Buchbesprechung von L. Luks

V. Buchbesprechungen

Georg Wurzer: Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Rußland im Ersten Weltkrieg, Göttingen: V&R unipress, 2005, 626 Seiten

Der Verfasser hat seine Dissertation im Jahre 2001 zuerst im Internet veröffentlicht. Nun legt er sie in Buchform vor. Begonnen hatte er mit einer Auswertung der Publikationen deutscher Kriegsgefangener, die ihre Erfahrungen im kriegführenden Zarenreich als Erlebnisbericht oder belletristisch etwa als Gefangenschaftsroman verarbeitet haben. Das frühere Anliegen, die Nähe dieser Gattungen zur historischen Realität vergleichend zu überprüfen, ist auch hier treibende Kraft. Dazu hat Wurzer umfängliche Recherchen in russischen, deutschen und österreichischen Archiven angestellt. Außer zwei zentralen Moskauer Archiven, dem Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) und dem Russischen Militärgeschichtlichen Staatsarchiv (RGVIA) sind vor allem vier sibirische Archive hervorzuheben, die bisher wenig von westlichen Forschern genutzt wurden: die Gebietsarchive von Krasnojarsk (GAKK), Novosibirsk (GANO), Omsk (GAOO) und Tomsk (GATO). An Wurzers Pionierarbeit überrascht daher auch nicht, daß im Brennpunkt die Gefangenen der großen Dauerlager Sibiriens stehen. Nach Einführung einer diskriminierenden Nationalitätenselektion gegen­über Gefangenen der deutschen und österreichischen Armee im Winter 1914/15 befanden sich dort und im zentralasiatischen Militärbezirk Turkestan vor allem die nicht privilegierten, „Rußland feindlich gesonnenen“ Gefangenen, ethnische Deutsche, Magyaren, Türken und Juden, außerdem das Gros der insgesamt etwa 56.000 Offiziere. Slawen, Rumänen und Italiener wurden hingegen überwiegend im europäischen Rußland belassen. Rund 90% der 2,4 Millionen Gefangenen in Rußland gehörten dabei der Vielvölkerarmee des Habsburgerreiches an.

Der Autor zeichnet ihren Weg nach: von der Gefangennahme über die Evakuierung ins Hinterland und die Lager, schließlich die Heimkehr nach dem Krieg. Den äußeren und inneren Bedingungen der Lagerwelt bis in die Zeit nach der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg gilt sein Augenmerk. Fragen der Behandlung und Versorgung der Gefangenen, ihren hygienisch-sanitären Verhältnissen, Krankheiten und Epidemien sowie Eigenarten des Lagerlebens geht er mit Akribie nach. Es folgen Befindlichkeiten, die innere Organisation, die psychische Bewältigung der Stacheldrahtkrankheit, verschiedene Aktivitäten einschließlich des Sexuallebens bzw. dessen Abwesenheit oder Umlenkung auf homoerotische Verhaltensweisen. Ein kürzeres Kapitel ist dem Arbeitseinsatz der Gefangenen gewidmet, den Wurzer hauptsächlich im europäischen Rußland beschreibt, da er offenbar über wenig russisches Quellenmaterial für Sibirien verfügt. Seit Frühjahr 1916, als die Gefangenenarbeit auf breiter Front einsetzte, wurden die meisten Gefangenen ins europäische Rußland zurückgebracht, wo sich die Produktionsstätten der Kriegswirtschaft befanden: in der Landwirtschaft des Schwarzerdegürtels, der Montanindustrie der Ukraine und an einigen kriegswichtigen Großbaustellen wie der Murmanbahn. Daß gut 60% aller arbeitenden Gefangenen in der Landwirtschaft beschäftigt waren, ist dabei eine typische Analogie zu allen großen Gewahrsamsmächten von Kriegsgefangenen.

Die Tätigkeit verschiedener Hilfsorganisationen für die Gefangenen bildet ein weiteres Thema, einschließlich der sogenannten Schwesternreisen, die es in den drei verfeindeten Kaiserreichen seit 1915 gegeben hat und die eine einmalige völkerrechtliche Besonderheit darstellen, da Rotkreuzschwestern der jeweiligen Feindstaaten die Gefangenenlager des Gegners besuchen durften und so eine Reihe wichtiger Verbesserungen erreichten. Der Schlußteil widmet sich der Lage nach der Oktoberrevolution, wo in der gleichen Weise das Lagerleben und endlich die Heimkehr untersucht werden. In den umfänglichen Anhang hat der Autor gesetzt: die zarische Kriegsgefangenenordnung vom Oktober 1914 in Russisch und deutscher Übersetzung (Položenie o voennoplennych, S. 539–564), Speisepläne, Statistiken zu Krankheiten und anderen Vorkommnissen, Lehrpläne der Lagerkurse, zum Arbeitseinsatz und zur Gesamtzahl der Gefangenen, zu Fluchtversuchen, außerdem russisch-deutsch-österreichische Vereinbarungen über die beiderseitigen Gefangenen seit dem Frieden von Brest-Litovsk.

Wurzer verfolgt in seiner Alltags- und Mentalitätengeschichte der Lager einen psychologischen Ansatz. Die Erkenntnisse zur vielschichtigen Lagerwelt können als größter Vorzug seiner Untersuchung gelten, da bisher keine der seit einigen Jahren vorliegenden Studien zu Kriegsgefangenen in Rußland und bei den Mittelmächten so ausgreifend auf diesen Komplex eingeht. Das scheint um so wichtiger, als bereits früher schon die Frage nach einer Kontinuität des zarischen Massenlagers für Kriegsgefangene zu den Konzentrations- und Vernichtungslagern der beiden totalitären Regime gestellt worden ist. Historischer Vergleichsanlaß hierzu ist der Umstand, daß annähernd 20% oder über 400.000 aller Kriegsgefangenen im russischen Gewahrsam zwischen 1914 und 1918/20 umgekommen sind, eine der höchsten Sterberaten von allen Gewahrsamsmächten des Ersten Weltkriegs. Der größere Teil starb an Epidemien bzw. an Infektionen des physisch geschwächten Körpers infolge Hungers, und zwar vor allem während der beiden ersten Kriegswinter und in den Lagern Russisch-Asiens, zu einer Zeit, als der Zarenstaat noch keine Versorgungsengpässe bei Lebensmitteln hatte. Der Grund dafür liegt auch für Wurzer in einem staatlichen Kontrolldefizit gegenüber der unteren ausführenden Ebene und an überforderten Organisationsstrukturen. Der Rezensent hat früher bereits zur Veranschaulichung des Sachverhalts, aber auch, um einen möglichen Kontinuitätsstrang aufzuzeigen, die von Aleksandr Solženicyn in seinem Ein Tag im Leben von Iwan Denissowitsch dargelegte Unterschlagung von Lebensmitteln durch Lagervorgesetzte angeführt (Nachtigal, R.: Kriegsgefangenschaft an der Ostfront 1914 bis 1918. Literaturbericht zu einem neuen Forschungsfeld. Frankfurt/Main 2005, S. 47ff.).

Wurzer enthält sich demgegenüber weitergehender Schlüsse. Dem gehäuften Auftreten von Typhusepidemien in Gefangenenlagern wie Novo-Nikolaevsk (heute Novosibirsk), Krasnojarsk, Sretensk und andernorts mit massenhaften Toten hält er entgegen, daß man darin kein typisches Merkmal erkennen könne (S. 117–119: Epidemien waren keine allgemeine Erscheinung in sibirischen Lagern, so auch S. 534 im Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg) und daß die russische Gefangenenverwaltung nach Erkennen von Mängeln und Mißständen sich stets um Änderung bemüht habe. Hier kommen wir zu einer Schwachstelle der Studie, die sowohl im Text als auch im Anhang fast das gesamte russische Regelwerk zu sämtlichen Gefangenenfragen der Kriegszeit enthält. Die genannte Gefangenenordnung von 1914, so Wurzers richtige Feststellung, stand nicht nur mit der für zwischenstaatliche Konflikte zuständigen Haager Landkriegsordnung von 1907 im Einklang, sondern ging in Detailbestimmungen in humanitärem Sinne sogar noch darüber hinaus, wenn auch manche Vorschriften wiederum im Gegensatz zur Haager Ordnung standen. Dann allerdings ohne direkt lebensbedrohliche Folgen für die Gefangenen. Doch warum, fragt sich der Leser, kam es dann zu Katastrophen wie den Epidemien und anderen Mißständen, für die die Gefangenschaft in Zarenrußland berüchtigt wurde? Ist das Bild der überschäumenden Phantasie schriftstellernder Heimkehrer zu verdanken, die jahrelang unfrei in primitivsten Verhältnissen leben mußten, während der maschinelle Massentod an der Westfront auch für die heutige Forschung als interessanteres Objekt gilt? „Kompensierten“ die Rußland-Heimkehrer ihr Überleben in russischer Gefangenschaft post festum mit Greuelgeschichten aus einem Land, das 1918 in einen grausamen Bürgerkrieg versank und auf Jahre aus der Normalität europäischer Staaten ausschied?

Worauf läßt sich eine solch hohe Sterberate in den russischen Gefangenenlagern zurückführen? Sicherlich auf die zeitweise große Kluft zwischen Befehl und Ausführung auf unterer Ebene. Eine immense Überforderung der Strukturen von Staat und Armee auch im Hinterland schon in der Frühphase des Krieges ist die sachlichste Beschreibung des Verhängnisses, nicht der Wille des Gewahrsamsstaats oder Einzelner, wehrlose Schützlinge zu vernichten. (Vgl. dazu Nachtigal, R.: Rußland und seine österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen 1914 bis 1918. Remshalden 2003). Die Mißstände änderten sich 1916 zum Besseren, weil der nun beginnende allgemeine Arbeitseinsatz die Massenlager leerte und durch ständige Inspektionen durch Feindstaaten-Schwestern und neutrale Delegierte eine Kon­trolle von außen und Fürsorge der Heimatstaaten über die Front hinweg einsetzte. Während des Bürgerkriegs, als die Versorgung weitgehend zusammenbrach, brachen neuerdings Epidemien unter den Kriegsgefangenen aus, die aber keine so hohe Mortalität mehr nach sich zogen wie in den Jahren 1914 bis 1916.

Daß Wurzers Bild eines eigentlich fesselnden Kapitels der Weltkriegsgeschichte so uneindeutig bleibt, liegt auch an seiner Vorgehensweise: Zunächst werden die Aussagen der Erlebnisberichte, die ja keineswegs immer einhellig urteilen, paraphrasierend vorgestellt. Dann werden russische amtliche Quellen zitiert, die für Einzelfälle wie die versehentliche Mißhandlung eines gefangenen Generals oder zu einer vermuteten Fluchthilfeorganisation für Gefangene bemerkenswert detailliert sind. Schließlich wird „saldiert“. Meist wenig originell oder nach eigenständigen Erklärungen suchend, findet der Autor in der Regel zu einer „ausgewogenen“ Interpretation, bis der Leser nach der dreihundertsten Seite nichts mehr Aufregendes erwartet. Das ist schade, denn das Thema ist spannend und, wie gesagt, für die Totalitarismus- wie für die psychologische Kriegsforschung wichtig.

Für die Erforschung der sibirischen Lager, und zwar auch für den stalinistischen GULag, ist seine Geschichte der Massenlager aber ein Meilenstein. Galt bislang das Kriegsgefangenenlager in Russisch-Asien als eine der schlimmsten Erscheinungen, so belegt er anschaulich, daß es mit einer – russischerseits oftmals zugelassenen – Selbstorganisation bzw. -ver­waltung durch gefangene Offiziere und Militärärzte im Ersten Weltkrieg viel von seinem Schrecken verlor. Dort entstanden Lagertheater und -kirchen, Chöre, Sportveranstaltungen, schließlich eine Lagerindustrie. Wenn auch solch ideale Bedingungen nicht überall herrschten, so hat Wurzer diesen Mikrokosmos überzeugend durchforscht, der von zwei Lebenswelten bestimmt war: der der Offiziere und der Mannschaften. Die Behandlung unterschied sich kraß, denn die letzteren konnten kein Beschwerderecht nutzen und wurden oft mißhandelt. Die große Kluft zwischen beiden findet Wurzer merkwürdig, sie war bei den Angehörigen der österreichischen Armee stärker ausgeprägt als bei den Deutschen. Um die bedürftigen Mannschaften kümmerten sich die gefangenen deutschen Offiziere mehr als die österreichischen Standesgenossen. Solcherart sind die feinsten Stücke aus einem riesigen Steinbruch, in dem sich die Forschung fortan bedienen kann, die ein weites Feld verwandter Themen bearbeitet.

(Reinhard Nachtigal)


Roger Griffin, Werner Loh and Andreas Umland (Eds.): Fascism Past and Present, West and East. An International Debate on Concepts and Cases in the Comparative Study of the Extreme Right. With an afterword by Walter Laqueur, Stuttgart, ibidem-Verlag 2006, 510 S,

Seit dem Aufstieg des italienischen Faschismus vor mehr als 85 Jahren bemühen sich sowohl politische Publizisten unterschiedlichster Couleur als auch Vertreter verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen um eine Ein­ordnung dieses Phänomens. Die Zahl der Faschismus-Interpretationen, die sich nicht selten gegenseitig widersprechen, ist unüberschaubar.

Diese Widersprüche und Dissonanzen sind durchaus verständlich, denn es handelte sich beim Faschismus um einen Newcomer auf der politischen Bühne, der im Gegensatz zu solchen politischen Strömungen wie Konservatismus, Liberalismus oder Marxismus, keine direkten Vorläufer in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg besaß. Zwar wurde der Faschismus durch einige politische Denker und Gruppierungen der Vorkriegszeit inspiriert, als Bewegung kristallisierte er sich aber erst nach der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (Kennan) heraus. In seiner Ideologie und Strategie sowie in seinen Organisationsstrukturen lehnte er sich sowohl an rechte als auch an linke Überlieferungen an und sprengte das bis dahin gewohnte Rechts-Links-Schema, was seine Einordnung bis heute außerordentlich erschwert. Dies führte zu permanenten Fehleinschätzungen, zu denen die Gegner, aber auch die Verbündeten der Faschisten neigten. Nicht zuletzt diesen Fehleinschätzungen verdankte der Faschismus seine atemberaubenden politischen Triumphe, die letztendlich zur Zerstörung der überlieferten europäischen Ordnung und zum Holocaust führten.

Läßt sich eine Verbindungslinie zwischen Benito Mussolinis Marsch auf Rom und dem Judenmord des NS-Regimes herstellen? Gehören der italienische Faschismus und der Nationalsozialismus der gleichen politischen Kategorie an? Diese Frage steht im Zentrum des vorliegenden Bandes, der Beiträge von 31 Autoren zur Faschismus-Problematik beinhaltet. Alle Beiträge wurden ursprünglich in der Zeitschrift „Erwägen Wissen Ethik“ im Rahmen eines Disputs veröffentlicht, den der britische Faschismusforscher Roger Griffin mit seinem Artikel „Fascism’s new faces (and new facelessness) in the ‚post-fascist‘ epoch“ auslöste.

Griffin setzt sich scharf mit manchen deutschen Autoren auseinander, die den Nationalsozialismus als ein einzigartiges Phänomen betrachten, das sich qualitativ von allen anderen Formen des Rechtsextremismus unterscheide. Diese auf Hitler fixierte Sicht erschwere den deutschen Forschern eine vergleichende Faschismusanalyse. Griffin zweifelt nicht daran, daß der Nationalsozialismus ungeachtet seines Rassenwahns und seiner apokalyptischen Verbrechen, die im faschistischen Italien nicht vorkamen, eine Variante des Faschismus darstellt.

Griffins Faschismus-Definition, die er bereits 1991 in seinem Buch The Nature of Fascism aufstellte, lautet: „Fascism is a political ideology whose mythic core in its various permutations is a palingenetic form of populist ultra-nationalism“. All diese Kriterien lassen sich aus der Sicht Griffins auch auf den Nationalsozialismus anwenden. Der nationalsozialistische Rassengedanke stelle eine extreme Form des Nationalismus dar. Zum Kern des nationalsozialistischen Selbstverständnisses gehöre die Idee der nationalen Wiedergeburt (Palingenese).

Abgesehen von der „Hitlercentric“ der deutschen Autoren kritisiert Griffin auch andere Postulate der Faschismusforschung als solcher, so die These, daß es sich beim Faschismus um eine Erscheinung handele, die untrennbar mit den beiden Weltkriegen verbunden sei, und daß die „Epoche des Faschismus“ 1945 zu Ende gegangen sei. Er warnt vor der Überbewertung der Zäsur von 1945. Nach dem Zusammenbruch der faschistischen Regime sei die extreme Rechte zwar zu einer Flexibilisierung ihrer Strategie gezwungen gewesen, ihr eigentliches Ziel – die „Wiedergeburt“ der jeweiligen Nation mit Hilfe einer extrem nationalistischen Mythologie – habe sie aber keineswegs aufgegeben. Die vorherrschende Form der rechtsextremen Szene nach 1945 seien nicht mehr politische Parteien, sondern kleine, zersplitterte Grüppchen, die ohne eine gemeinsame Führung und ein allgemein anerkanntes Zentrum agierten: „This ‚groupuscular right‘ has the characteristics of a political and ideological subculture rather than a conventional political party movement, and is perfectly adapted to the task of perpetuating revolutionary extremism in an age of relative political stability“ (S. 55).

Nicht selten verlasse die neue Rechte die politische Bühne und versuche in erster Linie den kulturellen Diskurs der jeweiligen Gesellschaft mit Hilfe ihrer eigenen Begrifflichkeit zu beeinflussen. Dabei lehne sie sich an die „Hegemonialstrategie“ Antonio Gramscis an und praktiziere einen „right-wing Gramscism“ (S. 51).

Die Thesen Griffins stießen sowohl auf Zustimmung als auch auf heftige Kritik, wobei die Kritik sich in erster Linie gegen die Faschismusdefinition Griffins richtete, die aus der Sicht mancher Autoren unpräzise ist. So führten Klaus Holz (Villigst) und Jan Weyand (Erlangen-Nürnberg) aus, daß die Vorstellung von einer nationalen Widergeburt jedem Nationalismus, auch dem „nicht-faschistischen“, eigen sei. Auch konservative Nationalisten, z.B. Heinrich von Treitschke, hätten in ähnlichen Kategorien gedacht (S. 125).

Bärbel Meurer (Osnabrück) fügt hinzu, daß auch manche konservativ gesinnte Widerstandskreise im Dritten Reich von einer Erneuerung der Nation träumten. Wenn die Kategorie der „‚nationalen Wiedergeburt‘ zum Kern eines Faschismusbegriffs [erklärt wird, so würde dies bedeuten] Hitler und einen bedeutenden Teil des Widerstandes gleichzusetzen und die Grenzen zwischen Tätern und Opfern zu verwischen“ (S. 153).

Auch Griffins Kontinuitätsthese, seine Warnung vor der Überbewertung der Zäsur von 1945 in der Entwicklung des Faschismus, wird scharf kritisiert. Mehrere Autoren weisen darauf hin, daß der geschickte Umgang mit den Massen zu den wichtigsten Merkmalen des Faschismus in der Zwischenkriegszeit gehörte. Dieser Zugang zu den breiten Bevölkerungsschichten blieb der neuen Rechten nach 1945 aber versperrt: „[Sie] hatte sich [...] mit dem Faktum des Holocaust und der unendlichen Verbrechen der Kriegsjahre auseinanderzusetzen, was ihre Popularität und ihren Massenzuzug deutlich begrenzt. Von daher fehlt ihr der charismatische Grundzug und die aufwühlende Glaubenskraft, die der historische Faschismus noch entfachen konnte“ (S. 199), so Sven Reichardt (Konstanz).

Ähnlich argumentiert auch Kevin Passmore (Cardiff): „In the postwar period there is no crisis of liberalism, no lack of faith in the future, and no general economic crisis. Fascism cannot become a mass movement“ (S. 171–172).

Und Karin Priester (Münster) fügt hinzu: „Was [...] bleibt vom Faschismus, wenn das Führerprinzip, der Militarismus, der Imperialismus, die repressiven diktatorischen Strukturen [...] ausgeklammert werden?“ (S. 195).

All diese Einwände, die das Kontinuitätsmodell Griffins in Frage stellen, sind sicherlich nicht unberechtigt. Ähnlich übrigens wie die Argumente derjenigen Autoren, die ihm vorwerfen, er unterschätze die Einzigartigkeit des Nationalsozialismus und die Kluft, die ihn vom italienischen Faschismus trenne. Und in der Tat, der millionenfache Mord des NS-Regimes stellt in der Geschichte des Faschismus ein Sonderkapitel dar. Er zeigt, daß die NSDAP eine faschistische Partei „neuen Typs“ entwickelte, die sich von ihrem italienischen Vorgänger grundlegend unterschied. Indes blieb ungeachtet all dieser Unterschiede eine enge Verwandtschaft zwischen diesen beiden Gruppierungen bestehen. Nicht zuletzt deshalb waren sie bis zum bitteren Ende eine Schicksalsgemeinschaft, wenn auch mit einer Umkehr der Rollenverteilung, als Mussolini sich aus einem Ziehvater Hitlers in dessen Marionette verwandelte. Insofern kann man der These Griffins bei­pflichten, daß der Nationalsozialismus durchaus eine Variante des Faschismus darstellt. Wie verhält es sich nun mit der neuen Rechten nach 1945? Was verbindet sie mit dem Faschismus der Zwischenkriegszeit? Auf den ersten Blick so gut wie gar nichts – bis auf die Ideologie. „Nur“ im ideologischen Bereich läßt sich eine Kontinuität feststellen. Dies ist aber nicht wenig. Denn die Eigenart des Faschismus ist in erster Linie ideologisch bedingt. Er verkörpert die Auflehnung gegen die Aufklärung, die pluralistische Gesellschaft, emanzipatorische Prozesse unterschiedlichster Art und die Idee der Menschenrechte. Darüber hinaus neigen faschistische bzw. rechtsextreme Gruppierungen zu esoterischen Verschwörungstheorien und Erlösungsphantasien und träumen von einem „letzten Gefecht“ gegen den von ihnen dämonisierten, angeblich die Welt beherrschenden Feind – Freimaurer, Juden, „Plutokraten“, die USA usw. Diese ideologischen Gemeinsamkeiten verbinden die neue Rechte im Westen, die „Neo-Eurasier“ um Aleksandr Dugin (siehe dazu die Polemik zwischen Andreas Umland und A. James Gregor in diesem Band) mit dem Faschismus der Jahre 1919–1945. Ideologische Gemeinsamkeiten zwischen derart unterschiedlichen faschistischen bzw. rechtsextremen Gruppierungen verblüffen, wenn man bedenkt, daß sie, im Gegensatz zu der ansonsten innerlich höchst zerstrittenen kommunistischen Bewegung (Stalinisten, Trotzkisten, Maoisten, antistalinistische „Revisionisten“ usw.), über keine unantastbaren ideologischen Autoritäten wie Marx, Engels und Lenin verfügen. So stellt die Ideologie die wichtigste einigende Klammer der rechtsextremen Gruppierungen dar, die epochenübergreifend und grenzüberschreitend ist. Dies verleiht dem Faschismusbegriff Griffins, der sich in erster Linie auf ideologische Merkmale konzentriert, im Gegensatz zur Meinung vieler Kritiker, einen besonderen Erkenntniswert.

(Leonid Luks)