Buchbesprechungen von L. Luks

V. Buchbesprechungen

Erwin Oberländer und Volker Keller (hrsg.),  „Kurland – Vom polnisch-litauischen Lehensherzogtum zur russischen Provinz Dokumente zur Verfassungsgeschichte 1561 – 1795“ 331 S., 1 Landkarte, ISBN 9783506 765369, Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn 2008, € 48,-

    

Gelegentlich hört man auch heute noch die etwas spöttisch-mißgünstige Mär von „der lediglich ephemeren historischen Existenz“ eines „Herzogtums Kurland und Semgallen“. In der Tat sagt dieser Name heute kaum noch jemandem etwas, obwohl das Herzogtum zwar kulturell deutsch-lutherisch geprägt war, aber dennoch nicht dem Deutschen, sondern dem Polnisch-Litauischen Reichsverband zugehörte. Auch darf festgehalten werden, daß es sich um ein politisches Gebilde von etwa der Größe des heutigen Königreichs Belgien handelte, das, zwischen der Ostsee, dem Dünastrom und der Nordgrenze Litauens gelegen, zweieinhalb Jahrhunderte lang – also länger, als etwa das Königreich Preußen – immer wieder im Zentrum internationaler Auseinandersetzungen stand.

Die beiden Herausgeber sind Männer, die dieser Mär nicht nur widersprechen, sondern bereits sehr deutlich belegt haben, daß die 234 Lebensjahre des Herzogtums Interesse beanspruchen können. Hatten sie sich bereits in den letzten Jahrzehnten als Verfasser verschiedener, gleichermaßen aber recht beachteter Arbeiten zur Geschichte des Herzogtums einer breiteren Leserschaft empfohlen, so legen sie hier noch eine Dokumentation zu dessen Verfassungsgeschichte vor, auf die künftig kein baltischer Historiker mehr verzichten können wird.

Hier nämlich findet er dreiundzwanzig der wichtigsten, manchmal viele Seiten langen, grundlegenden Gesetzes- und Vertragstexte vereinigt, die er bei Bedarf bisher in den seltenen – aber durchweg bekannten – alten Drucken, etwa von Dogiel, Hupel, Birkel, Rummel, Buddenbrock oder Ziegenhorn (dessen Werk zudem allein schon vom Format her – auch im Nachdruck von 1973 – denkbar unhandlich ist) hatte mühsam suchen müssen. Einige waren bislang nicht gedruckt worden und nur als Originale direkt im Archiv einsehbar. Letzteres gilt etwa für Texte, die erst nach 1772, dem Erscheinungsjahr von Christoph George v. Ziegenhorns „Staats Recht der Herzogthümer Curland und Semgallen“ (Königsberg 1772), entstanden sind und dort keine Aufnahme mehr hatten finden können.

Freude an dieser gelungenen Zusammenstellung werden nicht nur Verfassungsrechtler und andere Juristen verspüren, sondern alle, die Interesse am Alltagsleben im „alten Kurland“ haben, greifen die hier vorgestellten Bestimmungen, Regelungen und Gesetze doch in verschiedenste Aspekte davon ein. Gerade die längeren Texte eröffnen oft tiefe Einblicke, da sie nicht nur verschiedenste tagtägliche Probleme der Altvorderen konkret werden lassen, sondern weil an der vielfach recht ungelenken und umschweifigen Formulierung dieser Probleme auch deutlich wird, auf welchen mühevollen Wegen hier um gangbare Lösungen gerungen wurde.

Der allgemeinhistorischen Einbettung der vorgestellten Dokumente dienen die knappen (zusammen nur 44 Seiten) Einführungskapitel der beiden Herausgeber, in denen Volker Keller das 16. und 17. Jahrhundert und Erwin Oberländer das 18. behandelt. Sie sind trotz ihrer Kürze nicht nur in jedweder Beziehung vollkommen ausreichend, sondern streckenweise – allein schon angesichts der dabei zu durchleuchtenden, verwirrenden internationalen Verwicklungen – meisterlich zu nennen. Die falsche Zeitangabe der jahrelangen Auslandsreise Herzog Peters ist ganz offensichtlich nur ein Schreib- bzw. Druckfehler.

 Ein Grund, weshalb diese wenigen Texte viel Platz beanspruchen, ist die Tatsache, daß sie in den meisten Fällen zweisprachig – lateinisch und deutsch – ausgefertigt wurden und daher hier auch beide Versionen abgedruckt sind. Dies erfolgte aus gutem Grund: Latein war bis weit ins 18. Jahrhundert hinein die dominierende, und – nicht zuletzt dank ihrer transparenten Eindeutigkeit – konkurrenzlose gesamteuropäische Juristensprache, während die deutschen Versionen dieser Rechtstexte jeweils nur an mindergebildete Betroffene zu verstehen sind, weshalb in Streitfällen auch stets die lateinische Version Geltung beanspruchen durfte. In ihr finden sich auch die – sparsam eingestreuten – erläuternden Fußnoten.

Ein weiterer Grund sind schließlich die – in den alten Drucken normalerweise fehlenden und daher lediglich den Originalen selbst zu entnehmenden – langen Zeugenlisten mancher Urkunden, die für Genealogen mancherlei Interessantes bergen dürften. Diese vor allem hätten sich allerdings bestimmt auch über den Abdruck weiterer Dokumente erfreut: Nämlich der (ansonsten nur bei Rummel gedruckten) “Manifestation und Protestation“, die von 84 „Carolinern“, d.h. Anhängern des mittels russischer Waffengewalt vertriebenen Herzogs Carl, dem Kurprinzen v. Sachsen (Herzog von Kurland von 1758 bis 1763), 1764 in Warschau niedergelegt wurde. Weshalb sollen immer nur Aktionen der victrix causa belegt werden?

Auch der im Lettischen Staatsarchiv in Riga ruhende Bericht des Oberburggrafen (der zweithöchste der 4 herzoglichen Oberräte) Otto Hermann v. der Howen-Neu-Berghof (1740 – 1806) an Kaiserin Katharina d.Gr. von Rußland, worin er alle in seine Intrigen wider Herzog Peter (reg. 1769 – 1795, + 1800) verwickelten Kurländer namentlich – wohl, um sie der kaiserlichen Huld und Dankbarkeit möglichst nachdrücklich zu empfehlen – auflistet, wäre (nicht zuletzt ebenfalls unter genealogischem Aspekt) willkommen gewesen, wurde aber leider erst – wenn auch nur um wenige Tage – jenseits der zeitlichen Begrenzung dieses Buches niedergeschrieben.

Lediglich der Vollständigkeit halber sei hier noch ergänzt, daß Kurland auch nach dem mit der dritten Teilung Polens (1795) erfolgten Ende seiner Selbständigkeit bis 1888 als autonomes Glied im Rahmen des russischen Reichsverbandes verblieb und einen Teil der ihm damals genommenen Prärogative im Jahre 1906 wiedererlangen konnte. Mit Gründung der „Republik Latvija“ erlosch all das endgültig.

Den Schluß des Buches bildet – neben Personen-, Sach- und Ortsindizes – eine Bibliographie. Da dieselbe „Auswahlbibliographie“ genannt wird, wäre es für die Leserschaft interessant zu erfahren, anhand welcher Kriterien die „Auswahl“ getroffen wurde.

Gotthard Frhr. v. Manteuffel-Szoege

Top

Literatur nach Auschwitz und Gulag oder: Das „versäumte“ 20. Jahrhundert

In Moskau erschienen im vergangenen Jahr zwei Bücher der in München lebenden russischen Schriftsteller Boris Chazanov und Ėjtan Finkel´štejn. Beide Bücher befassen sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit dem russischen 20. Jahrhundert, das dem Lande so viele Katastrophen bescherte wie kein anderes Jahrhundert zuvor. In Anlehnung an Helmuth Plessner, der in bezug auf Deutschland von einem „versäumten“ 17. Jahrhundert sprach, läßt sich diese Charakterisierung im Falle Rußlands auf das 20. Jahrhundert beziehen. Beide Länder verloren vorübergehend den Anschluß an die Moderne und wurden zu „verspäteten Nationen“.

Wie sich diese Verspätung in Rußlands darstellt, wird in den vorliegenden Romanen beschrieben.

Boris Chazanov: Včerašnjaja večnost´. Fragmenty XX stoletija [Die gestrige Ewigkeit. Fragmente des 20. Jahrhunderts], Vagrius plus, Moskau 2008, 367 S.

Der Roman trägt im wesentlichen autobiographische Züge. Der Hauptheld – als „Schriftsteller“ bezeichnet – verbringt, ähnlich wie Boris Chazanov, seine Kindheit im stalinistischen Moskau der 30er Jahre, studiert nach dem Krieg an der Moskauer Universität, äußert im engen Freundeskreis seine Verwunderung über die Ähnlichkeiten zwischen dem stalinistischen und dem nationalsozialistischen Regime, wird denunziert und gerät für mehrere Jahre in den Gulag – ein Schicksal, das auch für unzählige Landsleute des Verfassers typisch war. Untypisch hingegen ist die Reaktion des Haupthelden auf diese Schicksalsschläge. Seine partielle Rehabilitierung nach dem Tode Stalins, die ihn zwar aus dem Lager befreit, eine Rückkehr nach Moskau aber nicht gestattet, führt nicht dazu, daß er sich mit dem nun menschlicher gewordenen Regime arrangiert und das Vergangene vergißt. Im Gegenteil. Die Vergangenheit prägt seine Sicht der Gegenwart, überall entdeckt er ihre Spuren. Nicht zuletzt deshalb ist er nicht bereit, auf Kompromisse mit der ihn umgebenden Realität einzugehen. Er schreibt einen Roman im Roman, in dem er das Wesen des Staates entlarven will, in dem er lebt. Er weiß, daß er auch im nachstalinschen Rußland keine Chance hat, ihn zu veröffentlichen. Obwohl er über einen ausgesprochenen schriftstellerischen Ehrgeiz verfügt, hat er nicht den Ehrgeiz, ein sowjetischer Schriftsteller zu werden: „Wir leben in einer Epoche, in welcher der Begriff sowjetischer Schriftsteller zum [Synonym] für Prostitution geworden ist“ (S.199).

Der „Schriftsteller“ im Roman will nicht das verordnete, sondern das ungeschminkte Bild der sowjetischen Realität zeichnen, z.B. solche Charakteristika wie Zwang und Reglementierung: „Alles was nicht erlaubt ist, ist verboten. Jedes eigenständige Handeln stellt ein kriminelles Delikt dar“ (S.208).

Diese Kriminalisierung jeglichen eigenständigen Handelns beantwortet, zumindest partiell, die eingangs gestellte Frage, nach den Gründen für das „versäumte“ 20. Jahrhundert. Im Zeitalter der grenzüberschreitenden Kommunikation mußte das durch den Würgegriff der herrschenden Bürokratie geknebelte Land der Sowjets zwangsläufig den Anschluß an die Moderne verlieren. Anschaulich beschreibt der Autor die Erstarrung des Landes an zwei Beispielen – am sowjetischen Paßwesen und am Lagersystem.

Die sowjetische Bürokratie hatte eine Geheimsprache entwickelt, die sich nicht zuletzt in den Einträgen in den Sowjetpässen spiegelte, so der Autor. Wie ließen sich diese Einträge entziffern? Was war dem jeweiligen Paßinhaber gestattet und was nicht? Auf welche Gesetze beziehen sich diese Einträge? All diese Fragen blieben unbeantwortet, denn „nicht alle Gesetze dürfen an die Öffentlichkeit gelangen“ (S.189). So entstand die kafkaeske Situation, daß Gesetze, die per definitionem jedem zugänglich sein mußten, nur von Eingeweihten eingesehen werden konnten. Der Rest wurde zum Spielball der Willkür der Behörden. Daher, so der Autor, hatte das russische Volk dem Dekalog von Moses ein elftes Gebot hinzugefügt: „Falle nicht auf, meide die Obrigkeit“ (S.190).

Wie lassen sich auf diese Weise entmündigte Menschen zu innovativem Handeln, das zum Wesen der Moderne zählt, bewegen? Die Antwort des Regimes auf diese Frage lautete – durch Zwang. Darauf basierte das stalinistische Modernisierungsprojekt, dem es in der Tat gelang, Rußland innerhalb kürzester Zeit an die hochentwickelten Industrienationen heranzuführen. Allerdings nur äußerlich. Innerlich blieb das Land erstarrt und hinkte dem davoneilenden Westen hoffnungslos hinterher. Mit Zwang ließ sich nur eine fassadenhafte und keine authentische Modernisierung erreichen.

Das Thema Zwang bzw. Zwangsarbeit steht im Zentrum der Aufmerksamkeit des Verfassers. Viele Gesprächspartner werfen dem Romanhelden vor, der Gulag stelle für ihn eine Obsession dar: Er komme von diesem Thema nicht los, obwohl es in der Geschichte des Sowjetstaates keineswegs eine zentrale Rolle gespielt habe, obwohl es nach dem Tode Stalins bereits bewältigt worden sei. Dieser Ruf nach einem „Schlußstrich“ prallt aber am „Schriftsteller“ ab: „Rußland [so der Romanheld] ist im 20. Jahrhundert ohne die Arbeitslager undenkbar. Das ganze Land war mit Lagern übersät. Dies kann nicht folgenlos bleiben. Wir leben immer noch in einer Lagerwelt. Wir haben die Lagerpsychologie verinnerlicht. Sie hat den russischen Nationalcharakter geprägt … Das Lager – das ist der Kern des 20. Jahrhunderts“ (S.345).

Diese in der Sowjetzeit ketzerisch klingenden Worte darf der Autor des Romans im Roman nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion endlich öffentlich verkünden, aber niemand will sie hören. Mehr noch, die sogenannten patriotischen Kräfte, die den innerrussischen Diskurs der postsowjetischen Zeit immer stärker zu prägen beginnen, lehnen differenzierte und vielschichtige Erklärungen für die russischen Tragödien des 20. Jahrhunderts rundweg ab. Ihre Welt ist einfach und klar. Sie betrachten sowohl die Entstehung als auch den Zusammenbruch der sowjetischen Diktatur, die sie in gleicher Weise als Katastrophen empfinden, lediglich als Werk einer Verschwörung der sogenannten Rußlandhasser, in erster Linie der Juden. Mit diesem geistigen Gepäck knüpfen sie am Ende des 20. Jahrhunderts im Grunde an die manichäische Denkweise der Bolschewiki des beginnenden 20. Jahrhunderts an und verbauen Rußland erneut den Anschluß an die Moderne. Dies stimmt den Autor äußerst pessimistisch. Dennoch gibt er die Hoffnung nicht auf. Was ihn trotz aller Rückschläge, die sein Land im 20. Jahrhundert erlebte, zuversichtlich stimmt, das sind die russische Literatur und die großartige russische Sprache. Ihnen schreibt er die Möglichkeit zu, Rußland zu erneuern und aus der historischen Sackgasse herauszuführen.

Ėjtan Finkel´štejn: Labirint [Labyrinth], NLO, Moskau 2008, 239 S.

Anders als die Zentralfigur im Werk Boris Chazanovs verbrachte der etwa gleichaltrige Icherzähler im Roman von Ėjtan Finkel´štejn seine Kindheit außerhalb der UdSSR – in Litauen – und wird erst nach der Annexion des Landes durch Moskau im Jahre 1940 mit der sowjetischen Wirklichkeit konfrontiert. Nach dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges gelingt ihm die Flucht in das unbesetzte Leningrad, dies erspart ihm das Schicksal seiner Eltern und anderer Familienangehöriger, die zu Opfern des Holocaust wurden.

Da der Held des Romans „Labyrinth“ im „bürgerlichen“ Litauen sozialisiert wurde, beobachtet er das sowjetische Experiment sowohl aus der Perspektive eines Outsiders als auch eines Insiders, was ihm den Einblick in die Spezifika des sowjetischen Systems erleichtert.

Im belagerten und hungernden Leningrad arbeitet er als Heranwachsender in einer Rüstungsfabrik und wird mit dem sowjetischen System in dessen prekärster Stunde, als es um sein politisches Überleben kämpfte, konfrontiert. Um nicht von der politischen Bühne hinweggefegt zu werden, appellierte die Stalin-Riege damals an die Eigeninitiative der Bevölkerung, und dieser Appell blieb nicht ungehört. Über die damalige Atmosphäre schreibt der Icherzähler: „Wir fühlten uns wie ein Teil eines Kollektivs, das lebte und arbeitete, um auszuharren und zu siegen. Wie von selbst kam das Verlangen auf, noch besser und noch mehr zu arbeiten“ (S.53).

Wiederholte Schikanen der Behörden wie auch antisemitische Vorfälle, mit denen der Icherzähler konfrontiert war, waren für ihn zweitrangig. Das einzige, was zählte, war der Sieg.

Nicht zuletzt dieser Einstellung weiter Teile der Bevölkerung verdankte das Regime auch die Bezwingung seines gefährlichsten außenpolitischen Gegners.

Nach dem gewonnenen Krieg kehrte der absurde stalinistische Alltag jedoch zurück. Die während des Krieges erfolgte „spontane Entstalinisierung“ (Michail Gefter), wurde abgewürgt. Erneut wurde die Gesellschaft zur erhöhten Wachsamkeit gegenüber den „im Verborgenen agierenden inneren Feinden“ aufgerufen. Als besonders verdächtig galten nun diejenigen Personen, die sich nicht ihr Leben lang unter der Aufsicht der sowjetischen Sicherheitsorgane befunden hatten, die Verwandte im Ausland hatten oder nicht proletarischer Herkunft waren – also die Mehrheit der Bevölkerung. Natürlich zählte auch der Icherzähler zu den „verdächtigen Elementen“, da er seine Kindheit in einem bürgerlichen Staat verbracht hatte, und seine Eltern nicht der Schicht der Werktätigen angehörten (sein Vater war Rechtsanwalt). Auch die jüdische Herkunft des Romanhelden stellte ein Handicap dar, denn die Juden standen in der spätstalinistischen Zeit unter einem Generalverdacht als potentielle Agenten des „amerikanischen Imperialismus“. Besonders verpönt waren ihre Erinnerungen an den Holocaust, die auch den Icherzähler quälten. Denn jeder Versuch, das Besondere der jüdischen Tragödie hervorzuheben, galt als Zeichen von jüdischem Nationalismus.

Erstaunlicherweise konnte der Romanheld, trotz all seiner Geburtsmakel, an der Lenigrader Universität studieren und sogar eine bescheidene wissenschaftliche Karriere machen. In jeder Krisensituation wurde er jedoch an die „dunklen Seiten“ seiner Biographie erinnert. Im Buch wird allerdings auch über das Schicksal derjenigen berichtet, die trotz einer „makellosen“ sowjetischen Biographie ins Räderwerk der stalinistischen Terrormaschinerie gerieten. Völlige Unberechenbarkeit und Willkür gehörten zum Wesen des Stalinismus. Er basierte auf einer allgegenwärtigen Angst aller, denn zum Volksfeind konnte jeder, auch der treueste Stalinist erklärt werden.

Die lähmende Angst der Beherrschten hatte zwar den Machthabern die Herrschaft erleichtert, dem Entwicklungspotential des Landes hatte sie aber einen unwiederbringlichen Schaden zugefügt. Daher verwandelte sich Rußland im 20. Jahrhundert in ein anachronistisches, vom regierenden Apparat beinahe lückenlos kontrolliertes Fossil, in eine „verspätete Nation“.

Diese Verspätung beschreibt der Icherzähler am Beispiel der sowjetischen Naturwissenschaften, die ebenso wie die Geisteswissenschaften den Beweis erbringen mußten, daß die von den Klassikern des Marxismus-Leninismus entdeckten „ehernen“ Entwicklungsgesetze auch für ihre Fachdisziplinen ein unerschütterliches Fundament darstellten. Das politische Engagement entschied über die wissenschaftlichen Karrieren, jedes nonkonforme Verhalten – eine unabdingbare Voraussetzung für den wissenschaftlichen Fortschritt – galt als kriminelles Delikt, Kontakte mit dem Ausland, ohne die der wissenschaftliche Diskurs undenkbar ist, wurden streng reglementiert. Kein Wunder, daß das Land, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Bereich des Geistigen und Künstlerischen zur europäischen Avantgarde gezählt hatte, innerhalb von einigen Generationen den Anschluß an die Moderne verlor und das 20. Jahrhundert „versäumte“.  

 Leonid Luks