Totalitarismus-Diskussion
Sergej Slutsch
Probleme des Vergleichs der totalitärenRegime
Die Diskussion über die Theorie des Totalitarismus ist offenbar in eineneue Phase getreten. Dies ist gewiß ein positiver Aspekt, was die Beweggründe auch immer sein mögen - ob die politische Konjunktur in den osteuropäischen Ländern oder die Entwicklungsbelange der Politologie und Geschichtsforschung, die sich zunehmend der vergleichendenGeschichte der beiden totalitären Regime zuwenden. Diese vergleichende Analyse steckt eigentlich noch in den Anfängen und hat immer wieder gegenWachstumsschwierigkeiten anzukämpfen. Einerseits liegt es daran, daß die Untersuchungsmethoden noch nicht ausgereift, die Begriffe noch nichtvereinbart sind und es auch an der Kenntnis der Realitäten und Nuancen vorallem des sowjetischen Regimes gebricht, andererseits aber liegt es amBestreben einiger Forscher, sich von der Theorie des Totalitarismus als Produktdes Kalten Krieges zu distanzieren, die aus ihrer Sicht für die Erforschung derart unterschiedlicher Diktaturen wie der nationalsozialistischen und der stalinistischen, die sie von der leninistischen Diktatur trennen,"ungeeignet" ist.
In Wirklichkeit gab es jedoch noch keine detaillierte Gegenüberstellungder Geschichte beider Regime. Die bisherigen Versuche (W. Laqueur, K.-D.Bracher, E. Nolte, A. Bullock und einige andere)[1] markierten im wesentli-chen die Probleme und warfen wohlmehr Fragen auf als sie Antworten lieferten. Umso mehr, als - mit Ausnahme des amerikanischen Forschers Walter Laqueur - keiner von den genannten Autoren ein professioneller Sowjetologe war. Letzteres ist recht belangvoll, bedeutet vergleichende Geschichte doch nicht allein eine Gegenüberstellung der Biographien charismatischer Führer, der parteipolitischen Strukturen, der Ideologien und der Ausmaße des Terrors, sondern auch einen Vergleich des Zustands der betreffenden Gesellschaften, des Geistes der Zeit, wobei sich hinter all diesen Dingen mitunter ein derartiges historisches Gewebe verbirgt, das nicht immer einer Makroanalyse zugänglich ist. Kurzum, die Schaffung einer vergleichenden Geschichte der beiden totalitären Regime steht erst bevor. Es ist dies ein umfangreiches mehrschichtiges Projekt, dessen RealisierungAufgabe einer ganzen Gruppe verschiedener Spezialisten für die Geschichtesowohl der Sowjetunion als auch Deutschlands sein könnte. Jetztmöchte ich aber auf drei zusammenhängende Aspekte dieservergleichenden Geschichte eingehen, die entweder bereits Gegenstand einerDiskussion geworden sind oder gewiß eine solchevoraussetzen.
Begonnen sei mit einer kurzen Schilderung der wirtschaftlichen undsozialpolitischen Situation in beiden Ländern im Vorfeld der Ereignisse,die den Ausgangspunkt ihrer Bewegung zur Errichtung totalitärer Regime hinbildeten.
Vor der Machtergreifung durch die Bolschewiki war Rußland einrückständiges agrarindustrielles Land, in dem die Bauern mehr als 75%der Bevölkerung stellten. In der Stadt lebten weniger als 18% derEinwohner. Die Bruttoindustrieproduktion belief sich 1914 auf 5,7 Mrd. Rubel(2,9 Mrd. US-$ in vergleichbaren Preisen), pro Arbeiter gerechnet war diesjedoch ein Fünftel bis Zehntel der Produktion in Grossbritannien,Deutschland oder den USA. 1917 waren es 71% des Standes von 1914. DasNationaleinkommen machte 1914 insgesamt 16,4 Mrd. Rubel (8,45 Mrd. US-$) aus,pro Kopf der Bevölkerung also lediglich 89 Rubel (45,9 US-$), währendes in Deutschland 154 US-$ und in den USA 351 US-$ waren. 1916 - 1917verringerte sich auch das Nationaleinkommen auf 12,2 Mrd. Rubel (6,29 Mrd.US-$) beziehungsweise 66 Rubel (34 US-$) pro Kopf der Bevölkerung. Anfang1917 betrug die Anzahl der Industriearbeiter 1,922 Mio. Personen. DieErwerbslosigkeit hatte wegen des grossen Bedarfs an Soldaten undArbeitskräften Anfang 1917 nur geringe Dimensionen und überstieg dieZahl von einer halben Million nicht (einschließlich Frauen undJugendliche). 1916 zählte Rußland nur 1.284 Streiks mit 952.000Teilnehmern.[2]
Ein noch komplizierteres Bild bot die russische Gesellschaft, bestand sie dochzu mehr als drei Vierteln aus Bauern, die weitgehend die jahrhundertealtenTraditionen des Gemeinschaftslebens und der damit verbundenen Gleichmachereibewahrt hatten. Die schwache Entwicklung des Kapitalismus auf dem Lande und dieakute Verschlechterung der Situation der Bauernschaft während des erstenWeltkrieges schuf im Verein mit der spezifischen Mentalität der Hauptmasseder russischen Bevölkerung ein riesiges explosives Potential fürManipulationen seitens solcher politischen Kräfte, die vermochthätten, dieses Potential durch vor allem für die Bauern einleuchtendeVersprechungen für sich zu gewinnen. Das Fehlen nicht nur einer"Zivilgesellschaft", sondern auch jeglicher Traditionen des Parlamentarismus,jeglicher Neigung zum gesamtgesellschaftlichen Einvernehmen, zusätzlichverschlimmert durch innere Zersplitterung demokratisch orientierterKräfte, bot angesichts des Zusammenbruchs der Monarchie ihrem Antipoden,dem pseudodemokratischen Linksextremismus, zwangsläufig ein weitesSpielfeld. Die demokratischen Kräfte und die Staatsmachtinstitute, die dieMonarchie abgelöst hatten, erwiesen sich als nicht imstande, eineKonsolidierung herbeizuführen, vor allem aber jene, leider selbst imnachhinein nicht für alle augenscheinliche Tatsache zu begreifen,daß der Übergang zur demokratischen Staatsform weder schnell, nochallumfassend, noch steril wie in einem Labor ablaufen kann, daß dieGesellschaft auf den Übergang zu einem neuen Zustand vorbereitet seinmuß und daß dieser Übergang nicht durch jähen Sprung,sondern durch allmähliche Schaffung erforderlicher politischer,wirtschaftlicher, sozialer und nicht zuletzt mentaler Voraussetzungen vollzogenwird. Falls diese Voraussetzungen jedoch fehlen beziehungsweise keineausreichende Reife erreicht haben, bedarf es gewisser Einschränkungen derDemokratie, ganz besonders hinsichtlich jener politischen Kräfte, die denAnspruch auf die Rolle einer messianischen Kraft erheben und damit für dieGesellschaft als Ganzes die größte Bedrohungdarstellen.
Der erste Weltkrieg mit seinem für Rußland denkbar ungünstigenVerlauf hatte alle Probleme des russischen Staates und der russischenGesellschaft nicht nur weitestgehend verschärft, sondern auch durch einenwichtigen destabilisierenden Faktor erweitert, nämlich den Umstand,daß innerhalb von mehr als drei Jahren 16 Millionen Menschen unter Waffengestellt wurden. Somit hatte der Krieg die Bewaffnung millionenstarker Massenlegalisiert, die desto mehr gegen die existierenden Zustände aufbegehrten,je länger der Krieg fortdauerte. Das war ganz allgemein die Situation inRußland, als die linksextremistische bolschewistische Partei die Machtergriff.
Die Situation in Deutschland vor der Machtergreifung durch Hitler warqualitativ anders. Es sei allein darauf hingewiesen, daß das WeimarerDeutschland ungeachtet aller Beschwernisse und Entbehrungen, die es alsRechtsnachfolger des besiegten Kaiserreichs zu ertragen hatte, weiterhin einhochentwickeltes Land blieb und Ende der 20er Jahre in der Industrieproduktionwieder auf Platz zwei in der Welt lag. Die Weltwirtschaftskrise hatte diedeutsche Wirtschaft ungemein hart getroffen. Das Nationaleinkommen verringertesich 1932 auf 45,175 Mrd. Mark (10,730 Mrd. US-$), was pro Kopf derBevölkerung 693 Mark (165 US-$) ausmachte. Trotzdem hatte der hohePolitisierungsgrad der Bevölkerung und der für Deutschlandbeispiellose Stand der Erwerbslosigkeit (6.013.000 Erwerbslose im Januar 1933)keine Massenausstände bewirkt. 1932 kam es zu 657 Streiks undAussperrungen mit knapp mehr als 120 000 involvierten Personen. Zwar hatten beiden letzten Reichstagswahlen (1932) rund 6 Millionen Wähler für dieKommunisten gestimmt (absolute Spitze seit Bestehen der Weimarer Republik),doch Deutschland war dadurch einer Umgestaltung der Gesellschaft nachsowjetischem Muster nicht einen Schritt näher gekommen. Und zwarungeachtet dessen, daß dort im Einklang mit den Dogmen des orthodoxenMarxismus die größtmöglichen Voraussetzungen für einesoziale Revolution gegeben waren. 1933 lebten in den Städten 67,3% derBevölkerung Deutschlands, und der Anteil der Arbeiter an der gesamtenerwerbs-fähigen Bevölkerung betrug 46,3% (14,946 Mio. Personen).
[3]
Aus dem obigen folgt, daß zwischen Rußland und Deutschland imVorfeld einer radikalen Änderung der politischen Ordnung hinsichtlich deswirtschaftlichen Entwicklungsstands, der sozialen Struktur der Bevölkerungund des allgemeinen Lebensstandards krasse Unterschiede existierten, vomEntwicklungsstand des parteipolitischen Systems und seiner tragenden Instituteganz zu schweigen. Zugleich hatten der hohe Grad der sozialen Spannungen alsFolge eines Rückgangs des Lebensstandards wegen des zermürbendenKrieges in dem einen beziehungsweise einer anhaltenden und tiefgreifendenWirtschaftskrise in dem anderen Fall die Rolle eines starken Katalysatorsgesellschaftlichen Unmuts gespielt, was der Frage nach der Macht besondereAktualität verlieh. Das wußten jene extremistischen politischenParteien geschickt auszunutzen, deren Organisationsstruktur, Programme,Parolen, Methoden der Bearbeitung der Bevölkerung und des Kampfes um dieMacht sich sowohl für einen Teil der Bevölkerung Rußlands alsauch für einen Teil der Bevölkerung Deutschlands als attraktiverwiesen.
Zum Verständnis der Besonderheiten der politischen EntwicklungRußlands und Deutschlands in der Umbruchsphase sollten auch dieüberaus relevanten gemeinsamen Aspekte in der Geschichte beider Staatenberücksichtigt werden. In dem einen wie in dem anderen Fall handelte essich um das Phänomen einer "verspäteten Nation", obwohl es sichjeweils unterschiedlich manifestierte. In Deutschland ging dieser Umstand aufden späten Zusammenschluß des Landes zurück, das gezwungengewesen war, führende Länder einzuholen und den Kampf um einen "Platzan der Sonne" zu führen. In Rußland war die äußerstspäte Abschaffung der Leibeigenschaft die Ursache, was die schwacheEntwicklung des russischen Kapitalismus, die ökonomische wie politischeSchwäche der Bourgeoisie und den chronischen, letztendlich nieüberwundenen Rückstand im wirtschaftlichen und sozialen Bereichbewirkt hatte. Sowohl Rußland als auch Deutschland (Preußen) warenüber Jahrhunderte hinweg Monarchien gewesen, obwohl es sich bei demrussischen Absolutismus um eine - vor allem wegen seiner Verknöcherung -ziemlich einmalige Erscheinung gehandelt hatte. Dabei hatte sich in beidenLändern eine kraft ihrer Herkunft herrschende Eliteschicht herausgebildet,und in der Gesellschaft als solcher überwog der "Untertanengeist", derfür lange Zeit die Priorität des per Befehl verwalteten Staates undseiner Institute bestimmte. Und schließlich gingen die totalitärenRegime in Rußland und in Deutschland auf den Ersten Weltkriegzurück, in dem beide Mächte eine niederschmetternde Niederlageerlitten hatten und in dessen Ergebnis sie, wenngleich aus unterschiedlichenGründen, in die Situation akuter Konfrontation mit den Siegermächtengeraten waren, was weitestgehender Verbreitung klassenbezogenerinternationalistischer Ideen in Rußland und ultranationalistischer Ideenin Deutschland äußerst starken Auftrieb verliehen hatte. Obwohldiese Ideen gewissermaßen Antipoden waren, waren sie auf eineMobilisierung der Gesellschaft zum Kampf gegen äußere und innereFeinde ausgerichtet. Das Vorhandensein einer gut organisierten, eher nachmilitärischem Vorbild aufgebauten ultraradikalen, die Errichtung einerDiktatur im eigenen Lande anstrebenden Partei war ebenfalls eine für dieVorgeschichte der beiden totalitären Regime gemeinsameVoraussetzung.
Die Datierung der Errichtung der totalitären Regime sollte gleichfallsGegenstand einer Diskussion sein. Es handelte sich nicht um einen einmaligenAkt einer Veränderung der politischen Struktur, sondern in jedem Fall umeinen mehr oder weniger langwierigen Prozeß, der bestimmte Stadien sowohleiner Konsolidierung der Macht als auch der Errichtung einer Kontrolleüber die Gesellschaft einschloß. In Deutschland bot die ErnennungHitlers zum Reichskanzler den Auftakt für diesen Prozeß, wasbekanntlich im Rahmen der Weimarer Verfassung geschehen war. Die Marksteinedieses Prozesses waren die "Verordnung zum Schutze von Volk und Staat"(28.02.33), das "Ermächtigungsgesetz" (24.03.33), das "Gesetz gegen dieNeubildung von Parteien" (14.07.33), das "Gesetz zur Sicherung der Einheit vonPartei und Staat" (01.12.33) wie auch die Auflösung der Gewerkschaften,das Verbot der KPD und der SPD und die physische Beseitigung der oppositionellgesinnten SA-Spitze ("Röhm-Putsch"). Die Errichtung des totalitärenRegimes in Deutschland endete am 2. August 1934 mit dem keineswegs formellenAkt der Zusammenlegung der Posten des Reichspräsidenten und desReichskanzlers in der Person des "Führers und Reichskanzlers AdolfHitler",[4] und, was für das traditionellgesetzeshörige Deutschland äußerst wichtig war, mit derVereidigung der Streitkräfte auf ihn.
Diese rasche Konzentration der Macht in einer Hand und die Vereinheitlichungder verschiedenen Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens wurdenmöglich nicht so sehr vermittels von Terror (auf seine Ausmasse werden wirweiter unten eingehen), nicht nur durch die Mobilisierung der NSDAP, die imJanuar 1933 insgesamt 849.000 Mitglieder zählte, wie auch der anderennationalsozialistischen Organisationen (in erster Linie der SA, derenStärke 2 Millionen Angehörige überstieg). In hohem Masseerklärte sich das auch durch die rasche Anpassung der Hauptmasse derBevölkerung Deutschlands an das nationalsozialistische Regime, durch derenMitwirkung am Funktionieren dieses Regimes (bis Ende 1934 stieg dieMitgliederzahl der NSDAP auf das Dreifache und erreichte 2,5 Millionen),
[5] durch Vorhandensein eines politischen undsozialen Konsensus zwischen der neuen Macht und der Mehrheit derDeutschen.
Mit völlig andersgearteten Problemen bekam es die bolschewistische Spitzebei der Herstellung des totalitären Regimes in Rußland zu tun. ImGegensatz zu Deutschland begann diese mit einem Staatsstreich - mit derMachtergreifung durch die Bolschewiki in Petrograd am 25. Oktober 1917. Zudiesem Zeitpunkt zählte ihre Partei rund 350.000 Mitglieder,[6] und zwar bei einer Bevölkerungsstärke inRußland von 163 Millionen.[7] Von dem Gradihrer Beliebtheit im Lande zeugten recht anschaulich die Resultate der Wahlenzur Konstituierenden Versammlung, bei denen die Bolschewiki 24% der Stimmenerhielten.[8]
Die Errichtung des totalitären Regime in Rußland durchlief mehrererecht ausgedehnte Phasen. Die erste war der vom Oktoberputsch ausgelösteBürgerkrieg, den die Bolschewiki zur Festigung und Erweiterung ihrer Machtvon 1918 bis 1921 intensiv geführt hatten. In eben jener Periode, alsobereits unter Lenin, wurde der Grundstein des totalitären Regimes gelegt:Vom politischen Schauplatz verschwanden alle politischen Parteien außerder kommunistischen, bei deren Spitzenmann es sich um einen charismatischenFührer handelte. Der Chef der Gewerkschaften, M. Tomskij, erklärteauf dem XI. Parteitag 1922 zur Charakteristik der Situation, die nach demBürgerkrieg entstanden war: "Im Ausland wird uns vorgeworfen, wirhätten das Regime einer einzigen Partei. Das stimmt nicht. Wir haben vieleParteien. Doch im Gegensatz zum Ausland ist bei uns eine Partei an der Macht,und die anderen sind im Knast."[9] Diese Parteikontrollierte im wesentlichen schon die Presse und hatte die Streitkräftevoll unter ihrer Kontrolle. Die Geheimpolizei hatte bereits stark an Machtgewonnen. Dutzende von Konzentrationslagern für tatsächliche undvermeintliche Regimegegner waren entstanden. Die Partei selbst stellte jedochin den ersten Jahren kein monolithisches Gebilde, keinen voll steuerbarenOrganismus dar, und ihr intellektueller Kern, repräsentiert vorwiegenddurch Berufsrevolutionäre aus Kreisen der Intelligenz, war keineswegsgeneigt, beliebige Ideen widerspruchslos zu akzeptieren, mochten diese auchselbst von Lenin und seiner nächsten Umgebung ausgehen. Das Wachstum derMitgliederzahl der bolschewistischen Partei war selbst unterBerücksichtigung der Verluste an der Front für eine alleinregierendepolitische Organisation recht bescheiden (Frühjahr 1922 - 532.000Mitglieder), also 66% Zuwachs in mehr als vier Jahren.[10]
Stalin, der 1922 zum Generalsekretär der Partei avanciert war und ihreVerwaltungsstrukturen voll kontrollierte, hatte insgesamt sieben Jahregebraucht, um sich als alleiniger Spitzenmann durchzusetzen. Erstallmählich verwandelte er sich in einen charismatischen Führer. 1922- 1929 war die Zeit der Entwicklung der Diktatur Stalins in der Partei und derVerwandlung der Partei in einen hörigen Mechanismus. Gegen Ende dieserPeriode wurde innerhalb der Partei, in erster Linie unter ihrenFunktionären, jede freie Meinungsäußerung, jede Abweichung vonder durch Stalin persönlich bestimmten Generallinie ausgerottet. ImFrühjahr 1930 zählte die Partei 1.210.527 Mitglieder, sie hatte sichalso binnen acht Jahre nahezu auf das 2,3fache vergrößert.
[11]
Gegen Ende der 20er Jahre existierte in der UdSSR praktisch nur noch einegroße potentielle Quelle der Opposition gegen die bestehende Staatsmacht- die millionenstarke Bauernschaft, die als einzige im Lande Eigentumbesaß. Die Herstellung der Kontrolle über die Bauernschaft solltedie Errichtung der totalitären Herrschaft vollenden. Massenrepressaliengegen die Bauern, die künstlich herbeigeführte Hungersnot in derUkraine sowie Dutzende von Bauernaktionen gegen diese Politik bildeten, wievieles andere mehr, das grauenhafte Bild, genannt Kollektivierung, dessentatsächlicher Sinn nicht, wie es die sowjetische Propaganda und nach ihrauch die sowjetische Historiographie behauptete, eineProduktivitätserhöhung der Landwirtschaft, sondern die Herstellungeiner straffen Kontrolle über die Produzenten von Agrarerzeugnissen war.Aus eben diesem Grunde wurden die Bauern gewaltsam in Kolchosen gedrängtoder aber Repressalien ausgesetzt. Stalin selbst gab viele Jahre später ineinem Gespräch mit Churchill zu, die Politik der Kollektivierung sei ein"schrecklicher Kampf" gewesen.[12]
Der nach Abschluß der Hauptetappe der Kollektivierung Anfang 1934einberufene XVII. Parteitag der bolschewistischen Partei wurde "Parteitag derSieger" genannt. Dies war eine Bilanz nicht so sehr des innerparteilichenKampfes (laut Stalin gab es auf diesem Parteitag "nichts, was man hätteunter Beweis stellen und niemanden, den man hätte verhauen sollen"),
[13] wie vielmehr des grauenhaften Siegesüber das eigene Volk, der von der Errichtung eines totalitärenRegimes in der Sowjetunion gekrönt wurde.
Keineswegs zufällig wurde auch der Nürnberger Parteitag der NSDAP imSeptember 1934 als "Parteitag der Sieger" gefeiert. Beide Parteitage zogenBilanz über den Weg, den die kommunistische und die nationalsozialistischePartei nach der Machtergreifung in den beiden einander so wenig ähnlichenLändern - Rußland und Deutschland - zurückgelegt hatten. In demeinen Fall hatte dieser Weg 16 Jahre, in dem anderen etwas mehr als anderthalbJahre beansprucht, doch die Resultate waren verblüffend ähnlich,nämlich - eine totalitäre Diktatur.
Die Frage nach den Methoden der Errichtung eines totalitären Regimes istdirekt verbunden mit dem Problem des Terrors als eines der wichtigsten Mittelder Etablierung und des Funktionierens der neuen Macht. Die Methode derMachtergreifung durch die Bolschewiki und die Nationalsozialisten mußtejeweils zwangsläufig von großem Einfluß auf ihr späteres(machtbezogenes) Verhältnis zur Gesellschaft sein, die sie unter ihreKontrolle zu bringen suchten. Obwohl für die nationalsozialistische Parteibei den Reichstagswahlen vor der Errichtung der Diktatur nur 43,9% derWähler (März 1933) gestimmt hatten, also weniger als die Hälfteder Wählerschaft, rechnete die Führung des neuen Regime darauf, einenKonsens mit der Mehrheit der Bevölkerung zu erwirken. (Gemeint warenselbstverständlich Deutsche, keine Juden, von denen 1933 in Deutschlandfast eine halbe Million lebten).[14]Kennzeichnend ist in diesem Zusammenhang die folgende Erklärung desReichspropagandaministers Goebbels:
"Man kann einmal den Gegner so lange mit Maschinengewehren zusammenschiessen,bis er die Überlegenheit dessen anerkennt, der im Besitze dieserMaschinengewehre ist. Dies ist der einfachere Weg. Man kann aber auch durcheine Revolution des Geistes die Nation umgestalten und damit den Gegner nichtvernichten, sondern sogar gewinnen. Wir Nationalsozialisten sind diesen zweitenWeg gegangen und werden ihn weitergehen."[15]
Bei all der Heuchelei und dem Totschweigen gut bekannter Fakten physischerVernichtung von Vertretern der linken Opposition, die die Nationalsozialistenweder umzustimmen, noch für sich zu gewinnen gedachten, spiegelte dieseErklärung das augenscheinliche Streben der Spitzen des Dritten Reichesnach Einvernehmen mit der Gesellschaft wider, die allerdings von "subversivenund rassenmässig minderwertigen Elementen gesäubert" sein sollte. Essei nebenbei bemerkt, daß die Bolschewiki nicht einmal zupropagandistischen Zwecken auf etwas von der Art kommen konnten. Zu ihrerParole waren bekanntlich die Worte geworden, "wenn sich der Gegner nichtergibt, wird er vernichtet". Wenn er sich ergibt, wird er allerdings erst rechtvernichtet.
Das Niveau dieses Konsenses bestimmte denn auch das Verhältnis zwischensolch wichtigen Instrumenten wie Propaganda und Terror. Letzterer hatte inDeutschland vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verhältnismässig"bescheidene" Ausmasse, ganz besonders, wenn man die Zahl der erklärtenpolitischen Gegner des neuen Regimes (Ende 1932 zählte die KPD 360.000Mitglieder[16] und die SPD 1 MillionMitglieder)[17] beachtet, ganz zu schweigenvon den vielen Millionen Deutschen, die die recht stabile Wählerschaft derlinken Parteien bildeten. Nach der Machtübernahme durch Hitler wurden imVerlaufe des Jahres 1933 rund 100.000 Personen inhaftiert,[18] von denen allerdings lediglich 40.000 - 50.000 in KZskamen.[19] In den darauffolgenden Jahrenverringerte sich die Anzahl der KZ-Insassen ständig. Seit 1937/38 begannsie allerdings erneut zu steigen. Zu den politischen Gegnern des Regime kamen"Müssiggänger, Raufbolde, Landfahrer, Zigeuner, Homosexuelle,Bibelforscher und Kriminelle" hinzu. Der Anschluß Österreichs unddie Einverleibung des Sudetenlandes sowie die Festnahme von 20.000 Judenwährend der Kristallnacht im November 1938 vergrößerten dieAnzahl der Lagerinsassen auf 60.000.[20] Baldverringerte sich diese Zahl jedoch auf 25.000,[21] da Juden zur Auswanderung gezwungen wurden und dieEntlassung aus dem KZ zu bestimmten Bedingungen vor dem Krieg recht starkverbreitet war. Gering blieb auch die Anzahl der in den Vorkriegsjahrengefällten Todesurteile: 1937 - 86, 1938 - 99, 1939 - 143.[22] Es müssen selbstverständlich diejenigenhinzugerechnet werden, die ohne Untersuchung und Prozeß auf offenerStraße getötet wurden, ganz besonders in der Zeit derMachtergreifung durch die Nationalsozialisten in der ersten Hälfte 1933wie auch im Verlaufe der Judenpogrome im November 1938. Insgesamt wurden denAngaben zufolge 1933 - 1939 350.000 bis 500.000 Personen festgenommen und zuHaftstrafen in Gefängnissen beziehungsweise KZ's von einigen Tagen biseinigen Jahren verurteilt.[23] Trotz alldieser Vorgänge inklusive der Zwangsauswanderung bewirkte die Errichtungder Diktatur in Deutschland keine Verringerung der Bevölkerung, die sichin den Grenzen vom 31.12.1937 von 1933 bis 1939 um 3.259.000 Einwohnervergrößerte (zum Vergleich: In den vorangegangenen sechs Jahrenhatte sich die Bevölkerung Deutschlands um 2.086.000vergrößert).[24]
Die Anzahl der von Repressalien betroffenen Personen nahm während desKrieges stark zu, und zwar ganz besonders in seiner abschließenden Phase,da die Beschwernisse des zermürbenden Kampfes an mehreren Fronten und dieständigen Bombenangriffe der Alliierten für viele Deutsche dieUnvermeidlichkeit der Niederlage augenscheinlich gemacht hatten. Was dieGesamtzahl der Gefangenen aus den verschiedenen vom Dritten Reich okkupiertenLänder betrifft, die im Verlaufe des Krieges durch die Konzentrations- undVernichtungslager der Nazis gegangen waren, so handelte es sich umgrundsätzlich andere Grössenordnungen, da sie ja bekanntlich 18Millionen betrug. Mein Referat behandelt jedoch die Errichtung und dieAnfangsetappe des Funktionierens des totalitären Regime in Deutschland,das heißt die Periode bis zum allmählichen Übergang zumextremen Zustand des Krieges gegen die gesamte restliche Welt. In dieser Phasespielte der Terror vor allem gegen politische Gegner, ganz zu schweigen von denDissidenten in den eigenen Reihen, eine relativ geringe Rolle. Dies lag nichtan der Schwäche des Regimes und umso weniger an seinem humanem Charakter,sondern daran, daß dieses einen hinreichend hohen Grad von politischemund sozialem Einvernehmen mit der Gesellschaft bei gleichzeitig starkgewachsener Kontrolle über diese erwirkt hatte. In dieser Hinsichtähnelt das Naziregime der Vorkriegsperiode nicht so sehr dem Stalinregimewie vielmehr dem poststalinistischen sowjetischen Totalitarismus, da sich dieBalance zwischen politischer Kontrolle und einer Art Abmachung zwischen Regimeund Gesellschaft kraft ganz anderer Ursachen eindeutig zugunsten dieserletzteren verlagert hatte.
Konnten die Bolschewiki in Rußland die Macht in erster Linie dank demErsten Weltkrieg ergreifen, so waren sie erst in der Lage, diese Macht zuhalten, nachdem sie aus diesem Krieg ausgeschieden waren und in Brest denseparaten Friedensvertrag mit dem Kaiserreich geschlossen hatten, das derbolschewistischen Führung unter Lenin ermöglicht hatte, in Rußland einen Bürgerkrieg zu entfesseln. In den Jahren desBürgerkrieges hatte der Terror eindeutig eine sozialpolitischeAusrichtung, ohne daß er in sehr vielen Fällen durchmilitärische Notwendigkeit bedingt gewesen wäre. Exakte Angabenüber seine Ausmasse liegen selbstverständlich nicht vor. Berechnungendes bekannten Demographen der Harvard-Universität S. Maksudov zeigenjedoch, daß 1918 - 1926 im Ergebnis des Bürgerkrieges, derBauernerhebungen, der Hungersnot von 1920/1921 sowie der Repressalien, alsoletztendlich der Aktionen, die vom bolschewistischen Regime realisiert oderprovoziert wurden, mehr als 10 Millionen Menschen zu Tode kamen.[25] Nach sehr strengen Schätzungen von Maksudov betrug1926 - 1938 der "erhöhte Bevölkerungsschwund" in der UdSSR, also derSchwund infolge direkter beziehungsweise indirekter Repressalien(Kollektivierung, künstlich bewirkte Hungersnot in der Ukraine) 9,8Millionen Menschen,[26] womit die Gesamtzahlder in diesen Jahren von Repressalien betroffenen Personen gewiß nichtvoll erschöpft war.
Deren Zahl vergrößerte sich ständig und erhielt durchErklärungen der Führer und Rechtsakte eine entsprechende"Normativbasis". So wurde bereits unter Lenin die Praxis eingeführt,Geiseln zu nehmen und hinzurichten, was durch die Notwendigkeiten desBürgerkrieges begründet wurde. Stalin führte in der Friedenszeitdie per Gesetz legitimierte Haftung aller Familienangehörigen für die(tatsächlichen beziehungsweise vermeintlichen) Taten eines jeden von ihnenein. Wie dies in der Praxis aussah, ist gut sichtbar am Beispiel der Familieund der Angehörigen von L. Nikolaev, der unter bisher nicht geklärtenUmständen am 1. Dezember 1934 das Politbüromitglied S. Kirovgetötet hatte. In der Liste der durch Repressalien betroffenen Personensind die Mutter Nikolaevs, seine beiden Schwestern, der Ehemann einer dieserSchwestern, Nikolaevs Bruder, die Ehefrau des Bruders, die Ehefrau Nikolaevs,die Schwester der Ehefrau, der Ehemann dieser Schwester, der Bruder desEhemannes der Schwester der Ehefrau und schließlich Nikolaevs Cousin.
[27] Dies war eine weithin verbreitete Praxis,obwohl sich dieser konkrete Fall von den meisten anderen dadurch unterschied,daß hinter ihm die reale Tat einer einzelnen Person stand, die in derGeschichte der Sowjetunion keine geringere Rolle gespielt hatte als derReichstagsbrand in der Geschichte Deutschlands.
Einige Jahre später erklärte Stalin, der zum wiederholten Male dieKarte der Spionomanie ausspielte, indem er seine ehemaligen Mitstreiter aus demrevolutionären Kampf einer Verschwörung mit fremden Mächtenzwecks Spaltung der UdSSR beschuldigte, auf einem Empfang beim Volkskommissarfür Verteidigung, K. Vorošilov, am 7. November 1937, manwerde "jeden solchen Feind vernichten, mag er auch einer von den altenBolschewiki sein, wir werden seine ganze Verwandtschaft, seine Familievernichten".[28]
Terror spielte im Werdegang und Funktionieren des totalitären Regimes inder UdSSR eine gewaltige Rolle, und zwar nicht als Reaktion auf einenWiderstand gegen das Regime, sondern vor allem als Hauptform desVerhältnisses zwischen Partei und Gesellschaft, der Aufrechterhaltung desZustands permanenter Spannung in der Gesellschaft. Ein aufschlußreichesBeispiel dafür ist der vor kurzem bekannt gewordene Beschluß desPolitbüros vom 31. Januar 1938. Allein mit diesem Beschluß wurde derNKVD (mit Aufschlüsselung nach Republiken und mehreren Gebieten)angewiesen, "aktive antisowjetische Elemente" in einer Anzahl von 48.000Personen gemäß "erster Kategorie" (also durch Erschießung) zubestrafen.[29]
Die Massenrepressalien bezweckten nicht nur psychische Vernichtung, sondernauch psychologische Beeinflussung von Millionen Menschen, die gewaltsam in denAufbau einer "neuen Welt" verwickelt worden waren. Das Schüren von Angstin Verbindung mit dem Fehlen jeglichen rechtlichen Schutzes, die densowjetischen Menschen zeit seines Lebens begleiteten, war eines der wichtigstenElemente des psychologischen Terrors. Es war die Furcht, wegennichtproletarischer Herkunft der Eltern oder wegen irgendwelcher "Unklarheiten"im Lebenslauf in den Komsomol beziehungsweise in die Partei nicht aufgenommenoder zum Studium nicht zugelassen zu werden; die Furcht vor der fälligenSäuberung in der Partei wegen irgendwann von irgendjemandemgeäußerter Vorwürfe wegen spießbürgerlicher Haltungoder gar ohne jegliche sichtbare Begründung; Furcht wegen früherenBekanntschaften oder dienstlichen Kontakten mit ehemaligen Teilnehmern einer"Opposition" oder "Volksfeinden"; Furcht wegen Kontakten mit Ausländern,Erhalt von Briefen oder Päckchen aus dem Ausland oder Vorhandensein vonVerwandten im Ausland; Furcht um die eigenen Kinder oder Angehörigen, diedazu zwang, völlig unschuldige Menschen zu verleumden, um bis ans eigeneLebensende befürchten zu müssen, es würde irgendwann ans Lichtkommen, und so weiter und so fort. Der Gesamtprozeß aber, bei dessenEntwicklung die bolschewistische Führung der physischen und geistigenGewaltanwendung derart große Bedeutung beimaß, wurde von Stalinals "Aufbau des Sozialismus in bezug auf die gesamte Gesellschaft"bezeichnet.[30]
Die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen bestimmten in entscheidendemMaße auch die unterschiedliche Rolle des Terrors bei der Errichtung dertotalitären Regime und der Schaffung einer unter totaler Kontrollestehenden Einheitsgesellschaft in der UdSSR und in Deutschland. In erster Liniedeswegen, aber nicht allein deswegen, übertraf der sogenannteklassenbezogene, in Wirklichkeit aber uneingeschränkte und hinsichtlichseiner Ausrichtung unberechenbare Terror in der Sowjetunion in seinenAusmaßen weitgehend den rassistisch-ideologischen Terror derNationalsozialisten auf dem gesamten von ihnen okkupierten TerritoriumEuropas.
In der UdSSR erfüllte der Terror bis hin zu Stalins Tod folgende dreiHauptintentionen: erstens - den Aufbau einer weitestgehend homogenenGesellschaft durch Vernichtung beziehungsweise Isolierung derjenigen, die sichauch nur in irgendeiner Weise nicht in die Vorstellung von dem absolut loyalen,also vollständig steuerbaren sowjetischen Menschen fügten; zweitens -Aufrechterhaltung eines Zustands permanenter Spannung, in dem sich niemand,selbstverständlich mit Ausnahme der einen Spitzenperson, in Sicherheitglauben konnte, nicht einmal der Regierungschef (ich habe eine 1937 anNKVD-Chef Ežov gerichtete Notiz von V. Molotov gesehen, die seine Kontakte zueinem nunmehr unter Verdacht stehenden Parteiveteranen in der Zeit vor derRevolution betraf). Drittens schließlich mußte die millionenstarkeBevölkerung des GULag in schwer zugänglichen und klimatischäußerst ungünstigen Gebieten der UdSSR volkswirtschaftlicheAufgaben lösen,[31] die sich auf andereArt und Weise nicht bewältigen ließen und die jährlich mit demLeben von Hunderttausenden bezahlt werden mußten. Nicht von ungefährbemerkte Hitler einmal, hätte er Sibirien, dann hätte er keineKonzentrationslager bauen müssen, in der UdSSR gab es aber nicht nurSibirien allein...
Die Gegenüberstellung einiger Aspekte der Genesis und des Funktionierensder totalitären Regime in der UdSSR und Deutschland zeigt nicht nur dasVorhandensein einzelner spezifischer Wesenszüge, die jedem dieser Regimeeigen sind, sondern vor allem die Unterschiede in den Ausmaßen und derZeit der Äusserung dominierender gemeinsamer Merkmale. Die Theorie desTotalitarismus gibt dem Forscher, indem sie diese, in ihrer Mehrheitsystembildende Merkmale heraussondert und zusammenfaßt, eine ArtLeitfaden in die Hand. Ungeachtet langjähriger Bemühungen konntenihre Kritiker ihr doch nichts Gleichwertiges entgegensetzen.
Als besonders wenig ergiebig erscheinen die Versuche, die Unterschiede zwischenbeiden Regime zu verabsolutieren und dabei die Einmaligkeit, dieBeispiellosigkeit des nationalsozialistischen Regimes in der Geschichte zuunterstreichen. Meines Erachtens fördert die Beachtung, die in denDiskussionen des letzten Jahrzehnts dieser Frage gewidmet wird, keineswegs einewissenschaftliche Erforschung des gesamten Komplexes der Probleme, die mit derzeitlich sowohl symmetrischen als auch asymmetrischen Existenz der beidentotalitären Regime mit all ihren Gemeinsamkeiten und Besonderheitenverbunden sind. Letztendlich ist jedes historische Ereignis auf seine Arteinmalig und unnachahmlich. Doch die Geschichte der Völker ist keineGeschichte der Olympischen Spiele, wo es darauf ankommt, Spitzenleistungenherauszustellen. Sonst kann vieles vorwiegend auf ein Jonglieren mit Zahlen,auf den Streit hinauslaufen, wer "der Größte" war.
Auf die Unproduktivität dieser Vorgehensweise auch in politischer Hinsichtverwies bereits 1986 Eberhard Jäckel im Verlaufe des sogenannten"Historikerstreits", indem er einige rein rhetorische Fragen stellte: "Waseigentlich würde sich dann ändern, wenn der nationalsozialistischeMord nicht einzigartig gewesen wäre? Soll die Bundesrepublik dann etwakeine Wiedergutmachungszahlungen mehr leisten, der Bundeskanzler sich nichtmehr in Yad Vashem verneigen oder der Bürger sich besser fühlen?"
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Noch komplizierter ist die Situation bezüglich der Verbrechen dertotalitären Herrschaft in der UdSSR. Wenn man nur die Aspekteunterstreicht, die seine ausschließliche Eigenart ausmachen, verlierenweitere vergleichende Untersuchungen jeglichen Sinn. Für die Wissenschaftist indes die Frage nach dem "Warum" die wichtigste, nicht aber "wer mehrverbrochen hatte" oder "wer blutrünstiger war", Stalin oder Hitler. Wir inRußland stehen am Anfang eines weiten Weges, auf dem eine Antwort aufdiese Frage gefunden werden kann. Leider tragen weder das (wesentlich geringergewordene) gesellschaftliche Interesse, noch das gesellschaftliche Klima dazubei. Das über Jahrzehnte anhaltende Totschweigen der Tragödie dereinen und der Untaten der anderen war unabdingbarer Bestandteil der Ideologiedes poststalinistischen Regimes, das bei mehreren Generationen der sowjetischenMenschen eine völlig deformierte Vorstellung von der Vergangenheit unddamit auch eine nicht bewältigte Vergangenheitzurückließ.
In dieser Verbindung möchte ich auf die Wichtigkeit einer vergleichendenErforschung des totalitären Regimes in Deutschland und des sowjetischenTotalitarismus nicht nur unter Lenin und Stalin, sondern auch in derpoststalinistischen Phase hinweisen. Dazu gibt es gewichtige Gründe. Diepoststalinistische Zeit setzte dem charismatischen Führertum und demMassenterror ein Ende, beließ die Macht aber in den Händen derPartei-oligarchie und ihrer Strukturen. Dabeiwurden der Gesellschaft ganz bestimmte, wenngleich auch nicht offenverkündete, aber doch recht straffe Spielregeln aufgezwungen. Deren loyaleEinhaltung wurde in dieser oder jener Weise belohnt und Nichteinhaltungbestraft.
Selbstverständlich wäre es absolut unkorrekt, zwischen den alstotalitär bezeichneten politischen Regime in den zwei verschiedenenLändern ein Gleichheitszeichen zu setzen, die dazu noch zu verschiedenenEpochen gehörten (es ist übrigens eine typische Reaktion der Kritikerkomparativistischer Methoden, den Vergleich als Gleichsetzung aufzufassen!).Eine Gegenüberstellung vergleichbarer historischer Realien kann jedochlediglich zu einem tieferen Verständnis jedes der Untersuchungsobjektebeitragen.
Und schließlich die letzte Bemerkung. Die im Beitrag aufgeworfenenProbleme und Fragen sollten meines Erachtens vor allem zum Gegenstandsorgfältiger Untersuchung und erst danach einer breiten Diskussion werden.Sonst beschwören wir die Gefahr eines neuen "Historikerstreits" herauf;jedoch in wesentlich stärker politisierter Form.
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