt dieser Judenhetze dar. Dies war allerdings nur eine Seite der Medaille. Denn auch liberal und freiheitlich gesinnte Kräfte meldeten sich damals zu Wort. Sie bekämpften den Obrigkeitsstaat und den Untertanengeist und strebten nach einer gesellschaftlichen Emanzipation, wobei die Judenemanzipation ausdrücklich zu ihren Hauptzielen zählte. Der Autor hebt hervor, daß ungeachtet des Scheiterns der Revolution von 1848 und ungeachtet des autoritären Charakters der in den 1860er Jahren begonnenen Bismarckschen Revolution von oben das liberale Gedankengut keineswegs aufhörte, die Entwicklung Deutschlands zu prägen, und zwar bis etwa Mitte der 1870er Jahre. Dies war die Zeit einer rasanten Modernisierung des Landes, eines beispiellosen machtpolitischen und wirtschaftlichen Wachstums. Jüdische Unternehmer, Bankiers und Intellektuelle beteiligten sich an diesem Modernisierungsprojekt mit einem ungewöhnlichen Engagement. Sie gehörten schließlich zu den größten Gewinnern dieses Prozesses. Ihre Gleichberechtigung wurde durch ein Gesetz des Norddeutschen Bundes vom 3. Juli 1869 formell besiegelt.

Diese Entwicklung hatte aber auch ihre Schattenseiten. Denn jede Infragestellung des liberalen Gedankengutes, jede Auflehnung gegen die Moderne mußte sich beinahe zwangsläufig auch gegen die Juden richten: „Der Kapitalismus und seine Schattenseiten wurden mit den Juden identifiziert. Die sichtbar werdenden Schattenseiten des Kapitalismus – konjunkturelle Anfälligkeit, neue Gefahren für die Besitzstände der Bürger, ein schwierig werdendes Umfeld für Landwirte und Handwerker – verstärkten dies. Mit der Zunahme der wirtschaftlichen Ängste [...] stellte sich die Judenfrage neu, und dies in einer größeren Heftigkeit als zuvor“ (292).

Im Börsenkrach vom Jahre 1873 infolge der Gründerkrise sieht Bruer eine Zäsur in der Geschichte der deutsch-jüdischen Beziehungen. Diese Krise diskreditierte außerordentlich den liberalen Gedanken wie auch die mit ihm verbundenen Prinzipien der freien Marktwirtschaft. Da man die Juden als die treibende Kraft wie auch als den wichtigsten Profiteur des liberalen bzw. kapitalistischen Systems betrachtete, wurden sie für alle Krisen dieses Systems verantwortlich gemacht.

Auf den ersten Blick erinnern die antisemitischen Tiraden Treitschkes, Glagaus und anderer Autoren der judenfeindlichen Schriften nach 1873 an die Ausführungen Fichtes oder der Inspiratoren der Judenpogrome von 1819. In Wirklichkeit besteht aber ein grundlegender Unterschied zwischen diesen beiden Phasen der Auseinandersetzung mit der Judenfrage. Vor 1873 stießen die judenfeindlichen Tendenzen auf einen heftigen Widerstand der liberal gesinnten Verfechter der Moderne. In der zweiten Hälfte der 1870er Jahre begann indes der Niedergang des deutschen Liberalismus, der Widerstand gegen den virulenten Antisemitismus ließ nach. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang der vom Autor unternommene Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich:

„Die Vorstellung von einem jüdischen Komplott hat es in Frankreich ebenfalls wie auch in anderen Ländern gegeben. [...] Aber, und auch dies unterscheidet  Frankreich von Deutschland: Es gab eine moralische Kraft wie die eines Emile Zola, eines Bernard Lazare und ihrer Verbündeten [...]. Diese moralische Kraft reichte weit genug, um Dreyfus [...] zu rehabilitieren [...]. Eine solche Diskussion und eine solche in der Gesellschaft doch noch vorhandene moralische Kraft hat es in Deutschland nicht gegeben“ (332).

War also der Untergang des deutschen Judentums bereits nach 1873 im Grunde vorprogrammiert? Die Antwort Bruers auf diese Frage fällt recht unklar und widersprüchlich aus. Einerseits schildert er die fortwährende Radikalisierung des deutschen Antisemitismus. So die für die Juden demütigende „Judenzählung“ im Heer während des Ersten Weltkrieges, die gehässige Dolchstoßlegende nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg, die sich in erster Linie gegen die Juden richtete, und schließlich die Monomanie Hitlers, der alle „Wirren der Realität [...] auf ein Komplott des Judentums [reduzierte]“ (332).

Zugleich wendet sich aber der Autor gegen die Meinung, der Untergang des deutschen Judentums sei unvermeidlich gewesen (302, 331), begründet indes diese These, die seinen eigenen Ausführungen eher widerspricht, kaum.

Es ist außerdem bedauerlich, daß ein Buch über Aufstieg und Untergang des deutschen Judentums mit dem Jahr 1918 endet und die Zeit bis 1933 lediglich kursorisch in einem Epilog behandelt. Zu kritisieren ist auch die Tatsache, daß der europäische Kontext des deutsch-jüdischen Verhältnisses zu wenig beleuchtet wird. Dies erschwert die Beantwortung der Frage nach den Ursachen für die Einzigartigkeit dieser Beziehung. Gelegentliche Verweise auf Frankreich und Österreich, die im Buch enthalten sind, reichen dafür nicht aus.

Trotz einiger Defizite, die bei einem derart ambitionierten Vorhaben unvermeidlich sind, beeindruckt das Gesamtergebnis. Dieses Buch liefert eine äußerst informative, dichte und originelle Analyse eines der kompliziertesten Beziehungsgeflechte der neuesten Geschichte. Besonders luzide sind diejenigen Kapitel, in denen sich der Autor mit den wirtschaftlichen oder ideengeschichtlichen Aspekten des deutsch-jüdischen Verhältnisses befaßt.


Ėjtan Finkel’štejn, Pastuchi faraona [Die Hirten des Pharao], Novoe literaturnoe obozrenie, Moskau 2006, 480 S.

Vor einigen Jahren veröffentlichte Aleksandr Solženicyn ein Buch über die gemeinsame russisch-jüdische Geschichte der letzten zweihundert Jahre. Dieses zweibändige Werk stellt eine Art Synthese aus einer leidenschaftlichen Apologie und einer nicht weniger leidenschaftlichen Anklage dar. Im apologetischen Teil neigt Solženicyn zur Relativierung und Verharmlosung der restriktiven Politik der zarischen Regierung in bezug auf die jüdische Bevölkerung des Reiches. Die Anklage wiederum richtet sich gegen die Juden, denen er eine besondere Verantwortung für die Katastrophen, die Rußland im 20. Jahrhundert erlitten hat, zuschreibt. Aufgrund seiner manichäisch vereinfachenden Sicht trägt dieses Buch wenig zum Verständnis des äußerst komplizierten russisch-jüdischen Verhältnisses in der neuesten Geschichte bei.

Etwa zur gleichen Zeit wie die Schrift Solženicyns ist ein anderes Buch entstanden, das sich der gleichen Thematik, wenn auch aus einer ganz anderen Sicht, widmet. Es handelt sich hierbei um einen historischen Roman des in München lebenden russisch-jüdischen Historikers und Publizisten Ėjtan Finkel’štejn.

Der Roman hat zwei Erzählstränge. Auf der Makroebene wird die Geschichte des russischen Judentums und des russisch-jüdischen Verhältnisses seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart dargestellt, auf der Mikroebene die Geschichte der weitverzweigten jüdisch-russischen Familie des Ich-Erzählers.

Beide Sujets entwickeln sich recht unabhängig voneinander. Indes liefert die auf der Makroebene dargestellte Entwicklung den unentbehrlichen historischen Hintergrund zum Verständnis der im Roman geschilderten Einzelschicksale.

Der historische Strang des Romans beginnt mit der Schilderung der praktisch ersten russisch-jüdischen Begegnung im großen Maßstab, die während der polnischen Teilungen stattfand, als ostpolnische Gebiete mit der dort kompakt lebenden jüdischen Bevölkerung vom Russischen Reich inkorporiert wurden. Rußland wurde damals von einer Zarin regiert, die mit den größten westlichen Aufklärern unentwegt korrespondierte und die den Reformgeist geradezu verkörperte. Indes blieb das Reformwerk Katharinas ein Stückwerk. Der Autor zeigt, wie wenig die aufklärerischen Ideen von der Gleichstellung aller Menschen, auch der Juden, die damals den Westen revolutionierten, die russische Wirklichkeit zu beeinflussen vermochten. Die jüdischen Untertanen des Zarenreiches wurden derart vielen Restriktionen unterworfen, daß ihre Integration in das gesellschaftliche Gesamtgefüge kaum möglich war. Im Siedlungsrayon an der westlichen Peripherie des Reiches zusammengepfercht, pflegten sie ihr Sonderdasein ohne allzu große Kontakte mit der Außenwelt. Dies sei ausgerechnet die Zeit gewesen, in der die deutschen Juden von der Aufklärung und die französischen von den  emanzipatorischen Auswirkungen der Französischen Revolution erfaßt worden waren, so der Autor: „Zwischen den Juden im Westen und im Osten des Kontinents tat sich eine Kluft auf, die drohte sich zu einem Abgrund auszuweiten“ (S. 36).

Immer wieder zeigt Finkel’štejn Parallelen zwischen der Lage der Juden und derjenigen der russischen Bauern auf. Beide Bevölkerungsgruppen hätten vom aufklärerischen Eifer Katharinas, aber auch ihres reformgesinnten Enkels Alexander I. nur wenig profitiert. Ähnlich wie bei Katharina habe sich die Mehrheit der Reformpläne Alexanders I. auf mehr oder weniger wirkungslose Entwürfe reduziert. Dem Bezwinger Napoleons habe der Mut gefehlt, seine bäuerlichen und jüdischen Untertanen zu befreien: „Der Siedlungsrayon – dieser Staat im Staate – stellte nun die Heimat der russischen Juden dar. Sie waren dazu verurteilt, hier kompakt und autonom zu leben. Sie haben hier zu ihrem Gott gebetet, ihre eigene Sprache gesprochen, nach ihren Bräuchen gelebt. Die russische Welt war von ihnen meilenweit entfernt, die russische Sprache unverständlich und die Russen in der Gestalt der uniformierten Polizisten und Beamten riefen bei ihnen Ängste hervor. Aber auch für die russische Gesellschaft war das Leben der Juden völlig unverständlich. [...] Man hielt die Juden für einen Fremdkörper, der nicht dazu geeignet sei, sich an die russische Umwelt anzupassen“ (60).

Der durch den Dekabristen-Aufstand von 1825 aufgeschreckte Nachfolger Alexanders I., Nikolaus I., zeichnete sich durch eine ausgesprochene Reformfeindlichkeit aus, was sich äußerst negativ auf die Lage der Juden im Lande auswirkte. Zu einem besonders düsteren Kapitel ihrer Geschichte wurde das Schicksal der sogenannten Kantonisten – der jüdischen Kinder, die laut dem kaiserlichen Edikt vom August 1827 ab dem 12. Lebensjahr zum Militärdienst für die Dauer von 31 Jahren einberufen werden konnten. Die Einberufenen sollten in den Regionen dienen, die vom Siedlungsrayon weit entfernt waren, vorzugsweise in Sibirien. Diese Maßnahme sollte dazu beitragen, sie ihrer jüdischen Kultur und Religion zu entfremden.

Über das schwere Schicksal der jüdischen Kantonisten berichteten viele russische Zeitzeugen, nicht zuletzt Alexander Herzen, den der Autor ausführlich zitiert. Bei der Darstellung dieser Problematik verbindet Finkel’štejn seine beiden Erzählstränge, denn bei einem der Vorfahren des Ich-Erzählers handelte es sich um einen Kantonisten, dessen Lebensweg ausführlich beschrieben wird.

Nach der Thronbesteigung Alexanders II. begann in der Geschichte Rußlands, auch des russischen Judentums, eine ganz neue Ära. Denn Alexander II., dieser „Dekabrist auf dem Thron“, verwirklichte nicht nur den alten Traum der russischen Reformer von einer Bauernbefreiung, sondern erleichterte auch erheblich das Los der Juden im Reich. 1856 wurde das Gesetz über die jüdischen Kantonisten annulliert, die Juden erhielten das Recht an den damals errichteten Selbstverwaltungsorganen mitzuwirken. Sie durften sich auch als Rechtsanwälte und in bestimmten Fällen als Richter betätigen, schließlich erhielten jüdische Absolventen von Hochschulen oder Vertreter der kaufmännischen Elite das Recht, außerhalb des Siedlungsrayons zu wohnen.

Die überwältigende Mehrheit der Juden durfte allerdings den Siedlungsrayon auch in der Epoche der „Großen Reformen“ nicht verlassen, und diesen Sachverhalt bezeichnet der Autor, neben der Unterdrückung der Freiheitsbestrebungen der Polen, als das größte Defizit der Herrschaftsjahre  Alexanders II., der als „Zar-Befreier“ in die Geschichte Rußlands einging.

Daß dieser 1881 von den russischen Terroristen ermordete Zar nicht vermochte, mit Hilfe seiner Reformen die Radikalisierung der russischen Gesellschaft einzudämmen, betrachtet der Autor als Tragödie sowohl Rußlands als auch des russischen Judentums und widmet sich dann der Analyse der revolutionären Bewegung im Lande wie auch der jüdischen Beteiligung daran.

Seit Jahrzehnten versuchen Vertreter rechtsgerichteter bzw. nationalistischer russischer Kreise diese Tragödie zu entrussifizieren und sie auf das „heimtückische“ Wirken der sogenannten Rußlandhasser, in erster Linie der Juden zurückzuführen. Dabei lassen sie außer acht, daß die russische Revolution sich bereits seit dem Dekabristen-Aufstand von 1825 anbahnte, und zwar zunächst ohne jegliches Zutun der im Siedlungsrayon isoliert lebenden Juden. Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert, als die revolutionäre Bewegung Rußlands beinahe alle Schichten der Bevölkerung in ihren Sog gezogen hatte, begannen sich auch Juden in einem beachtlichen Ausmaß an ihr zu beteiligen. Dieses revolutionäre Engagement stellte eine Art Russifizierung der jüdischen Untertanen des Zarenreiches dar.

Die Beteiligung vieler Juden an der revolutionären Bewegung stellte für eine Reihe von Verteidigern der zarischen Autokratie einen willkommenen Anlaß dar, um die russische Revolution zu diskreditieren, sie als eine ausschließlich jüdische Angelegenheit zu präsentieren. Der Zorn der unzufriedenen Massen sollte vom unpopulären Regime auf die sogenannten Feinde Rußlands abgelenkt werden. Dieses Kalkül lag nach Ansicht des Autors auch manchen Judenpogromen, vor allem seit 1903, zugrunde. Besonders intensiv bemühte sich um eine solche Umlenkung des revolutionären Protestpotentials der damalige Innenminister Plehwe. Aleksandr Solženicyn weist derartige Thesen, die auch manche westliche Historiker vertreten, mit Empörung zurück. Die Pogrome waren seiner Meinung nach lediglich der Ausdruck eines spontanen Volkszorns. Viele Dokumente, auch diejenigen, die im vorliegenden Buch zitiert werden, sprechen indes eine andere Sprache.

Die Rechnung Plehwes und seiner Gesinnungsgenossen ging indes nicht auf. Die russische Revolution ließ sich nicht eindämmen. Sie erhielt eine Eigendynamik, die schließlich zu einer beispiellosen Tragödie führte – zur Errichtung des bolschewistischen Regimes, des ersten totalitären Regimes der Moderne.

Über die Rolle der Juden bei der Errichtung wie auch bei der Verteidigung dieses Regimes wird im Buch ausführlich gesprochen. Jüdische Tschekisten und Politkommissare, sowohl fiktive als auch historische Gestalten, treten im Roman oft auf. Besonders viel Aufmerksamkeit wird hier Lev Trockij gewidmet. Bei der Beschreibung dieser dämonischen Gestalt verläßt der Autor die Ebene der historischen Empirie und greift zu mystischen Stilelementen. Trockij wird zum Akteur eines makabren Mysteriums.

Man darf natürlich nicht vergessen, daß sich unzählige russische Juden aus politischen, religiösen oder wirtschaftlichen Gründen gegen den Bolschewismus auflehnten. Die differenzierte Analyse dieses antibolschewistischen Spektrums der russisch-jüdischen Öffentlichkeit stellt einen wichtigen Bestandteil des Romans dar.

Dessenungeachtet ist es verblüffend, wie viele Vertreter dieses leidgeprüften Volkes, das auf die historische Erfahrung von mehr als dreitausend Jahren zurückblicken konnte, durch das manichäische, zerstörerische Pathos der Bolschewiki verblenden ließen. Insoweit kann man dem Autor nicht beipflichten, wenn er meint, die überwältigende Mehrheit der Juden, die vom Handwerk und privaten Handel lebte, habe den Bolschewismus wegen dessen Wirtschaftspolitik vehement abgelehnt (S. 240). In Wirklichkeit sprachen sich viele Juden aus ideellen Gründen für den Bolschewismus aus, auch dann, als er die materiellen Grundlagen ihrer Existenz zerstörte. Diese irrationale Handlungsweise war aber auch für unzählige Russen, Letten, Georgier, Tschechen, Chinesen, Vietnamesen und Vertreter anderer Nationen charakteristisch.

Das letzte Kapitel des jüdisch-russischen Verhältnisses, das im Buch beschrieben wird, beginnt mit der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948. Der Ich-Erzähler, der als Kind in den 50er Jahren aus der Sowjetunion über Polen nach Israel auswandert, verliert niemals das Interesse für sein Geburtsland und ist als Rußlandexperte in den israelischen Medien tätig. Er erforscht das komplizierte israelisch-sowjetische Verhältnis seit der Gründung des jüdischen Staates und verfolgt aufmerksam die Wiederentdeckung der jüdischen Wurzeln bei den völlig assimilierten sowjetischen Juden, die nicht zuletzt durch ihr Interesse für den ums Überleben kämpfenden jüdischen Staat hervorgerufen wird. Diese Entwicklung führt letztendlich zur Entstehung der jüdischen Dissidentenbewegung, die das Recht auf die Auswanderung nach Israel ins Zentrum ihres Kampfes stellt.

Wie reagiert das politische Establishment des Judenstaates auf diese Entwicklung? Diesem Thema sind sehr anregende Passagen des Buches gewidmet. Der Autor zeigt, daß die Meinungen hier durchaus geteilt waren. Einige gerieten wegen einer Aussicht auf die Masseneinwanderung der sowjetischen Juden in eine wahre Euphorie. Sie meinten, die Eingliederung dieser gutausgebildeten Neubürger werde viele demographische Probleme Israels lösen und den Staat außerordentlich stärken. Andere waren durchaus skeptisch. Die sowjetischen Juden hätten, wenn man von einer kleinen Minderheit absehe, so gut wie keine Beziehung zum Judentum. Der Pioniergeist, der den Erbauern Israels eigen gewesen war, fehle ihnen gänzlich. Sie seien materialistisch und nicht idealistisch gesinnt.

Diese Diskussion verlor Ende der achtziger Jahre, nach dem Beginn der Gorbačevschen Perestrojka, ihren theoretischen Charakter. Nun mußte der winzige Judenstaat in der Tat etwa eine Million Einwanderer aus der sich auflösenden Sowjetunion aufnehmen, was seinen Charakter nicht unwesentlich veränderte.

Während Hunderttausende Juden Rußland den Rücken kehrten, kann sich der Ich-Erzähler nicht von seinem Geburtsland lösen. Er pendelt zwischen Rußland und Israel und vermißt in Moskau Jerusalem und in Jerusalem Moskau. Er bleibt ein Wanderer zwischen zwei Welten.

Der Epilog des Romans findet im Jenseits statt. Ähnlich wie im Kapitel über Trockij verläßt der Roman die empirische Ebene und wird zum Mysterium. Der Ich-Erzähler hofft, daß er nun endlich vom Schöpfer die Antwort auf die Frage nach den Ursachen für den etwa dreitausendjährigen Leidensweg des „erwählten“ Volkes bekommen wird. Die Antwort, die er erhält, ist aber derart unbefriedigend, daß er jede Hoffnung verliert, irgendwann den Sinn des geschichtlichen „Sonderweges“ des Judentums zu begreifen. Lediglich der Titel des Romans wird infolge dieses Dialogs im Jenseits klar. Denn der Leidensweg der Juden begann in Ägypten, als sie „Hirten des Pharao“ waren.

(Leonid Luks)