Aleksandr
Vatlin "Die Krise unserer Partei bedroht die Weltrevolution" Karl Radek zwischen sowjetischem Politbüro und deutscher Revolution In der Geschichte der Revolution gibt es Figuren, die ständig die Aufmerksamkeit der Gelehrten und Literaten hervorrufen. Bei aller Polarität der Bewertungen ihrer Persönlichkeit ist die Besonderheit dieser Figuren augenscheinlich. Die Schärfe ihres Intellekts und ihr tragischer Lebensweg können sowohl faszinieren als auch abstoßen. In der Weltliteratur über den Bolschewismus kommt immer wieder neben den Namen von Lenin, Stalin und Trockij auch der Name von Karl Radek vor. Er wird mit den markantesten Epitheta - "der letzte Internationalist", "das Werkzeug des Übels", "Meister der Geheimaufträge" - bezeichnet. Erst in der letzten Zeit ergab sich die Möglichkeit, wissenschaftliche Hypothesen und literarische Dichtung, die sich um seine politische Biographie rankten, anhand von Dokumenten zu prüfen. Der Weg von Karl Radek (Sobelsohn) in die europäische Arbeiterbewegung am Vorabend des Ersten Weltkrieges war typisch für viele radikale Sozialisten. Er stammte aus einer jüdischen Familie des Mittelstandes in Galizien und erblickte in der proletarischen Weltrevolution die Möglichkeit, den engen Rahmen der Beschränktheit des jüdischen Stetls und die Selbstzufriedenheit der Kleinbürger zu sprengen. Dank seiner publizistischen Begabung und seiner scharfen Feder wurde er recht bald eine bekannte Figur unter den polnischen und später auch deutschen linken Sozialisten. Aber 1912 wurde Radek von der Führung der SPD der Veruntreuung von Parteigeldern angeklagt - kein seltener Fall, der mehr als einen Funktionär die Karriere kostete. Die Emigration in die Schweiz zu Beginn des Ersten Weltkrieges und die dort geschlossene Bekanntschaft mit Lenin und Zinov´ev gaben Radek die Möglichkeit, sich über Wasser zu halten. Die pointierten Antikriegsartikel, die Radek mit dem bedeutsamen Pseudonym "Parabellum" unterzeichnete, die exzellenten Kenntnisse mehrerer europäischer Sprachen und eine verzweigte Bekanntschaft in den linken Gruppen der Zweiten Internationale waren die Grundlage seiner Kooptierung in die führenden Organe der bolschewistischen Partei. Radek beteiligte sich aktiv an der Konferenz in Zimmerwald (Lenin nannte sie später die eigentliche Gründung der Dritten, der Kommunistischen Internationale). Nach dem Sturz der Monarchie in Rußland begab sich Radek - zusammen mit Lenin - im berüchtigten "plombierten Waggon" nach Rußland zur Entfachung der Revolution in ein Land, das er vorher nie gesehen hatte. Der reiche publizistische Nachlaß Karl Radeks zeugt davon, daß sein Glaube an die Nähe eines Weltumsturzes, dessen Initiator das vereinigte Proletariat aller Länder sein sollte, sich nicht so sehr auf die theoretischen Postulate des Marxismus als auf das instinktive Gefühl des bevorstehenden Zusammenbruches der "alten Welt" stützte. Jedoch verursachten die Schrecken des imperialistischen Krieges keinen Übergang dieses Krieges in einen Weltbürgerkrieg. Sowjetrußland wurde zu einer "belagerten Festung", in der die ungeteilte Herrschaft der bolschewistischen Partei erlaubte, ein nie gesehenes soziales Experiment zu beginnen. Karl Radek wurde die Anekdote über den alten Juden zugeschrieben, dem es gelungen war, in Moskau eine "ewige" Arbeit zu erhalten - er mußte jeden Morgen den höchsten Kremlturm besteigen und nach dem Westen schauen, um rechtzeitig vom Feuerschein der proletarischen Weltrevolution Meldung zu machen. Hinter dem Zynismus dieses Witzes verbarg sich die ernste Krise der bolschewistischen Theorie und Praxis in den ersten Monaten und Jahren nach der Machtergreifung. Der Sieg im Bürgerkrieg war errungen, die unbegrenzte Herrschaft in Rußland war gesichert - doch dazu kam das beinahe absolute Schweigen des europäischen Proletariats. Die fanatische Überzeugung Lenins und seiner Mitstreiter erlaubte keinen Kompromiß mit dieser Entwicklung - man wartete nicht auf eine Revolution, man organisierte eine Revolution. Radek wird zum Sachverständigen Nummer eins in dieser Frage, und seine politische Biographie ist im Laufe eines ganzen Jahrzehnts fest mit den bolschewistischen Vorstellungen über die weiteren Wege der Weltrevolution verbunden. Ihre Blicke waren vorerst auf Deutschland gerichtet - es war das Land des "Muster-Imperialismus" und gleichzeitig das Vaterland des Marxismus. Die deutsche Arbeiterbewegung war die größte und am besten organisierte proletarische Bewegung in der ganzen Welt. Gleich nach der Kapitulation Deutschlands im Ersten Weltkrieg und dem Sturz der Hohenzollern, begab sich Radek nach Berlin. Es gelingt ihm, ein Minimal-Programm zu realisieren. In Deutschland wird eine nationale kommunistische Partei gegründet, aber die Novemberrevolution 1918 überschreitet nicht den Rahmen der parlamentarischen Demokratie. Die Versuche der Kommunisten, einen bewaffneten Aufstand auszulösen, endeten mit dem weißen Terror, in dessen Verlauf viele führende Persönlichkeiten der KPD den Tod fanden. Radek konnte sogar der Diplomatenpaß Sowjetrußlands nicht helfen, im Februar 1919 wurde er verhaftet und verbrachte beinahe ein ganzes Jahr im Gefängnis Moabit. Währenddessen wechselten in Moskau Hoffnungen mit Enttäuschungen. Jegliche politische Erschütterung im Westen wurde von Lenin als Beginn der proletarischen Weltrevolution verstanden: "Kein Zweifel daran, daß die sozialistische Revolution in Europa kommen muß und kommen wird. Alle unsere Hoffnungen auf den endgültigen Sieg des Sozialismus fußen auf dieser Überzeugung und auf dieser wissenschaftlichen Voraussicht."[1] Im März 1919 wird diese Voraussicht durch die Bildung der organisatorischen Strukturen der Kommunistischen Internationale untermauert. Letztere wird zu einem Generalstab der Weltrevolution. Die Kommunistische Partei (Bolschewiki) Rußlands (RKP/B/) überließ der Komintern "leihweise" eine Million Rubel.[2] Diese Summe genügte knapp für die Rückreise der Teilnehmer des Gründungskongresses der Komintern in ihre Länder. Damit begann aber die Finanzierung der kommunistischen Bewegung von Moskau. Dieser Teil der Ausgaben zieht sich durch das reale Staatsbudget wie ein roter Faden durch alle sieben Jahrzehnte der Sowjetmacht. Das Volkskommissariat des Äußeren sparte keine Mühe, um Radek aus dem Gefängnis zu befreien - er wurde sogar zum Außerordentlichen und Bevollmächtigten Vertreter der Sowjetukraine in Deutschland ernannt. Anfang 1920 wurde er endlich befreit. In Radeks Archiv sind die Bescheinigungen deutscher und polnischer Offiziere über seine Übergabe per Etappe erhalten. An der sowjetischen Grenze erbat Radek zwei Fuhrwerke für seine Bagage und forderte die Unterbrechung jeglicher militärischer Kriegstätigkeit für die Zeit seiner Frontüberquerung.[3] In Moskau wurde Karl Radek, der schon vorher in Abwesenheit zum Mitglied des ZK der RKP(B) gewählt war, zum Sekretär des Exekutivkomitees der Komintern und zu einem der wichtigsten außenpolitischen Sachverständigen des Bolschewismus. "Der zeitweilige Rücklauf der revolutionären Woge in den Ländern Europas", - so schrieb damals die "Pravda", - erforderte von der sowjetischen Parteiführung nicht nur eine Überprüfung der Taktik, sondern auch der Strategie. In der Innenpolitik wurde diese neue Situation mit der Neuen Ökonomischen Politik [russische Abkürzung - NĖP] beantwortet. In der Sphäre der Komintern aber befürwortete das Politbüro des ZK der RKP(B) nach langwierigem Schwanken die von Radek vorgeschlagene Linie zur Bildung einer "Arbeitereinheitsfront", was Unterhandlungen und sogar Zusammenarbeit mit den sozialdemokratischen Parteien Europas vorsah. Da diese Einheitsfront nach den Vorstellungen ihrer Befürworter letzten Endes ein "Mittel zur Erdrosselung der Sozial-Verräter in den eisernen Umarmungen der Kommunisten" werden sollte, ergaben sich wenig Möglichkeiten zur Überwindung der Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung. Trotzdem bestand eine solche Möglichkeit in der Zeit der "NĖP - Perestrojka", die den Anschein einer demokratischen Evolution des bolschewistischen Regimes machte. Die Diskussionen zu Beginn der zwanziger Jahre, darunter auch die letzten Arbeiten Lenins, zeigten, daß die Frage der Machterhaltung das wichtigste Problem des Bolschewismus war. Jedoch wurden durch die innere Entwicklung der Parteidiktatur diese Fragen schon auf eine neue Weise gestellt: es ging um die Macht innerhalb der Partei. Mitte 1923 wurde der Konflikt augenscheinlich. Ins Zentrum der heftigen Diskussionen gerieten Fragen der fatalen Ausartung des Parteiregimes und der Stagnation der Industrie. In der Anfangsetappe des inneren Kampfes in der Parteiführung spielten die Probleme der Weltrevolution nicht nur in theoretischer, sondern auch in rein praktischer Hinsicht eine ebenso wichtige Rolle. Im Juli 1923 verbrachten die Parteiführer Trockij, Zinov´ev und Bucharin ihren Urlaub im Kaukasus. Die innersowjetischen Angelegenheiten wurden in Moskau von Stalin, die Komintern-Fragen von Radek erledigt.[4] Zu dieser Zeit hatten die Auseinandersetzungen in der bolschewistischen Führung schon recht präzise Konturen angenommen. Noch lebte Lenin, aber Zinov´ev, Kamenev und Stalin (die "Trojka") taten alles, damit Trockij nicht zum Nachfolger Lenins werden sollte. Trockij war Vorsitzender des Revolutionären Kriegsrates und versuchte, seine Positionen in der Armee und in der Schwerindustrie zu festigen. Jedoch hatte er keine Unterstützung in den höchsten Etagen der Parteihierarchie, was im weiteren auch seine Niederlage bedingte. Radek zählte damals zu den engsten Mitstreitern Trockijs. Die Gemeinsamkeiten ihrer politischen Biographien, ihr Hang zur Publizistik und ihre umfassende Bildung machten sie einander einigermaßen ähnlich. Außerdem einte sie die gemeinsame Ablehnung gegenüber Zinov´ev, der damals Vorsitzender des Exekutivkomitees der Komintern war. Radek meinte nicht ohne Grund, daß Zinov´ev an einigen Mißerfolgen der kommunistischen Parteien Anfang der zwanziger Jahre schuld war. Man darf wohl annehmen, daß er selbst auf die erste Position in der internationalen kommunistischen Bewegung hoffte. Dabei behielt er eine ehrfürchtige Distanz zu Trockij, denn er erblickte in ihm "den einzigen schöpferischen Geist großen Kalibers in unseren Reihen".[5] Es wurde ein historisches Gerücht verbreitet, daß Radek während der hitzigen Polemik auf dem 12. Parteitag Vorošilov erklärt habe: "Besser der Schweif des Löwen zu sein (d.h. Lev [Leo] Trockij. - A. V.), als der Hintern von Stalin!" Die erst vor kurzem den Forschern zugänglich gewordenen Dokumente aus den persönlichen Beständen Radeks, Zinov´evs u.a. Oppositioneller, die nach 1937 in Stalins Archive kamen, zeigen ein recht kompliziertes Bild des Julikonflikts 1923 in der Parteileitung. Der Konflikt begann mit der Weigerung Radeks, dem ZK der KPD ein Telegramm Zinov´evs und Bucharins zu schicken, in dem die Partei zu aktiven Handlungen gegen die Faschisten aufgerufen wurde. In Deutschland verschärfte sich die innenpolitische Krise, die durch die Ruhr-Besetzung der Entente hervorgerufen wurde. Die Entente beabsichtigte eine Sicherung der Reparationszahlungen nach dem Versailler Vertrag. Die extremen Rechtskräfte, angefangen mit den Nazis, begannen eine Attacke gegen die republikanischen Parteien, besonders gegen die Sozialdemokratie. Unter diesen Umständen billigte das ZK der RKP(B) den von Radek vorgeschlagenen Kurs auf ein Bündnis der KPD mit dem "Nationalbolschewismus". Damit beabsichtigte man eine Destabilisierung der Situation in Deutschland, was den Kommunisten die Möglichkeit geben sollte, im nötigen Moment die Initiative zu übernehmen und zur kommunistischen Machtergreifung aufzurufen. Die Komintern verschickte diesbezügliche Anweisungen. Das Telegramm Zinov´evs und Bucharins schlug eine Änderung der Hauptrichtung des Angriffes vor - die KPD sollte einen Schlag gegen die nationalistischen Kräften führen, um die Sympathien der sozialdemokratischen Arbeiter zu gewinnen. Damit wurde die von Radek vorgeschlagene Taktik desavouiert, worauf er sehr scharf reagierte: "Es kann nicht zwei leitende Zentren geben - eins in Moskau, das andere im Kaukasus - wenn wir die Berliner nicht irre machen wollen."[6] Die Tatsache, daß die deutsche Partei von auswärts Anweisungen erhielt, wurde in der bolschewistischen Führung von niemandem in Frage gestellt. Die lebhafte Korrespondenz endete ohne Kompromiß - Radek bezog sich auf die einstimmige Meinung des Präsidiums des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) vom 17. Juli 1923, seine Opponenten meinten, daß er die revolutionäre Energie der deutschen Kommunisten böswillig bremse. Die Nachrichten aus Deutschland bestätigten die Verschärfung der innenpolitischen Krise. Radek verteidigte sich: Die Meinungsverschiedenheiten bezögen sich nicht auf das Tempo, sondern auf die Bewertung des Reifegrades. Man müsse nur den günstigsten Augenblick für den "direkten Kampf um die Macht in Deutschland" abwarten.[7] Radek gelang es zu erreichen, daß die Frage am 27. Juli 1923 auf einer Sitzung des Politbüros des ZK der RKP(B) behandelt wurde. Seine Auffassung wurde gebilligt[8]... und seinen Opponenten wurde vorgeschlagen, die existierenden Meinungsverschiedenheiten durch weiteren Briefwechsel zu klären. Diese Entscheidung hatte eine Panik in Kislovodsk (Kaukasus) zur Folge - Zinov´ev fühlte sich übergangen und stellte sogar die Frage nach seinem Austritt aus dem Politbüro. Er, ein Meister der politischen Intrige, sah überall Verschwörungen, die gegen seine Person gerichtet waren. Stalins Unterstützung für Radek interpretierte Zinov´ev als Versuch, seine Positionen in der Komintern zu schwächen oder einzuengen. Sein Verhalten Radek gegenüber zeigte Zinov´ev unzweideutig in seinen Briefen an Kamenev, die er nach dem 27. Juli aus Kislovodsk schrieb: "Jetzt braut Karlchen Radek eine Intrige... Er schreibt uns unverschämte Briefe und verschickt die Kopien an Trockij. Die Bezugnahme Karlchens auf einen einstimmigen Beschluß des Präsidiums des EKKI ist eine Gaunerei."[9] Man muß dem Verfasser dieser Zeilen ein gutes politisches Gespür zugestehen; er hatte eine harte Schule des Existenzkampfes in Emigrantenkreisen durchgemacht. Das vermeintliche Wohlwollen Stalins gegenüber Radek hatte nicht nur schriftliche Proteste Zinov´evs, sondern auch globale Verallgemeinerungen hervorgerufen: "Wir werden das nicht mehr dulden. Wenn es der Partei bestimmt ist, eine (wahrscheinlich sehr kurze) Periode der Selbstherrschaft Stalins durchzumachen, soll es so sein. Aber ich jedenfalls beabsichtige nicht, alle diese Schweinereien zu decken. In allen Plattformen [im Parteichinesisch jener Zeit Deklarationen - Anm. des Übersetzers] wird über eine ´Trojka´ gesprochen, wobei gemeint wird, daß auch ich in ihr nicht der Geringste bin. Tatsächlich aber gibt es überhaupt keine Trojka, sondern eine Diktatur Stalins."[10] Zinov´ev hatte eine richtige Diagnose der Krankheit gestellt, sich aber in der Bewertung ihrer Bedeutung für die Schicksale der Partei und des Landes geirrt - es handelte sich nicht um eine leichte Unpäßlichkeit, sondern um das wuchernde Geschwür der Stalinschen Alleinherrschaft. Von seinem Julierfolg beflügelt, begann Radek Vorbereitungen zum weiteren Angriff. Er wandte sich mehrmals um Unterstützung an Trockij (der sich ebenfalls in Kislovodsk aufhielt, aber mit seinen Kollegen aus dem Politbüro nicht verkehrte), erhielt aber recht ausweichende Antworten. "Ihr Telegramm mit der Frage, welcher Ratschlag der KPD im Zusammenhang mit dem Auftritt am 29. Juli gegeben werden soll, kann ich nicht beantworten, denn ich habe keine Information", schrieb Trockij am 6. August.[11] Dabei drückte er sein Unverständnis darüber aus, wie man die revolutionäre Entwicklung in Deutschland forcieren und zugleich die Rote Armee verringern könne. Den Führern der RKP(B) war es kein Geheimnis, daß die Politik der Begünstigung einer Machtergreifung durch die deutschen Kommunisten einen militärischen Zusammenstoß mit den Ländern der Entente zur Folge haben könnte. Der noch existente Glaube an die proletarische Solidarität nährte abenteuerliche Berechnungen, daß man mit Hilfe eines neuen Krieges eine Weltrevolution entfachen könnte. Obgleich die Hoffnungen auf den sich nähernden "Deutschen Oktober" alle Mitglieder der Leitung der russischen Kommunisten einten, verband jeder diese Hoffnungen mit seinen eigenen Interessen. Trockij fühlte wieder eine Möglichkeit, sich an die Spitze der Kampfeinheiten der kommunistischen Armeen zu stellen. Sein wichtigster Widersacher, Zinov´ev, rechnete mehr mit dem Apparat der Komintern. Dort war Radek der einzige offene Anhänger Trockijs. Die von Zinov´ev Mitte August 1923 vorbereiteten Thesen über die Lage in Deutschland informierten die RKP(B) und die KPD über die Vorbereitung des entscheidenden Machtkampfes in Deutschland. Stalin zog es vor, sich im Schatten zu halten, denn er teilte die Zurückhaltung Radeks. Stalins Berichtigungen von Zinov´evs Thesen betonten das Problem der Machterhaltung und der militärpolitischen Hilfe seitens der Sowjetunion. "Wenn wir den Deutschen helfen wollen - und wir wollen und müssen ihnen helfen - haben wir uns auf einen Krieg vorzubereiten, ernsthaft und vielseitig, denn letzen Endes wird es sich um die Existenz der Sowjetischen Föderation, um die Schicksale der Weltrevolution, in der nächsten Zeit handeln."[12]... Die Logik des Fraktionskampfes im Politbüro hatte zur Folge, daß alle Teilnehmer der Beratung der deutschen Frage in der Sitzung am 21. August versucht hatten, einander in linker Radikalität und Schärfe der Formulierung zu übertreffen. Gemeinsam galt für alle Reden die Anerkennung der Unausweichlichkeit einer militärischen Hilfe für die deutsche Revolution und die Absage an alle möglichen Formen der politischen Zusammenarbeit der Kommunisten und Sozialdemokraten in der Revolution. Gestritten wurde lediglich über eine Frage: die Festlegung eines konkreten Datums des bewaffneten Aufstandes. Auf diese Idee kam Trockij. Aber er blieb allein mit seiner Ansicht. Das Politbüro entschied, eine spezielle Kommission für die operative Kontrolle der Ereignisse in Deutschland einzusetzen, die ein Programm zur Unterstützung der KPD ausarbeiten sollte. In der Presse wurde eine Solidaritätskampagne mit dem deutschen Proletariat entfaltet. In der Roten Armee wurden eiligst Kurse für Deutsch eingerichtet, Generalstabskarten der westlich an die Sowjetunion angrenzenden Territorien gedruckt. Die Zeitgenossen erinnerten sich später an die gehobene Stimmung der Moskauer Jugend - Komsomolzen stürmten die Rajonkomitees mit der Forderung, sie in die Freiwilligenlisten für Deutschland aufzunehmen. Am 13. September beschloß das Politbüro "in kürzester Zeit zehn Millionen Pud Korn nach Deutschland zu überbringen",[13] die eine strategische Reserve für die künftige revolutionäre Regierung bilden sollten. Große Schwierigkeiten gab es mit den Waffentransporten. Das Geld dafür wurde von dem unglaublich aufgeblähten Parteiapparat der KPD aufgefressen.[14] Im persönlichen Archiv Radeks ist der Brief eines Paukov erhalten, mit dem Vorschlag, die Gewehre mit Hilfe sowjetischer U-Boote nach Deutschland zu bringen.[15] Der Verfasser des Briefes wurde in den Großen Marinestab bestellt, wo an seinem Projekt weiter gearbeitet wurde, um es später an Trockij zu leiten; in den Tiefen der Bürokratie ist es verloren gegangen. Es waren nur einige Jahre seit der Machtergreifung der Bolschewiki in Rußland vergangen, aber wie hatten sich die Männer, die sich für die Schöpfer der Oktoberrevolution hielten, verändert! Tage und Wochen vergingen mit verschiedenen Absprachen. Die nach Moskau bestellten Führer der KPD, mit H. Brandler an der Spitze, verbrachten tatenlos die Zeit in Erwartung des Beginnes einer Konferenz der fünf kommunistischen Parteien, deren Einberufung vom Präsidium des EKKI am 28. August 1923 beschlossen wurde. Die Konferenz sollte die Frage, wie die Revolution in Deutschland gemacht werden sollte, klären. Erst am 4. Oktober informierte Zinov´ev die Teilnehmer der Konferenz über den Beschluß des Politbüros, in dem alle offenen Fragen besprochen wurden.[16]... Trockijs Standpunkt hatte die Oberhand gewonnen - die Entscheidung schrieb den deutschen Kommunisten die Beendigung der Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes zum 9. November - dem 5. Jahrestag des Sturzes der Hohenzollern-Monarchie - vor. Als letzter hatte in dieser Frage Karl Radek nachgegeben. Vor der Sitzung des Politbüros schrieb er Trockij, daß er mit der "Festsetzung des Termins der Revolution" einverstanden sei, warnte aber vor blindem Kopieren der Erfahrung der russischen Bolschewiki in Deutschland. Es sei wichtig, den Augenblick zu wählen, "wenn die ungeordnete Bewegung des Proletariats mit dem organisierten Vorgehen der Kampfkräfte der Partei" zusammenfalle,[17] und bis zu diesem Augenblick war es in Deutschland noch sehr weit. Zum zentralen Punkt des Beschlusses vom 4. Oktober war die Entscheidung über die Entsendung eines "Vierergespanns von Genossen" zur operativen Leitung des Aufstands in Deutschland geworden. Augenscheinlich vertrauten die Führer der RKP(B) in einer so verantwortungsvollen Angelegenheit weder ihren deutschen Kollegen, noch dem Generalstab der Weltrevolution, der Komintern. Prinzipiell wichtig war die Frage, wer nach Deutschland geschickt werden sollte. Die deutschen Kommunisten, die Trockij auch weiterhin für den Hauptstrategen des Bürgerkrieges hielten, bestanden auf seiner Kandidatur. Eine gewisse Rolle spielte, daß der Führer der KPD, Brandler, als Anhänger Radeks und somit auch Trockijs galt. Das mußte den Verdacht der Stalin-Zinov´ev-Gruppe stärken. Trockij, der Vorsitzende des Revolutionären Kriegsrates, war eigentlich ohne Befugnisse. Die Verringerung der Roten Armee und die "friedliche Atempause" verdrängten sein Ressort rein objektiv auf den zweiten Platz. Die deutschen Ereignisse versprachen "eine neue Periode von Krieg und Revolutionen". Das bedeutete neue Möglichkeiten für eine andere Konstellation der Kräfte innerhalb des Politbüros. Seine Opponenten verstanden ebenfalls, was für sie das Erscheinen Trockijs in der Uniform eines Oberbefehlshabers der Streitkräfte der Weltrevolution bedeuten könnte. Im Falle eines Sieges würde er wahrscheinlich überhaupt nicht ins ferne Moskau zurückkehren. Von Berlin aus hätte er die Vereinigten Staaten Europas - laut der Komintern-Terminologie das Staatsgebilde der internationalen Diktatur des Proletariats - angeführt. Hatte doch Lenin in einer seiner letzten Arbeiten geschrieben, daß die Bildung sowjetischer Republiken in den entwickelten europäischen Staaten Rußland wieder an die Peripherie des sozialen Fortschrittes drängen würde. Es wäre ebenfalls ein sehr riskanter Schritt, einen von den "eigenen Parteiführern", vom Range Trockijs, nach Deutschland zu entsenden. Es konnte sich nur um Zinov´ev handeln Der Vorsitzende der Komintern hatte weder die nötige Energie noch Selbständigkeit, was für seine Mitstreiter kein Geheimnis war. Das Fiasko einer von Zinov´ev angeführten Revolution in Deutschland wäre ein gewichtiges Argument Trockijs, dessen kritische Bemerkungen in den zwanziger Jahren gegenüber der "Trojka" nicht ohne Schadenfreude waren: Es gelingt euch ja nichts ohne Il´ič und ohne mich. Man kann annehmen, daß die Logik des Fraktionskampfes, potenziert durch die Stalinsche Umsicht, in einer Formulierung vom 4. Oktober ausgedrückt wurde: "Das Politbüro ist der Meinung, daß eine Entsendung der Gen. Trockij und Zinov´ev nach Deutschland in diesem Augenblick absolut unmöglich ist. [...] Eine mögliche Verhaftung der erwähnten Genossen in Deutschland würde der internationalen Politik der UdSSR und der deutschen Revolution einen unermeßlichen Schaden zufügen."[18]... Aber dies war nur ein Teil des Ganzen. Jede Formel vom staatlichen Interesse oder des "Klassenstandpunktes" wurde eigentlich von der Einstellung zum keimenden innenparteilichen Konflikt bedingt. Die Reise des "Vierergespannes" nach Deutschland bestätigt dies wiederum. Stalin und Zinov´ev war es nicht nur gelungen, Trockijs Entsendung zu verhindern, sondern ihn durch die Entsendung seiner nächsten Verbündeten nach Deutschland vor den entscheidenden Zusammenstößen zu isolieren. Die Stelle Radeks im "Vierergespann" war klar und offensichtlich, aber die Benennung des stellvertretenden Vorsitzenden des Obersten Rates der Volkswirtschaft Ju. Pjatakov, der sich bis dahin an den Komintern-Aktivitäten nicht beteiligt hatte, läßt sich nur durch die Fraktionsinteressen der Mehrheit des Politbüros erklären. Aus Berlin teilte er bald darauf seine "Hilflosigkeit" in deutschen Angelegenheiten mit: "Die erste Zeit fühlte ich mich wie ein Fisch auf dem Trockenen."[19] Zur Kontrolle der Tätigkeiten Radeks und Pjatakovs wurde in das "Vierergespann" eine Kreatur Stalins - V. Kujbyšev eingesetzt. Die tieferen Gründe dieser Ernennung waren derart augenscheinlich, daß Zinov´ev gezwungen war, diese Entscheidung rückgängig zu machen[20]š und nach Deutschland fuhr mit ähnlichen Vollmachten V.V. Schmidt, der Volkskommissar für Arbeit. Der letzte im Bunde war der Bevollmächtigte Vertreter der UdSSR in Deutschland, N. N. Krestinskij, der als Anhänger Trockijs ins diplomatische Exil geschickt worden war. Somit befand sich die Leitung des "Deutschen Oktober" in den Händen der engsten Anhänger Trockijs, und das bestimmte das Verhalten der Stalin-Zinov´ev-Gruppe den deutschen Ereignissen gegenüber. Die Treue zu den Idealen der sozialistischen Weltrevolution, zu der alle Führer der Bolschewiki aufriefen, paßte oft nicht zu den Veränderungen des innerparteilichen Lebens. Der vorletzte Punkt der Entscheidung des Politbüros vom 4. Oktober war: Die Frage nach dem Brot für Deutschland wird vertagt. Obwohl den Mitgliedern des "Vierergespanns" verordnet wurde, ihre Aufgaben anderen zu übertragen und sich auf die Fahrt nach Berlin vorzubereiten, fuhren zunächst nur die deutschen Kommunisten. Auf halbem Wege nach Deutschland erfuhr Brandler, daß die KPD am 10. Oktober in die Koalitionsregierung Sachsens eingetreten war, und daß er zum Minister ohne Portefeuille bestimmt war. Die erhaltenen Direktiven forderten von ihm und seinen Kollegen die Nutzung der Regierungsposten zur schnellsten Bewaffnung der proletarischen Hundertschaften. Es begann der entscheidende Abschnitt der Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes, bis zu dessen geplantem Beginn noch ein Monat verblieben war. Die sowjetischen Zeitungen waren in dieser Phase voller Meldungen über die nahende Revolution in Deutschland. Laut der Direktive des ZK der RKP(B) vom 28. August 1923 sollte die Propagandakampagne den Arbeitern und Bauern die Gedanken der Unausweichlichkeit des Zusammenstoßes der Sowjetunion mit den Westmächten nahebringen. Jedoch spiegelten sich andere Ereignisse, die später ernsthafte Folgen für die Schicksale des Bolschewismus hatten, in der Presse nicht wider. Die "Trojka" verstärkte ihren Druck auf Trockij. Er und seine Anhänger wurden aus den leitenden Positionen buchstäblich herausgedrängt. Er verstand, daß man ihn zu einem offenen Konflikt provozierte. Trockij wandte sich daraufhin am 8. Oktober mit einem offenen Brief an das ZK und die Zentrale Kontrollkommission (ZKK) der Partei, in dem er auf die Tatsache der Diskreditierung seiner Kader hinwies und das ganze Parteiregime einer scharfen Kritik unterwarf. Die Bildung einer neuen Opposition war in wenigen Tagen zu erwarten. Am 15. Oktober kam das berühmte Schreiben der 46 Bolschewiki an das Politbüro. Ihre Verfasser unterstrichen, daß "die Wirtschaftskrise in Sowjetrußland und die Krise der Fraktionsdiktatur in der Partei [...] zu schweren Schlägen gegen die Arbeiterdiktatur in Rußland und die Kommunistische Partei Rußlands führen werde. Mit einer solchen Last auf den Schultern wird die Diktatur des Proletariats in Rußland und ihr Hegemon - die RKP - ins Zeitalter der sich nähernden weltumfassenden Erschütterung nicht anders eingehen, als mit der Perspektive auf Mißerfolge auf der ganzen Front des proletarischen Kampfes." [21]... Die Akzente waren somit gesetzt - die Parteiführung stand an der Schwelle der ersten Diskussion über den "Trockijsmus" und die Probleme der Weltrevolution rückten unausweichlich in den Hintergrund. Auch Pjatakov hatte das Schreiben der 46 unterschrieben, und drei Wochen später wurde er dafür von Stalin väterlich gerügt: "Sie sind weggefahren und haben vorher mit Lev Davidovič [Trockij - Anm. des. Übersetzers] das bekannte Dokument ´zusammengebraut´ und wir mußten hier alles wieder einrenken."[22] Radek hatte das Schreiben vom 15. Oktober nicht unterzeichnet, aber auch er hatte mit der Fahrt nach Deutschland keine Eile. Mit seiner zwanzigjährigen Erfahrung von Fraktionsintrigen und ideologischen Auseinandersetzungen verstand Radek sehr gut, daß der Zusammenstoß im Politbüro den Rahmen eines persönlichen Konfliktes überstieg. Vom Ausgang des Konfliktes hing nicht nur das Schicksal Trockijs und seiner Anhänger ab, sondern auch die weitere Entwicklung des bolschewistischen Regimes. Am 16. Oktober schrieb Radek einen Brief an das Politbüro des ZK der RKP(B), der in seiner Schärfe alle anderen Dokumente der Opposition übertraf. "Die Krise der Partei hätte unter anderen Bedingungen keine tödliche Gefahr für die Partei bedeutet, jetzt aber bedeutet sie eine tödliche Niederlage für Sowjetrußland und die deutsche Revolution". Radek forderte vom Politbüro das Verbot der Diskussion und einen Kompromiß mit Trockij. Trockij solle Vorsitzender des Rates der Kriegsindustrie werden. Radek verstand, welchen Grad die gegenseitige Abneigung erreicht hatte, und versuchte, das letzte und überzeugendste Argument auszuspielen: die ihrem Schicksal überlassenen kommunistischen Parteien des Westens. All dies war als Ultimatum formuliert. Das war etwas Unerhörtes in der Praxis der RKP(B), die sich an die Rolle der Nährmutter und Lehrmeisterin der ausländischen Kommunisten gewöhnt hatte. Radek schrieb: "Ich erkläre dem Politbüro: Falls es nicht gelingen sollte, den Zwist auf das Politbüro, schlimmstenfalls auf das ZK zu lokalisieren, falls die Gefahr droht, daß er publik wird, so werde ich mich an die führenden Genossen der westeuropäischen kommunistischen Parteien wenden mit der Forderung ihrer sofortigen Einmischung mit dem Ziel, [...] diesem Irrsinn ein Ende zu bereiten [...]. Falls das russische ZK nicht imstande ist, durch innerparteiliche Disziplin und durch eine Politik der notwendigen Zugeständnisse dem fatalen Konflikt zu entgehen, verzichtet es auf seine führende Rolle in der Komintern. Falls das so ist, haben unsere westeuropäischen Bruderparteien das Recht und die Pflicht, sich einzumischen, ebenso wie die russische Partei sich in ihre Angelegenheiten eingemischt hat. Ich bin überzeugt, daß keines der Mitglieder des ZK mir das Recht absprechen wird, dies zu tun, weil es eine Verneinung der Internationale bedeuten würde." [23] In diesen Worten klang nicht nur politische Berechnung, sondern auch ehrliche Hinwendung zu den Traditionen der internationalen Solidarität, an welche sich die sozialistische Bewegung Europas seit Mitte des vorigen Jahrhunderts gehalten hatte. Aber die bolschewistische Einstellung hatte sich weit von der Ideologie der ersten Internationale entfernt. In den Satzungen der Komintern war die Idee der "Allweltpartei des Proletariats" verankert mit ihrem Recht, sich in die inneren Angelegenheiten jeder einzelnen nationalen Partei einzumischen, aber das war nur zur Hälfte realisiert. Die proletarische Solidarität hatte sich in eine Einbahnstraße verwandelt, auf der aus Moskau gen West und gen Ost die Werte des "Weltbolschewismus" gesandt wurden. Da er keine Antwort auf sein Ultimatum erhielt, begab sich Radek nach Deutschland, um dort auftragsgemäß die Revolution zu organisieren. Am 22. Oktober kam er in Dresden an. Die Tage, die Radek zur Unterstützung Trockijs in Moskau verbracht hatte, wurden zu den letzten Tagen der sozialistischen Minister Sachsens. Die Berliner Regierung befürchtete eine Verbreitung der "Roten Pest" und beschloß, Militär einzusetzen und den Kriegszustand auszurufen. Die Ironie des Schicksals: Für Radek, der mit falschen Papieren kam, war ein Zimmer im besten Hotel Dresdens bestellt, in dem sich auch der Stab des Kommandierenden Generals der Reichswehreinheiten, Müller, befand. Das Pikante der Situation wurde durch die Ankunft der Frau von F. Raskołnikov, Larisa Reissner, gekrönt, die enge Beziehungen zu Radek hatte. Solche Episoden schmücken bis heute die im Westen populären Romane über die "Freibeuter der Weltrevolution". [24] Die nächsten Tage wurden zur Sternstunde der politischen Karriere Radeks. Mit den Vollmachten des russischen Politbüros ausgestattet, fühlte er sich als eigentlicher Führer der Kommunistischen Partei Deutschlands. Nachdem es gelungen war, die Mitglieder des ZK der KPD aus Dresden nach Berlin zu evakuieren und in konspirativen Wohnungen unterzubringen, wurde die technische Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes zur Frage Nummer eins. Am 23. Oktober überwältigten die kommunistischen Gruppen in den Arbeitervierteln Hamburgs einige Polizeireviere, aber sie erhielten keine Unterstützung und zogen sich zurück. Es stellte sich heraus, daß die im Sommer und Herbst 1923 an die Komintern gesandten Berichte über Zehntausende bewaffneter deutscher Proletarier reine Fiktion waren. Obgleich umfangreiche Geldfonds für Waffenkäufe verbraucht waren, wurden nur etwa 1.000 Gewehre gekauft.[25] Der nach dem Vorbild des bolschewistischen Stabs im Oktober 1917 gebildete Kriegsrevolutionsrat der KPD sprach sich trotzdem für einen sofortigen bewaffneten Aufstand aus. Radek kostete es große Mühe, das sinnlose Blutvergießen zu verhindern. Seine regelmäßig an das Politbüro geschickten Berichte sind eine erstrangige Quelle für die Geschichte des "Deutschen Oktober". Sie zeichneten ein sehr trauriges Bild: In der Partei herrschte "vollständiger Wirrwarr", "Mitglieder des ZK liefen wie Schafe herum".[26] Zusammen mit Pjatakov, der ein wenig später in Berlin angekommen war, versuchte Radek eine Art revolutionärer Disziplin einzuführen. Der Komintern-Emissär A. Kleine, der für die Waffenkäufe verantwortlich war und nach Moskau phantasievolle Berichte über die Waffenlager der KPD gesandt hatte, wurde seines Postens enthoben. Die zweite materielle Bedingung des Sieges der deutschen Revolution war vom Standpunkt des Politbüros das "russische Brot". Die 10 Millionen Pud Getreide, die im Septemberbeschluß erwähnt wurden, sollten von der deutschen Arbeiter- und Bauernregierung dazu benutzt werden, um Nahrung an die Notleidenden zu verteilen, und dadurch die breite Masse als Anhänger dieser Regierung zu gewinnen. Ein bedeutender Teil dieses Getreides war schon nach Deutschland gebracht worden, und zu Beginn des Experimentes in Sachsen rechneten die Kommunisten fest damit. Es war jedoch nicht so einfach, dieses Getreide von der russischen Handelsvertretung in Berlin zu erhalten. Unter verschiedenen Vorwänden verweigerte sie die Herausgabe und forderte von den deutschen Vertretern eine schriftliche Bestätigung ihrer Vollmachten. Brandlers Geduld riß, und am 14. Oktober erklärte er dem Mitarbeiter der sowjetischen Handelsvertretung Stomonjakov: "Wir haben auf unsere Anfragen betreffs des Getreides bis auf den heutigen Tag keine Antwort erhalten... Wir fassen Ihr Verhalten als Sabotage der deutschen Revolution auf."[27] Diese Anklagen waren sehr ernst und bewogen Stomonjakov, sich am 17. Oktober mit einer Erklärung an Stalin zu wenden. Kein Zweifel, daß er in Moskau verstanden wurde - die Führer der bolschewistischen Partei hatten keine Eile mit der Vergabe des Getreides, das auch auf deutschem Territorium Sowjeteigentum blieb. Man kann wohl kaum von einer beabsichtigten Sabotage sprechen, aber es ist klar, daß die Unterstützung der KPD begrenzt und dosiert war. Die Interessen der Weltrevolution waren nicht mehr der Motor der bolschewistischen Staatspolitik, obgleich ihr ideologischer Ruf sich auch weiterhin auf die Postulate des proletarischen Internationalismus stützte. Die Unfähigkeit des Politbüros, seine eigenen Entschlüsse über die Unterstützung der deutschen Revolution umzusetzen, äußerte sich auch in der Kaderpolitik. Radek bombardierte Zinov´ev in seinen Berichten mit Bitten, qualifizierte Fachleute für geheime Operationen nach Deutschland zu schicken. Nach seinem Vorschlag sollte der stellvertretende Vorsitzende der GPU I. Unšlicht, der schon im September in Berlin zur Information gewesen war, nach Deutschland kommen. "Jeden Tag der Verzögerung von Unšlichts Reise, ist ein nicht wiedergutzumachendes Übel, denn er hat ja die Vollmachten, Leute aus unseren anderen Auslandsvertretungen zu dieser Arbeit zu schicken". Die sowjetische Residentur in Berlin, zu deren Aufgaben auch die Sicherheit der Mitglieder des Vierergespanns gehörte, demonstrierte "Verantwortungslosigkeit und Lügen", infolgedessen war Radek gezwungen, ohne ihre Hilfe auszukommen und selbständig, alte Parteiverbindungen nutzend, konspirative Wohnungen zu suchen.[28] Schon Mitte November war es klar, daß der günstige Augenblick für einen bewaffneten Angriff verpaßt war, und in der KPD begann die Suche nach Schuldigen. Die linke Opposition konzentrierte sich in der Berliner Organisation der KPD. Solange die Brandler-Parteiführung von Radek, somit vom Vierergespann und vom Moskauer Politbüro bedingungslos unterstützt worden war, hatte die Opposition wenig Chancen. Aber die Frage nach den Schuldigen der Niederlage des "Deutschen Oktober" wurde nicht nur in Berlin gestellt, und am besten verstand der Vorsitzende der Komintern, Zinov´ev, die möglichen Folgen der Antwort auf diese Frage. Für ihn war diese Frage nicht so sehr mit den Schicksalen der Weltrevolution als mit seinem eigenen politischen Schicksal verbunden. Als Damokles-Schwert hing die Anklage des "Kapitulantentums" in den Tagen des russischen Oktobers 1917 über ihm. Zwar blieb für Zinov´ev Trockij der wichtigste politische Opponent, aber gleichzeitig beunruhigte ihn immer mehr der wachsende Einfluß Stalins in der Trojka. Die Eingabe der 46 wurde schon am 25./27. Oktober vom Plenum des ZK und der ZKK, buchstäblich einige Tagen nach der Abreise der zwei "Trotzkisten" nach Deutschland verurteilt. Trockij selbst erkrankte plötzlich und konnte am Plenum nicht teilnehmen, was die Annahme der gegen ihn gerichteten Resolutionen erleichterte. Da Pjatakov in Berlin keine Information über die Beschlüsse des Plenums erhalten hatte, versuchte er, Stalin zu beschwichtigen: "Wenn Sie sich schlagen werden, werfen wir hier die Arbeit hin (es ist keine Drohung, sondern eine Folgerung, weil unter diesen Umständen unsere Arbeit hier sinnlos wird)."[29] Das Ultimatum des Verlierers konnte wohl kaum irgendeinen Einfluß auf die Logik des innerparteilichen Konfliktes haben. Stalin verzerrte die Tatsachen, als er dem Vierergespann am 8. November mitteilte, daß die gemeinsame Arbeit mit Trockij sich allmählich einspielte. Im Kampf um die Macht konnte es keine Kompromisse geben. Nach dem Plenum verlor der Auslandsaufenthalt der Anhänger Trockijs jeglichen Sinn. Im November wandte sich Stalin mehrmals an Pjatakov mit der Bitte, zurückzukehren - "Zur Fortsetzung Ihrer Arbeit in Deutschland verbleiben lediglich Argumente der Ehre." In seinen Briefen deutete er an, daß Pjatakov den Posten des Vorsitzenden des Obersten Rates der Volkswirtschaft erhalten könnte. Am 22. November ernannte das Politbüro Pjatakov zum Vorsitzenden der Verwaltung der Staatsindustrie. Die in Berlin verbliebenen Oppositionellen reagierten nicht auf die verlockenden Vorschläge. Ihnen war klar, daß die ruhmlose Rückkehr von der Hauptkampflinie der Weltrevolution ihnen früher oder später schaden würde. Die Arbeit des Vierergespanns wurde durch interne Zusammenstöße erschwert. Radek und Pjatakov erkannten die Vollmachten von Schmidt, der an Stelle Kujbyševs gekommen war, nicht an, weil sie nicht ohne Grund ahnten, daß er mit besonderen Vollmachten ausgestattet war. Stalin bestand darauf: "Warum vertraut Ihr dem Vas´ka nicht [...]. Ich sehe darin nichts als die Grimasse der Parteiaristokraten."[30] Das Politbüro bestätigte zweimal die Vollmachten des tatenlos in Berlin weilenden Schmidts, bevor er zur Arbeit des Vierergespanns zugelassen wurde. Schmidt richtete seine Berichte lediglich an Stalin und Zinov´ev. Die politische Situation in Deutschland schloß die Möglichkeit eines neuen Vorgehens der Kommunisten aus, und das Vierergespann mußte sich mit innerparteilichen Angelegenheiten begnügen. Das ZK der KPD war auf Parteiverbot und zur illegalen Tätigkeit nicht vorbereitet - "die Parteispitze ist vollständig ratlos, und Arvid [Pjatakovs Pseudonym - A.V.] und ich sind gezwungen, sie buchstäblich mit Kolbenschlägen zur Besinnung zu bringen", schrieb Radek Anfang November nach Moskau. Sowohl ihn als auch die Leiter der KPD beunruhigte die Frage der "Schuld" für die mißlungenen Pläne nicht weniger als Zinov´ev. Brandler abzulösen hätte auch eine Schwächung der eigenen Positionen bedeutet, obgleich es für niemanden ein Geheimnis war, daß "die ganze Spitze" [der KPD - A.V.] ohne Ausnahme nicht an den Sieg des bewaffneten Aufstandes glaubte.[31] Radek suchte den am wenigsten schmerzlichen Ausweg und erklärte, daß im Herbst 1923 der Faschismus die Weimarer Republik besiegt hätte. Dieses Novum wurde vom Plenum des ZK der KPD am 2./3. November 1923 unterstützt. Eigentlich wurde hier ein breites Spektrum antikommunistischer Kräfte - von den Generälen der Reichswehr bis zu den Führern der Sozialdemokratie - als Faschisten bezeichnet. Die KPD hatte daher im Lager der Demokratie keine Verbündeten zu suchen und stattdessen die Losung des bewaffneten Aufstandes zu proklamieren. Der von Radek gefundene Kompromiß erwies sich als sehr schwach. Unter dem Druck aus Moskau und der "linken" Elemente in der KPD hatte er eine "Linkswende" der Komintern begründet und dadurch der Politik der Einheitsfront ein Ende bereitet. Diese Auffassung der Sozialdemokratie als zum faschistischen Lager gehörender Kraft öffnete Tür und Tor für die sektiererischen Einstellungen der späteren Jahre, die ihren Höhepunkt in der Komintern-Theorie vom "Sozial-Faschismus" fanden. Wie seine Anhänger in einem anderen Falle vermerkten, hatte sich Radek verkalkuliert. Sein Konzept bestand im Versuch, seine eigene Idee - die "Arbeitereinheitsfront" - und damit auch seine eigene politische Karriere gegen Angriffe zu verteidigen. Am 18. November erklärte er den Mitgliedern des Politbüros seine Position auf folgende Weise: "Die Liquidierung dieser Taktik in Deutschland ohne Hinweis auf den Sieg des Faschismus in diesem Lande würde eine ´Anerkennung´ der fehlerhaften Politik der Komintern und der KPD in den letzten drei Jahren bedeuten. Das tun die Berliner linken Schwätzer. Sie können zu ihrer Verteidigung sagen, daß sie immer Gegner einer solchen Taktik gewesen sind. Ihr [gemeint sind die Mitglieder des Politbüros - A.V.] könnt es nicht sagen, denn es würde eure Selbstliquidierung als Führer des Weltproletariats bedeuten."[32] Tatsächlich war die Situation ganz anders - Zinov´ev konnte Radek nicht verzeihen, daß dieser gegen seinen Widerstand und mit Hilfe Lenins und Trockijs auf dem 3. Kongreß der Komintern die Bestätigung der Politik der Einheitsfront - verbindlich für alle europäischen kommunistischen Parteien - erreicht hatte. Das Fiasko des "Deutschen Oktober" gab ihm die Möglichkeit, mit Radek abzurechnen und gleichzeitig den Anhängern Trockijs einen Schlag zu versetzen. Die erste Reaktion des Vorsitzenden der Komintern auf die These von der Machtergreifung des Faschismus war lapidar - "Radeks literarische Drehereien".[33] Jedem realistisch denkenden Menschen war klar, daß die demokratischen Institutionen der Weimarer Republik die Herbstkrise 1923 überstanden hatten. Daraus konnten zweierlei Schlüsse gezogen werden - entweder hatte es in Deutschland die von Zinov´ev während seines Kislovodsker Aufenthaltes erblickte revolutionäre Situation überhaupt nicht gegeben, oder diejenigen, die sich im Zentrum der Ereignisse befanden, hatten diese Situation nicht zu nutzen verstanden. Die erste Variante bedeutete tatsächlich die "Selbstliquidierung als Führer des Weltproletariats" (Radek), denn sie stellte die Existenz der Komintern in Frage. Die zweite Variante war nicht nur ungefährlich, sondern konnte auch als effektives Mittel im Kampf des Politbüros gegen Trockij und seine Anhänger benutzt werden. Schon im November, als das Vierergespann noch in Berlin tätig war, begannen Stalin und Zinov´ev mit Vorbereitungen zur Umbesetzung der Führung der KPD. Die dabei benutzten Methoden waren aus dem Arsenal des Fraktionskampfes entlehnt worden. Ohne die Vertrauensfrage für Brandler in den offiziellen Komintern-Organen zu stellen, begann Moskau mit der linken Opposition in der KPD zu liebäugeln. Schon am 9. November versuchte Stalin in einem Brief an Pjatakov vorzufühlen: "Es stellt sich heraus, daß die Linken in vielem recht hatten. Ich denke sogar, daß es sich lohnen würde, Maslov ins Spiel zu bringen." Infolge von Intrigen war Arkadij Maslov aus dem ZK der KPD entfernt worden und befand sich im Ehrenexil in Moskau. Stalins Bitte, "die Linken salonfähig zu machen" und sie zur Parteiführung heranzuziehen, traf auf scharfen Widerstand Radeks und Pjatakovs. "Das ZK durch die ´Linke´ anzuspornen - ist das Schlimmste." Dies werde unausweichlich zur Spaltung der KPD führen. Die Unterstützung der Berliner Linken durch die Moskauer "Trojka" bedeutete nicht nur, daß dem von Brandler angeführten ZK der KPD die Schuld für die mißlungene Revolution zugeschoben wurde, sondern auch, daß Radek und Pjatakov eigentlich desavouiert wurden. Ihnen war klar, daß ihre Abreise eine Anerkennung der Niederlage in Deutschland und eine Kaderreinigung in der KPD bedeuten würde. Aus diesen Gründen beeilten sie sich nicht, nach Moskau zurückzukehren. Das Vierergespann wandte sich an das Politbüro mit der Forderung, "dem besonderen Verhalten Berlin gegenüber, das ein Doppelzentrum schafft" ein Ende zu bereiten. Es erhielt aber keine Antwort. Aus Moskau kam stattdessen eine Flut von Telegrammen, die die sofortige Rückkehr forderten - "wir bitten Sie, alles zu tun, damit das ohne Konflikte geschieht". Erst nachdem Zinov´ev und Stalin am 30. November bestätigten, daß "eure Entscheidungen bis zur Annahme neuer Beschlüsse in Kraft bleiben", begab sich das Vierergespann nach Moskau. Dort wurden die Vorbereitungen zum letzten Akt des politischen Dramas, "der nicht stattgefundene Deutsche Oktober" getroffen. Der vereinsamte Trockij hatte schon im November eine von der Linie der Vertretung der RKP(B) im Exekutivkomitee der Komintern abweichende Deutung der Ereignisse gegeben. Von seinem Standpunkt aus lag die Hauptursache der Niederlage nicht in der falschen Bewertung der Situation (was einen Ablaß für Radek und Zinov´ev bedeutete), sondern in der Schwäche des subjektiven Faktors, d.h. der KPD. Nach der Rückkehr des Vierergespannes hörte Trockij auf, Kompromisse mit der Mehrheit des Politbüros zu suchen und bereitete zusammen mit Pjatakov und Radek ihre Stellungnahme zur fehlgeschlagenen deutschen Revolution vor. Radek versuchte nach seiner Rückkehr aus Berlin einen Präventivschlag zu führen und verbreitete seine Sicht der deutschen Ereignisse. Zinov´ev forderte von ihm eine schriftliche Erklärung im Zusammenhang damit, daß "Sie auf einer Versammlung der Genossen aus der Roten Professur [die am 12. Dezember stattfand - A.V.] eine öffentliche Anklage gegen das Exekutivkomitee der Komintern und die Mehrheit des Politbüros erhoben haben, daß wir mit unserer Politik das ZK der Kommunistischen Partei Deutschlands zerschlagen haben und überhaupt ernsthaft der deutschen Bewegung schadeten, und weiterhin, daß Gen. Warski im Namen der polnischen Partei radikale Veränderungen in der Komintern fordert."[34] Radek hatte offensichtlich sein Ultimatum nicht vergessen und eine gewisse Arbeit unter seinen alten polnischen Genossen geleistet. Das Plenum des ZK der Kommunistischen Partei Polens am 23. Dezember 1923 verurteilte die Versuche, die deutsche Niederlage zur Diskreditierung der Politik der Einheitsfront zu benutzen und unterstrich gleichzeitig: "Wir lassen die Möglichkeit, daß Gen. Trockij außerhalb der Reihen der Führer der RKP und der Komintern gerät, nicht zu."[35] Der Konflikt zwischen Stalin und Zinov´ev einerseits und den Anhängern Trockijs andererseits verstärkte sich wegen der Frage der "rechten Fehler" der KPD-Führung, deren Vertreter - Wilhelm Pieck und Clara Zetkin - sich in Moskau befanden und sogar zur Sitzung des Politbüros am 18. Dezember, in der ein Thesenpapier Zinov´evs, "Die Lehren der deutschen Revolution" behandelt wurde, zugelassen wurden.[36] Sie wurden Zeugen einer erbitterten Diskussion, die sehr wenig an die Behandlung einer Frage im Kreise von politisch Gleichgesinnten erinnerte. Wegen Trockijs Abwesenheit mußte Radek die erste Geige spielen. Als Antwort auf seine Rede erinnerte Stalin an sein Ultimatum vom Oktober: "Sie haben gedroht, die kommunistischen Parteien des Westens gegen die RKP zu mobilisieren. An dem Tage, da Sie das versuchen, fliegen Sie vierkantig aus unserer Delegation in der Komintern."[37]...... Die ausländischen kommunistischen Parteien konnnten sich eine Existenz ohne ideologische und materielle Unterstützung aus Moskau nicht mehr vorstellen. Der reale Mechanismus der Vorbereitungen und Annahme der Politbürobeschüsse blieb für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Ausnahmen ließen sich an den Fingern einer Hand abzählen, und eine davon war die Erörterung der deutschen Frage am 18. Dezember 1923. Die bei dieser Besprechung anwesenden Vertreter der KPD konnten in Radeks Worten einen offenen Protest gegen das sich bildende System heraushören: "Der Standpunkt des Genossen Stalin bedeutet ein Verbot für die Mitglieder der RKP, sich in Existenzfragen der russischen Partei und der Internationale an die Komintern zu wenden. Das bedeutet eine totale Negierung der Grundlagen der Komintern." Danach wurde der Praxis der Teilnahme von Mitgliedern ausländischer kommunistischer Parteien an der Arbeit des Politbüros ein Ende gemacht. Die Mitglieder der "Trojka" begannen mit gesonderten Fraktionssitzungen mit den nach Moskau gekommenen "rechten" und "linken" deutschen Kommunisten. Am 27. Dezember wurde Zinov´evs Thesenpapier für gut befunden. Zu Radek wurde erklärt, daß seine Position "nicht der Meinung des ZK der RKP entspricht."[38] In demselben Beschluß war die Rede von "einer Verständigung mit der Mehrzahl des deutschen ZK auf Grund einer Zusammenarbeit mit den Linken". Das bedeutete die Übergabe der Führung der KPD an die ultralinken Elemente mit Ruth Fischer an der Spitze, und das Ende der "Radek-Periode" in der Geschichte dieser Partei. Die von Trockij geführte Opposition erlitt im Herbst 1923 in der deutschen Frage ihre erste ernste Niederlage. Die meisten Parteimitglieder haben davon nichts erfahren. Am Tage nach der entscheidenden Sitzung des Politbüros legten Radek, Pjatakov und Trockij einen Gegenentwurf der Resolution über die Lehren des "Deutschen Oktober" vor. Am 29. Dezember protestierte Trockij gegen den Druck auf die Mitglieder des ZK der KPD: "Besonders gefährlich scheint mir der ultimative Versuch, die deutsche Partei zur Annahme dieser Resolution des Politbüros, die ohne Teilnahme deutscher Genossen beschlossen wurde, zu zwingen". Das waren lediglich Rückzugskämpfe - Mitte Januar 1924 wurde der Sieg der Stalin- und Zinov´ev-"Trojka" durch einen Beschluß des Plenums des ZK der RKP(B) und des erweiterten Präsidiums des EKKI bestätigt. Diese Ereignisse wurden zu einem Meilenstein in der Geschichte der KPD, aber auch der KP Rußlands. Der Konflikt der persönlichen Ambitionen innerhalb der engen Gruppe der potentiellen Erben Lenins raubte der Partei die Fähigkeit, ihre Kräfte in die entscheidende Richtung zu konzentrieren, was ihr seinerzeit geholfen hatte, den Sieg im Bürgerkriege zu erringen. Der Versuch, diese Erfahrung in Europa, in Deutschland, anzuwenden, war schon deshalb zu einem Fiasko verurteilt, weil dort die objektiven Voraussetzungen der Revolution fehlten. "Hilfeleistungen" in dem Umfang, der von den Oktoberbeschlüssen des Politbüros vorgesehen war, konnten sehr wohl nicht nur zu einer Verschärfung der sowjetisch-deutschen Beziehung, sondern auch zu einem neuen europäischen Kriege führen. Die Ironie der Geschichte war, daß eben dieser innere Konflikt, der die Führung der bolschewistischen Partei lähmte, die Sowjetunion vor neuen riesigen Opfern auf dem Altar der Weltrevolution rettete. Es hat wohl keine bewußte "Sabotage" des "Deutschen Oktober" seitens der Kremlführer gegeben, aber objektiv handelten sie entgegen dem Konzept des entscheidenden Sturmes, das ihnen im Herbst 1917 den Sieg gebracht hatte. Die "Entartung" der bolschewistischen Führung, von der Trockij bald zu sprechen begann, wurde nicht nur und auch nicht allein von dem immer stärker werdenden Staatsinteresse in der Außenpolitik diktiert. Die Parteiführer sahen die Ursachen jeder Niederlage, wie der deutschen von 1923, in inneren Faktoren, bedingt durch verschiedene "Abweichungen". Die These: "der Feind ist unter uns" wurde zum wichtigen Argument, das dem Stalinschen Totalitarismus zum Sieg verhalf. Ohne feste Beziehungen in der Parteispitze, zu der er erst 1917 gestoßen war, verlor Radek nach der deutschen Niederlage seine Positionen. Durch eine Entscheidung des Exekutivkommitees wurde ihm jegliche Teilnahme an deutschen Angelegenheiten verboten. Ihm, dem "letzten Internationalisten", verweigerte man jegliche Auslandsreisen. Sogar sein Arbeitszimmer im Gebäude des EKKI an der Mochovaja konnte er, der ehemalige Sekretär der Komintern, nur mit größter Mühe behalten. Radek bewältigte jeden Tag Stöße von Zeitungen und betrieb politische Publizistik. Der V. Kongreß der Komintern im Sommer 1924 zog den Schlußstrich unter seine Politik der Arbeitereinheitsfront und bestätigte die Ansicht Zinov´evs von der Arbeiter- und Bauernregierung als eines Synonyms der Diktatur des Proletariats. Dennoch war Radek keineswegs verzweifelt. Zusammen mit den in Ungnade gefallenen Führern der KPD, versuchte er aus Moskau Kontakte zu deutschen Funktionären, die mit der Diktatur Ruth Fischers unzufrieden waren, aufzunehmen. Und wieder erwies sich das Schicksal ihm gegenüber ungnädig - seinen politischen Gegnern gelang es, eine Intrige über eine illegale Radek-Brandler-Fraktion zu brauen und deren Verurteilung von der Zentralen Kontrollkommission der RKP(B) zu erreichen. Das Stenogramm der Sitzungen der ZKK vom März 1925[39] ist im Kominternarchiv erhalten. Es zeigt, wieviel Gemeinsames dieses "Parteitribunal" mit den Schauprozessen 1936/38 hatte, deren Akteur Radek noch werden sollte. Schließlich schob man Radek im August 1925 an die Sun-Yat-Sen Universität ab. Hinter diesem wohlklingenden Namen verbarg sich eine Komintern-Schule zur Vorbereitung chinesischer Revolutionäre. "Ich bin vom chinesischen Zöpfchen nicht begeistert",[40] schrieb Radek über seine Ernennung zum Rektor. Er begann dennoch mit der ihm eigenen Energie seine neuen Pflichten zu erfüllen, erlernte die chinesische Sprache und wurde bald zum anerkannten Sachverständigen fernöstlicher Probleme. Neue Hoffnungen für seine politische Karriere schienen Anfang 1926 zu keimen, als nach der Niederlage der Leningrader Opposition auf dem XIV. Parteitag sein wichtigster Opponent - Grigorij Zinov´ev - unter Beschuß geriet. Bis heute sind historische Legenden im Umlauf, nach denen Radek eine Allianz Stalins und Trockijs gegen Kamenev und Zinov´ev geplant habe.[41] Die Realität sah anders aus. Stalin hatte sich an den "Meister der geheimen Aufträge" erinnert und wollte ihn auf seine Seite ziehen. Er teilte Radek mit, er habe seine Rehabilitierung seitens der Führung der KPD erreichen wollen, sei aber erfolglos geblieben. "Vor einigen Tagen traf ich auf einen entscheidenden Widerstand der Delegation. Zwei Gespräche mit ihr ergaben keine positiven Resultate", schrieb Stalin an Radek am 20. Februar 1926. Als der Vorsitzende der Komintern, Zinov´ev davon erfuhr und energischen Protest dagegen erhob, provozierte er damit folgenden Ausspruch Stalins: "Wie es scheint, denkt Genosse Zinov´ev, daß ich ein Attentat auf seine Vorrangstellung des allein Entscheidenden in der Komintern verübt habe. Wie es scheint, hat Genosse Zinov´ev vergessen, daß wir alle gegen jegliche Führung einer einzigen Person und die Alleinanspruch einer Person sind, unabhängig davon, wer es ist..."[42] Das angeführte Zitat ist charakteristisch für Stalins Stil und offenbart die innere Logik seines Verhaltens, bei dem die Taten "präzise bis zum Gegenteil" seinen Worten entsprachen. Stalins Hoffnungen auf Radek hatten sich nicht erfüllt - gleich nach Trockij trat er in die Reihen der "vereinigten Opposition", und war für drei Jahre einer ihrer wichtigsten Publizisten und Sachverständigen für internationale Beziehungen. Radek war gleichwohl einer der ersten "Trotzkisten", der vor Stalin kapitulierte, und für Jahre war er ein getreuer Diener des Diktators, den er als "Baumeister der sozialistischen Gesellschaft" bis zum Tag seiner Verhaftung pries. Der letzte Artikel Radeks erschien in der "Izvestija" am 21. August 1936 und war der Zerschlagung der "Trockij-Zinov´ev-Bande" gewidmet. Stalin konnte kein besseres Werkzeug für die Schauprozesse finden als Radek. Denn Radek belastete in den Verhören viele alte Bolschewiki, die in der Parteihierarchie vor ihm standen. In diesen Strudel geriet auch Bucharin, der Stalin seine Eindrücke über die Konfrontation mit Radek beschrieb: "Und als ich in die trüben umherirrenden Augen Radeks schaute, der mich mit Tränen in den Augen verleumdet hat, erblickte ich die ganze perverse Tiefe der Welt Dostoevskijs, die Tiefe der Niedertracht menschlicher Gemeinheit. Ich bin von der Verleumdung schwer getroffen, bin schon halb tot."[43] Radek gehörte bei dem Schauprozeß zu den wenigen, die nicht zum Tode, sondern zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurden. Nach einigen Jahren wurde er in einem der Stalin-Lager ermordet. Die Umstände seines Todes sind bis jetzt ein Geheimnis geblieben. (Übersetzung: Peter Krupnikow) |
[1] Lenin, Vladimir: Gesammelte Werke
(russisch), Band 26, S. 245. [2] Rossijskij Centr Chranenija i Izučnija Dokumentov Novejšej Istorii, Moskau [weiterhin RCChIDNI. Allrussisches Zentrum für Aufbewahrung und Erforschung der Dokumente der neuesten Geschichte - wurde nach Auflösung der KPdSU auf der Grundlage des Parteiarchivs des Institutes für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU 1991 gegründet, fond [Bestand] (weiterhin f.) 324, opis´ [Verzeichnis] (weiterhin op.) 2, delo [Aktenordner] (weiterhin d.) 5, list [Seite] (weiterhin l.) 1. [3] Ibid. 326/1/47, l. 2-3. [4] Entscheidung des Präsidiums des EKKI vom 5. Juli 1923. - ibid., 495/2/19, l. 91. [5] Ibid. 324/2/71, l. 69. [6] Ibid. 326/2/21, l. 31. [7] Ibid. l. 34. [8] Siehe Zeitschrift Istočnik [Quelle], 1995, Nr. 5, S. 115. [9] RCChIDNI. 324/2/71, l. 26-28. [10] Ibid., l. 19-20. [11] Ibid. 326/2/21, l. 30. [12] Istočnik, S. 118. [13] Ibid. S. 129. [14] Anfang November 1923 berichtete Radek aus Berlin an das Politbüro: "Auf der Sitzung des ZK stellte sich heraus, daß die Mittel für den bewaffneten Aufstand nur zur Hälfte verbraucht wurden, aber 3/4 dieser Summe wurden nicht bestimmungsgemäß verbraucht, sondern zum Unterhalt der Organisation, die fast gar keine regulären Mittel erhalten hatte", - RCChIDNI. 326/2/21, l. 91. [15] Ibid. 326/2/49, l. 124-125. [16] Istočnik, S. 138. [17] Radeks Brief an Trockij vom 1. Oktober 1923 - RCChIDNI. 326/2/1, l. 153. [18] Siehe Zeitschrift Istočnik, 1995, Nr. 5, S. 138. [19] Pjatakovs Brief an Stalin vom 1. November 1923. - Bolševistskoe rukovodstvo. Perepiska. 1912-1927. Moskau 1996, S. 279. [20] Notiz Zinov´evs vom 24. Oktober 1923: "Die Entsendung Kujbyevs in die Berliner Trojka war ein Fehler. Das ist eine besonders verantwortungsvolle Angelegenheit. Der Friede mit den Berlinern muß unbedingt erhalten bleiben" - RCChIDNI. 326/2/21, l. 43. [21] Zitiert nach: Kommunistčieskaja oppozicija v SSSR 1923-1927. Band 1, London 1988, S. 85. [22] Stalins Brief an Pjatakov nach Berlin vom 8. November 1923. - RCChIDNI. 326/2/21, l. 141. [23] Ibid. 326/2/1, l. 159. [24] Der Roman des deutschen Schriftstellers Stefan Heym (1994), Karl Radek, ist das neueste Beispiel einer literarischen Verarbeitung der Biographie von Karl Radek. [25] RCChIDNI, 326/2/21, l. 71. [26] Ibid. [27] Ibid., l. 39. [28] Ibid., l. 161. [29] Bolševistskoe rukovodstvo..., S. 281. [30] RCChIDNi, 326/2/21, l. 142. [31] Aus dem 4. Bericht Radeks im Politbüro. Ibid., l. 82-83. [32] Ibid., l. 128. [33] Ibid., l. 44-47. [34] Ibid., 324/1/553, l. 18. [35] Zit. nach: Firsov, F.: K voprosu o taktike edinogo fronta v 1921-1924 gg. [Zur Frage der Einheitsfront in den Jahren 1921-1924] - Voprosy istorii KPSS [Fragen der Geschichte der KPdSU], 1987, Nr. 12, S. 122-123. [36] Am 18. Dezember 1923 wandte sich Clara Zetkin mit einer diesbezüglichen Bitte an den Vorsitzenden des EKKI und vermerkte dabei, daß Stalin zehn Tage vorher nichts gegen die Anwesenheit der Mitglieder des ZK der KPD bei der Erörterung der deutschen Frage im Politbüro hatte. - RCChIDNI, 324/1/553, l. 237. [37] Zit. nach Brief Radeks an Zinov´ev vom 18. Dezember 1923. Ibid., l. 238. Entsprechend den Satzungen der Komintern, als einer "weltumspannenden Partei des revolutionären Proletariats" war in ihrem Exekutivkomitee die Bildung von Delegationen einzelner Parteien nicht zugelassen, was mit einem besonderen Entschluß des IV. Kongresses der Komintern 1922 von neuem bestätigt wurde. Eine Delegation der bolschewistischen Partei in dem EKKI existierte trotzdem und entschied sogar über die Politik der Komintern bis Ende der zwanziger Jahre, als Stalin die Entscheidungsmacht persönlich übernahm Ausführlicher: Entsprechend den Satzungen der Komintern, als einer "weltumspannenden Partei des revolutionären Proletariats" war in ihrem Exekutivkomitee die Bildung von Delegationen einzelner Parteien nicht zugelassen, was mit einem besonderen Entschluß des IV. Kongresses der Vatlin, A.: Komintern: pervye desjat´let. Istoričeskie očerki [Komintern: die ersten zehn Jahre. Historische Skizzen]. Moskau 1993, S. 119-141. [38] Siehe: KPSS v rezoljucijach i reenijach sjezdov, konferencij i plenumov CK, Moskau 1953, Teil I, S. 770. [39] Das erste Tribunal. Das Moskauer Parteiverfahren gegen Brandler, Thalheimer und Radek. Mainz 1993. [40] 324/1/553, l. 23. [41] Tuck, J.: Engine of Mischief. N. Analytical Biography of Karl Radek. N.Y., London 1988, p. 90. [42] RCChIDNI, 324/2/67, l. 140. [43] Ibid. 329/2/6, l. 116-117. |