Vladimir S. Semenov über Stalin

Vorwort

Die Zeitschrift Forum wendet sich wieder den Tagebuchaufzeichnungen von Vladimir Semenovič Semenov (1911-1992), stellvertretender Außenminister der UdSSR und ehemaliger sowjetischer Botschafter in Deutschland, zu (siehe Forum 2/2004).

Semenovs Tagebücher sind umfangreich und vielschichtig, darin kommen zahlreiche Namen vor. Aber am häufigsten erwähnt er Stalin. Das ist begreiflich. Stalin als Persönlichkeit interessierte Semenov schon immer, seine Beschäftigung mit dieser Figur ist um so logischer, als er auch selber ein Mensch der Stalinschen Epoche war. Diese Zeit formte ihn, er hatte hohe Posten in der Stalinschen Nomenklatura inne und stand unter dem unmittelbaren Einfluß der Menschen aus Stalins „engem Kreis“.

In Semenovs Aufzeichnungen überwiegt der außenpolitische Aspekt von Stalins Tätigkeit. Wiederum begreiflich: Mehr als ein halbes Jahrhundert lang leitete Semenov die sowjetische Außenpolitik mit.

Er sprach mehrmals mit Stalin persönlich, am häufigsten in Anwesenheit der führenden DDR-Politiker Pieck, Grotewohl und Ulbricht. Diese Begegnungen sind in den Tagebüchern wiederholt beschrieben. So verflicht sich das Thema Stalin, das sich als roter Faden durch Semenovs sämtliche Tagebuchaufzeichnungen zieht, mit dem anderen Hauptthema, dem deutschen.

Doch die Achtung vor Stalin steigerte sich bei Semenov nicht zur „Vergötterung des Führers“. So war Semenov über den Namen Stalinallee sehr verstimmt, er verstand die ganze Absurdität einer solchen Benennung, versuchte, den Deutschen zu beweisen, daß Stalin kein Präzedenzfall in Deutschlands Geschichte sei und es besser wäre, die Hauptstraße von Ostberlin nach Goethe oder Schiller zu benennen. Aber die Deutschen waren, wie Semenov schreibt, „darauf fixiert“.

In den Zeiten von Chruščev und Brežnev gab es in der UdSSR praktisch keine analytischen Arbeiten über Stalin (wir sehen hier von „Samizdat“-und von Exil-Ausgaben ab). In der UdSSR wurde das Thema Stalin und Stalinismus immer konjukturabhängig, in Übereinstimmung mit den „Schwankungen der Generallinie der Partei“, beleuchtet. Um so wertvoller waren mündliche (teils wahrheitsgetreue, teils halb legendäre) Erzählungen über Stalin. Sie stammten von Menschen, die Stalin persönlich kannten. Semenov sammelte diese Sagen und trug sie, stets unter Hinweis darauf, was konkret und von wem er gehört hatte, in sein Tagebuch ein.

Dennoch schuf Semenov kein politisches Porträt Stalins, er entwarf nur einige Skizzen dazu.

In Semenovs Tagebüchern findet man keinen Stalin als Tyrann und Despot, ebenso wie auch beinahe keine Hinweise auf Stalin als Initiator und Leiter der Massenrepressalien (mit Ausnahme des Themas der Repressalien gegen Parteikader und Kommandeure der Roten Armee). Warum? Weil das die Denkweise vieler der politischen Macht nahestehender Sowjetmenschen der Stalin-Zeit war. Wenn sie Stalin kritisierten oder seine Vorzüge hervorhoben, wurde dabei der Stalinismus als System, als Grundlage der Sowjetmacht von Stalin bis Gorbačev, nicht kritisiert. Sie lebten eben innerhalb dieses Systems. Das Gesagte trifft voll und ganz auch auf Semenov zu: Er war ein Mensch dieses Systems und konnte nicht aus ihm heraus (wollte es auch nicht).

Boris Chavkin,
Elena Semenova


Aus Tagebuchaufzeichnungen verschiedener Jahre

Ohne Datum

Ich kann niemanden kränken oder zu kränken fürchten, was andere Memoirenschreiber fürchteten. Ich kann die Dinge beim Namen nennen, ob es nun jemandem gefällt oder nicht. Ich kann von Stalin das sagen, was ich weiß und wie ich darüber denke, aber es geht nicht um Stalin oder seine „Umgebung“, es geht um eine Epoche, eine Zeit, um das niedrige Ausgangsniveau und einen hohen Aufstieg. Heute aber haben wir eine andere Höhe erstiegen, und wir dürfen und können nicht absteigen. Unverfälscht zu urteilen: Das ist das einzig Richtige und Nötige.

10. Mai 1964

Vor einigen Tagen hörte ich bei einem Empfang ein Gespräch von Militärs (Malinovskij,[1] Birjuzov)[2] und ZK-Leuten (Mikojan oder Podgornyj),[3] das sich um Stalin und Deutschland drehte. Die Militärs kritisierten die Tatsache, daß im Gebiet Kaliningrad die Entwässerungssysteme zerstört waren. „Ihr selbst habt sie so zerstört, daß sie seitdem nicht wiederhergestellt sind“, entgegnete Mikojan. – „Nein, Stalin zerstörte sie bewußt. Er glaubte nicht, daß wir in Deutschland bleiben, und fürchtete, daß sich all das wieder gegen uns kehren wird.“ – „Ja, sonst kann man nicht verstehen, warum zerstört wurde.“ – „Er glaubte – und glaubte wieder nicht. Er hatte zwei Grundideen. Selbst wenn wir uns in Deutschland nicht hätten halten können, wäre das trotzdem der größte Sieg Rußlands gewesen. Versteht ihr? Aber nicht für die Kommunisten.“

31. Mai 1964

Gestern habe ich erstmals erfahren, daß Molotov gegen die Ausdehnung der Verpflichtungen aus dem Warschauer Vertrag auf die DDR (und Albanien) war. Auch hierin sekundierte er Stalin, der die DDR als umkämpftes Objekt benutzen wollte, jedoch nicht sicher war, diese Position halten zu können. Folglich verfolgte Berija dieselbe Linie, nur daß er sie im Sommer 1953 forcieren wollte – und gerade dabei ein Fiasko erlitt. Hier war bereits der Kampf Chruščevs gegen die Hinterlassenschaft Stalins und seinen Jago im Gange. Freilich stand Molotov in diesem Kampf auf seiten Chruščevs, sammelte fieberhaft Argumente zur Unterstützung der DDR und richtete meine schriftlichen Berichte an die Mitglieder des Politbüros mit der Darlegung der Argumentation. Für mich aber war das eine Lebensfrage, weil ich damals auf diesem Arbeitsfeld beinahe zugrunde gegangen wäre.

12. Oktober 1964

Gestern unterhielt ich mich auf dem Flugplatz mit der Vorsitzenden der Revisionskommission des ZK Androvskaja. Sie sprach von Stalins Grausamkeiten, ging jedoch sofort zu Berija über. „Ivan der Schreckliche (lies: Stalin) war grausam, wußte jedoch, was er wollte. Dieser dagegen (Berija) war einfach rasend und vernichtete selbst Aufräumefrauen und Fahrer, die ihn bedienten und etwas von den Zuständen bei ihm wußten. Mit Berija fing alles an, er war es, der Stalin darauf einstimmte.“ Ich erzählte davon, wie Stalin in den letzten Jahren ein Attentat gefürchtet, sich verborgen, jede Nacht seinen Schlafort gewechselt hatte und auf einem Sofa im Billardzimmer gestorben war. „Ja, eine richtige Krankheit“, bemerkte Androvskaja, „dabei hatte er keinen Grund zum Fürchten. In den USA wurde ein Präsident, der seiner Klasse nicht mehr paßte, beseitigt, aber bei uns war das irgendwie nicht üblich. In letzter Zeit fühlten und sahen das alle, auch ins Volk drang das ein, schon gab es Gerede. Niemand entschloß sich jedoch dazu, Konsequenzen zu ziehen.“

15. Mai 1965

Am 7.-12. Mai in der DDR gewesen, als Mitglied einer Partei- und Regierungsdelegation mit A.N. Kosygin an der Spitze. Im Zug lernte ich den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets Weißrußlands V.I. Kozlov, einen Organisator des Partisanenkrieges im Hinterland der Deutschen, besser kennen. Er erzählte über zwei Begegnungen mit Stalin während des Krieges. „Er sagte mir, daß die Militärs vorschlagen, die Partisanen mit Panzern, Artillerie u. a. auszustatten. Aber die zögen die Natur des Partisanenkrieges nicht in Betracht, sagte er, sie hätten euch nur an eine Gegend gebunden. Dabei bestehe das ganze Wesen der Partisanen darin, Schwachpunkte zu überfallen, sich schnell zurückzuziehen und unerreichbar zu sein. Stalin habe dazu geraten, leichte Waffen, Granaten u. a. zu nehmen. Kurzum, er habe sich mit der Sache persönlich und detailliert beschäftigt und sei keineswegs ein Instrument in den Händen von „Fachleuten“ gewesen. „Chruščev aber hielt sich im Schatten und hatte Angst vor Stalin.“

20. August 1965

Heute beim Empfang im Kreml ein unerwartet interessantes Gespräch mit K.E. Vorošilov. Ich bemerkte, daß ich V.M.[4] lange Zeit nicht gesehen hatte. Darauf er: „Auch ich habe ihn seit langem nicht gesehen. Die sind sämtlich mürbe geworden.“ Ich sagte, daß ich ihn trotz allem nach wie vor achtete. „Ja, er ist eine bedeutende Figur. Obwohl er mit Stalin nicht gut umgegangen ist.“

„Sehen Sie, Stalin war ein sehr origineller Charakter. Er gewöhnte sich an Menschen und glaubte ihnen, wenn er ihnen einmal geglaubt hatte. V.M. aber reiste nach Berlin nach dem Abschluß des Vertrages mit den Deutschen[5], führte dort gute Verhandlungen durch und erzählte Stalin viel davon, wie er dort empfangen wurde, und zwar wurde er gut empfangen. Und Stalin glaubte den Deutschen. Als Churchill sein erstes Telegramm schickte, daß Hitler einen Überfall auf uns vorbereite, glaubte Stalin ihm nicht. Er stieß einen unflätigen Fluch aus (er gebrauchte gern solche Flüche!) und sagte, dieser alte Teufel sei ein Intrigant. Dann erhielt Stalin ein weiteres Telegramm von Churchill, vom selben Inhalt. Er trat auf mich zu und sagte: ‚Wieder schwätzt dein alter Freund, daß die Deutschen uns überfallen werden.’ Und beschimpfte Churchill wieder. Ich sagte: ‚Er ist mein Freund im selben Maße wie auch deiner. Warum denkst du aber, daß sie uns nicht überfallen werden?’ Wir fuhren in einem Wagen. Stalin verneinte die Möglichkeit und berief sich auf den Vertrag, an den er glaubte. Und am nächsten Morgen überfielen uns die Deutschen, und Churchill hatte recht gehabt. Er hatte uns warnen wollen, später hatte er sehr gute Beziehungen zu Stalin. Stalin war dermaßen niedergeschlagen, daß er bettlägerig wurde und fünf Tage lang nicht einmal aufstehen konnte. So stark wirkte auf ihn der Treubruch der Deutschen; wir hätten so etwas nie getan: Einen Vertrag schon einige wenige Monate nach der Unterzeichnung verletzen! Das ist niederträchtig. Erst allmählich faßte sich Stalin wieder und verließ das Bett. Und zu dieser Zeit redete V.M. davon, daß man Stalin fortjagen müsse, er könne die Partei und das Land nicht leiten. Wir versuchten ihm zu erklären, daß Stalin nun einmal vertrauensselig sei, daß er eben einen solchen Charakter habe. Doch Molotov wollte von all dem nichts hören, er verstand Stalins Besonderheiten nicht, usw.“

Dann blickte Vorošilov mich an, als wollte er mir ins Herz sehen: „Glauben Sie, daß Stalin gegenüber richtig gehandelt wurde? Nach seinem Tod?“

Ich antwortete, von Anfang an und bis jetzt denke ich, daß falsch gehandelt wurde, obwohl ich die Sache von einem anderen Standpunkt aus sehe: Man darf nicht die Partei bloßstellen und die Jugend verwirren.

„Ganz falsch wurde gehandelt“, sagte Vorošilov erregt. „Weil die Führung der Partei dreißig Jahre lang in seinen Händen lag. 30 Jahre lang führte er sie ohne Lenin auf dem Leninschen Weg. Und es wurde ein anderes Land aufgebaut. Man muß verstehen, daß die Situation damals ganz anders war als jetzt: Es gab viele niederträchtige Menschen vom Schlage eines Trockij, und auch in der Regierung herrschte keine Einheit. Viele wollten Stalins Führung nicht anerkennen. Was blieb ihm da übrig?! Denn wenn man zusammenzählt, wie viele Menschen er und wie viele dieser... (er wollte nicht einmal den Namen Chruščevs in den Mund nehmen) verhaftet hat, ergibt sich, glaube ich, keine große Differenz [sic!]. Zudem war das Land damals anders.“

Ich bemerkte, daß Stalin bei Repressalien Fehler gemacht habe.

„Denken Sie, andere machen keine Fehler? Alle machen Fehler, Menschen ohne Fehler gibt es nicht. Das sind alles Märchen. Man muß das Leben sehen, wie es ist.“

Ohne Datum

Einige Beobachter kommen zu dem Schluß, daß Stalin nicht nur die Beseitigung einiger Parteiführer a, die als konservative Dogmatiker galten, sondern auch eine Reform der ganzen Partei geplant habe. Er suchte Feinde nicht dort, wo sie wirklich waren (Leningrader Affäre, Fall der Ärzte). Und man kann nicht verstehen, ob er diese Wege selbständig ging oder wegen seines Gesundheitszustands und seines Alters nicht zu sehen vermochte, was sich ringsum unter dem Spinngewebe des „Tauwetters“ alles abspielte.

Zu dieser Zeit herrschte zwischen Stalin und Berija ein sehr gespanntes Verhältnis. „Nimm deine Schlangenbrille von deinen Schlangenaugen ab“, pflegte ihm Stalin zu sagen. Offenbar war er aber noch nicht reif zur offenen endgültigen Lösung oder nicht imstande, dem Kreis Berija – Malenkov entgegenzutreten, obwohl diese Leute gegen Stalins Vorhaben handelten. Auf diese Weise kam es meines Ermessens auch zur sogenannten „Leningrader Affäre“. Nach dem Krieg beauftragte Stalin einen der führenden Sekretäre des ZK der KPdSU(B), A.N. Kuznecov, der während des ganzen Krieges Sekretär des Leningrader Stadtparteikomitees gewesen war, mit der Aufsicht über die Arbeit des Ministerrates der UdSSR und der Staatssicherheitsorgane.

A.N. Kuznecov, ein junger und resoluter, kühner Mensch, unternahm eine längere und tiefgreifende Überprüfung der Tätigkeit des Ministerrates und des KGB. Er stellte sehr große Mängel in ihrer Arbeit fest und kritisierte sie in seinen Berichten auf Versammlungen des Parteiaktivs beider Institutionen sehr scharf.

Malenkov (stellv. Vorsitzender des Ministerrates) und Berija (der im Auftrag des Politbüros die Arbeit der Staatssicherheitsorgane beaufsichtigte) befürchteten, daß A. Kuznecov ein möglicher Nachfolger Stalins sei, der ihn offensichtlich begünstigte. So beschlossen sie, Kuznecov und seine Mitstreiter aus dem Wege zu räumen. Nach und nach schleusten sie Materialien gegen Kuznecov ein, stießen jedoch auf Stalins Abfuhr und handelten darauf auf Umwegen. Es wurde der dritte Sekretär des Stadtparteikomitees Pastuchov verhaftet, der eine Zeitlang unserer Handelsvertretung in London vorstand. Nach einer zehnmonatigen Ermittlung unter Anwendung physischer Methoden gestand Pastuchov ein, angeblich in London von den Organen von Intelligence Service angeworben worden zu sein und in dieser Richtung in Leningrad gearbeitet zu haben.

Dann kam die Reihe an den Ersten Sekretär Popkov. Über die Materialien der „Leningrader Affäre“ wurde Stalin (und, soweit ich annehmen kann, auch Molotov) berichtet. Stalin lehnte zuerst die Argumente gegen Kuznecov ab, gab dann doch nach. Nach Kuznecovs Verhaftung fiel N.A. Voznesenskij, während des Krieges Vorsitzender des Staatlichen Plankomitees der UdSSR, in Ungnade. Ich kannte Voznesenskij von vielen Sitzungen des Politbüros her. Als ich einmal aus einem Aufgang des ZK auf der Staraja Ploščad’ trat, begegnete ich N.A. Voznesenskij, der es offensichtlich eilig hatte. „Wie geht es dir“, fragte ich ihn; ich wußte, daß er aus der Partei ausgeschlossen wurde. „Es wird schon gehen“, antwortete Voznesenskij lachend. Aber am Tag darauf wurde er verhaftet und dann im Zusammenhang mit der „Leningrader Affäre“ erschossen. Soweit ich urteilen kann, waren auch A.A. Ždanovs Erkrankung und sein Tod an einem asthmatischen Anfall auf der Regierungsdatscha in Valdaj auf irgendeine Weise mit dem „Leningrader Fall“ verknotet.

Wie dem auch sei, die heimtückische Rolle von Berija und Malenkov bei dieser Angelegenheit war Gegenstand von N.S. Chruščevs Bericht auf einem ZK-Plenum nach Stalins Tod. Mir sind die Konfigurationen der Beziehungen innerhalb der Führung des ZK der KPdSU(B) in diesen Angelegenheiten von 1952 und die Motive von Stalins zornigen Verweisen an die Adresse des KGB [so im Text] auf der Datscha im Oktober 1952 nicht klar.

15. November 1965

Heute habe ich mit einer Gruppe von Genossen aus dem ZK in der ehemaligen nahen Datscha von Stalin gearbeitet. Ich war dort 1952 bei der Erörterung der Frage nach den KGB-Organen in Deutschland gewesen. Nicht ohne innere Bewegung besichtigte ich das Haus, das I.V. von 1932 bis 1953 bewohnt hatte, das Sofa, auf dem er gestorben, und das Schlafzimmer, in dem er, bewußtlos auf einem Teppich liegend, entdeckt worden war. [...] Das Schlafzimmer stößt an den großen Sitzungssaal, in dem er sich mit den Mitgliedern des Politbüros u. a. oft aufgehalten hatte. Alles ist sehr eigenartig und streng. „Es bleibt ein Tempel, wenn auch zerstört, ein Tempel“.

Ohne Datum

Im Oktober 1952 hatte ich zum ersten und einzigen Mal eine Begegnung mit I.V. Stalin in seiner nahen Datscha... Eine Begegnung „tête-à-tête“ im Beisein der führenden Mitglieder des Politbüros des ZK. Stalin empfing mich am Eingang und wies mir am Eßtisch in der Veranda einen Platz rechts von ihm an. „Ich weiß, Sie trinken keine Spirituosen, das hier ist ein symbolisches Gläschen Kognak. Wie ich weiß, sind Sie ein Arbeitersohn, ich verfolge aufmerksam Ihre Arbeit. Wie entwickelt sich die theoretische Arbeit in Deutschland? Gibt es interessante Äußerungen?“ Ich bestätigte, daß theoretische Forschungen in der deutschen kommunistischen Partei praktisch fehlten, Stalin setzte, ab und zu am georgischen Wein „Chvančkara“ nippend, fort: „Leider ist dieses Interesse mit dem letzten der Mohikaner, Singer, erloschen“ (es gelang mir später nicht zu eruieren, wer Singer gewesen war und womit er sich in der Theorie befaßt hatte). „Das ist ein großes Minus: Ohne die Entwicklung der Theorie können viele Fehler begangen werden. Im Grunde verlor die deutsche Partei nach Engels gerade deshalb ihre führende Stellung in der internationalen Arbeiterbewegung und im Befreiungskampf. Auch bei uns ist es schlecht darum bestellt, alles läuft auf das Kommentieren der laufenden Beschlüsse hinaus. Zur Entwicklung der Theorie ist es nötig, die Rolle der Arbeiterklasse und das Leben der gesamten Gesellschaft zu verstehen. Vorläufig aber ist unsere neue, sowjetische Intelligenz, darunter auch solche, die aus der Arbeiterklasse stammt, mit dem Aufbau der neuen Gesellschaft, mit Lenins Ideenreichtum beschäftigt. Doch das Leben geht weiter, erfordert neue verallgemeinernde Schlüsse und Einstellungen, und dabei ist man hauptsächlich darauf angewiesen, was uns Lenin hinterlassen hat. Es besteht die Gefahr, hinter dem Lauf des Lebens zurückzubleiben.“

Dann ging Stalin zu meinem persönlichen Brief über die Schwächen und Mängel W. Ulbrichts über. Offensichtlich als Reaktion auf meinen Brief an ihn über Ulbrichts nationalistische und sonstige Überspitzungen sagte Stalin, Theorie sei nie Ulbrichts Stärke gewesen, und ich solle ihm darin helfen. „Haben Sie bemerkt: Wenn Ulbricht seine Fäuste auf den Tisch legt, sind seine Fäuste größer als sein Kopf? Aber er ist ein uns ergebener Kommunist, daran besteht kein Zweifel. Er ist ein Freund der Sowjetunion, und es gibt keinen Grund, ihn verschiedener Dinge zu verdächtigen. Es ist Ihre Sache, ihm zu helfen.“

Wie auch sonst, sagte ich kein Wort, habe jedoch diesen Rat Stalins beherzigt.

Stalin interessierte sich für innere und äußere Aspekte des deutschen Lebens, offenbar verfolgte er große Ereignisse aufmerksam. Besonders interessierte ihn die Reaktion auf die bekannte Note der Sowjetunion vom 10. März 1952 über Deutschland als einheitlicher, friedliebender, demokratischer Staat, über die Durchführung freier gesamtdeutscher Wahlen und den sechs Monate danach zu erfolgenden Abzug der ausländischen Truppen.

Dann fragte Stalin unerwartet, wie die Organe der Staatssicherheit in Ostdeutschland arbeiteten. „Darüber kann ich nichts berichten. Sie handeln für sich, unmittelbar nach den Anweisungen ihrer Leitung in Moskau, und haben keine Verbindung mit der SKK[6].“ – „Ist das denn normal?“ – „Natürlich nicht. Uns ist die Okkupationsmacht in der Zone anvertraut, dieser Teil der Arbeit ist aber von uns abgekapselt.“[7] – „Warum haben Sie denn nicht protestiert, keine Verbesserung gefordert?“ fragte Stalin zornig. – „Die Zustände haben sich schon seit dem Kriegsende eingebürgert, aber wir ließen keine Einmischung der KGB-Organe [so im Text] in die große Politik zu.“ Stalin kritisierte den KGB nun im allgemeinen. Berija war bei der Unterhaltung anwesend, ließ jedoch kein Wort fallen.

Stalin fuhr fort, den KGB schon als Ganzes zu kritisieren. „Das ist Unfug“, sagte er. „Die Organe haben die revolutionäre Wachsamkeit verloren, haben aufgehört, das zu sein, was sie zu sein haben.“ Hierbei sah Stalin Berija an, der in seiner altmodischen Brille mit konvexen Gläsern dreinschaute und auf Stalins Worte in keiner Weise reagierte.

Am nächsten Tag fand um 14.00 Uhr eine Sitzung des Politbüros statt, zu der Marschall V.I. Čujkov, Vorsitzender der SKK, bestellt wurde; deswegen mußte er seinen Urlaub auf der Krim unterbrechen. Er saß am Tisch der Mitglieder des Politbüros, ich, wie gewöhnlich, auf einem der Seitenstühle. Stalin stellte ihm dieselbe Frage wie auch mir am Vortag: über die Arbeit der KGB-Organe in Deutschland. „Darüber kann ich nichts berichten“, antwortete der Marschall. – „Wieso denn?“ Čujkov wiederholte beinahe wortwörtlich das, was ich Stalin auf der Datscha gesagt hatte (er und ich besprachen wiederholt diesen Punkt unter uns und hatten eine gemeinsame Meinung). – „Und Ihre Meinung, Genosse Semenov?“ wandte sich Stalin an mich, ohne den Blick von mir abzuwenden. Er stand mit breit gespreizten Beinen da. – „Ich habe Ihnen meine Meinung gestern mitgeteilt, Genosse Stalin.“ – „Ja, gestern, gestern, aber seitdem ist ja eine Nacht vergangen“, sagte Stalin. Ich schwieg beschämt, denn der Vorwurf war gerecht. Stalin hatte offenbar auch in der Nacht an die Sache gedacht, ich dagegen wie ein Murmeltier geschlafen.

Irgendwo las ich, daß Stalin damals mit Berija auf sehr gespanntem Fuß stand. „Nimm deine Schlangenbrille von deinen Schlangenaugen ab“, sagte Stalin [siehe oben]. Aber offenbar war eine offene Entscheidung in ihm noch nicht reif, oder er war nicht imstande, dem Kreis um Berija und Malenkov entgegenzutreten. Diese organisierten die „Leningrader Affäre“ und beseitigten A.N. Kuznecov, den Stalin als seinen Nachfolger betrachtete.

20. November 1965

In ihren Memoiren streiten sich Militärs wütend um Stalins Rolle im Krieg. Rokossovskij, Štemenko und selbst Žukov veröffentlichten Erinnerungen, die für Stalin günstig sind. Andere schrieben früher das Gegenteil, sich Chruščevs Stil anpassend. Ein ebensolcher Kampf ist unter Politikern im Gange, wobei viele junge Menschen unter ihnen „zwecks Prophylaxe“, als Warnung vor einer abermaligen Tragödie von 1937, verzweifelt gegen die Rehabilitierung auch nur von Stalins Namen kämpfen. Es werden gewiß Argumente und Fakten angeführt, gegen die ich nichts einzuwenden habe. Alles in allem stand ich in jenen Jahren viel zu weitab vom Mittelpunkt der Ereignisse und kann mir deswegen kein halbwegs bestimmtes Urteil darüber bilden.

27. März 1967

Am Sonntag sprach ich mit Gesundheitsminister B.V. Petrovskij, dem wir bei unserem Familienspaziergang begegneten und den wir zu uns einluden. Er ist ein sehr netter und intelligenter Mensch, der alle führenden Politiker aus der Nähe kannte. Von Stalin sprach er als von einem höchst bedeutenden Menschen, sagte jedoch, in den letzten Jahren sei er ganz krank gewesen, habe eine Hirnblutung gehabt und eine Zeitlang einen Arm in der Binde tragen müssen. Dann habe man das schnell überwunden, aber er sei schizoid gewesen und habe einer psychischen Störung nahe gestanden...

1. August 1967

Gestern aus dem Krankenhaus entlassen. Im Krankenhaus begegnete ich V.M. Gesprächsweise erwähnte ich die Erinnerungen des Flugzeugkonstrukteurs Jakovlev „Der Sinn des Lebens“. „Ein gutes Buch“, stimmte V.M. mir zu. „Jakovlev übertreibt ein wenig seine Rolle bei der Entwicklung des sowjetischen Flugwesens. Aber das tun fast alle Memoirenschreiber. Es fällt offenbar schwer, sich zu beherrschen und nicht ein bißchen zu prahlen. Aber insgesamt beschreibt Jakovlev Stalins Rolle bei der Entwicklung des Flugwesens richtig. Überhaupt kannte Stalin die Militärtechnik konkret, besser als wir alle. Er konnte bei einem Gespräch darüber das Wesentliche hervorheben und selbst Fachleute verblüffen. Ich habe die Memoiren von Voronov gelesen, worin er sich über Stalin nachteilig äußert. Weshalb, habe ich nicht verstanden. Das hat einen unangenehmen Nachgeschmack bei mir hinterlassen. Denn gerade Stalin pflegte die Artillerie liebevoll und nannte sie die ‚Kriegsgöttin’. Voronov weiß, welchen Beitrag Stalin zu ihrer Entwicklung leistete. Seine Erinnerungen sind nicht objektiv. Bei Jakovlev aber stimmt die Sache.“

Dann sprachen wir über Stalin. „Stalin ordnete alles Punkt für Punkt. Er liebte es, ein Fazit nach Punkten zu zerlegen: erstens, zweitens, drittens. Er war überwiegend Propagandist. Lenin dagegen war kein Propagandist. Diese Eigenschaft hatte er nicht.“ – „Lenin hatte ein umfassenderes Denken.“ Ich sagte, daß seine Werke viele Rätsel und Fragen enthielten, auf die er selbst keine Antwort gegeben habe. Etwas wie die Eulerschen Aufgaben, deren Lösung bei den Mathematikern nach Euler anderthalb Jahrhunderte in Anspruch nahm. Das wußte ich anhand der nationalen Frage. – „Nicht nur anhand der nationalen Frage. Auch in vieler anderer Hinsicht“, entgegnete mir V.M. – „Ich spreche von der Frage, mit der ich mich befasse. Natürlich auch in vieler anderer Hinsicht.“ – „Nun ja, natürlich“, nickte V.M.

19. Dezember 1967

Nachts von der Tragödie um Stalin geträumt. Aus irgendeinem Grund von Mežlauk[8] und seinem Bruder, dabei weiß ich nicht einmal, ob er einen Bruder hatte. Und noch von anderen Toten, die ich nicht kenne. Und von Allilujevas Selbstmord und davon, wie Stalin aus seiner Kreml-Wohnung in den Hof hinunterstieg und verärgert den Sarg mit beiden Armen stieß und nicht zum Friedhof mitfuhr. Und lauter solche Sachen, darunter sogar Berija, dem Chruščev auf seine Bitte um Begnadigung geantwortet habe: „Ja, was weiß ich, was du im Norden, wohin du wirst fahren müssen, überhaupt tun könntest.“ Und davon, wie Berija bei diesen Worten wütend und verächtlich mit der Hand abwinkte.

All das ist mir nicht eigen, ich wurde ja nach den Säuberungen befördert und stand V.M. und anderen nahe, die gerade Stalin nahestanden. Im Halbschlaf erinnerte ich mich an eine Sitzung des Politbüros (eine der letzten, an welcher der Alte teilnahm), als ich in meinem Bewußtsein einen Blick Stalins auf mir registrierte; ich hob die Augen – und wirklich: Er blickte mich unverwandt an, sah genau so aus wie auf seinen Porträts, aus irgendeinem Grund war der Blick prüfend. Ich war verwirrt, er auch. Ich glaube, er mochte mich gern, aber konnte ihm nicht jemand (Berija, Abakumov) auch etwas gegen mich eingeflüstert haben, so daß ihn Zweifel befielen? Oder dachte er umgekehrt daran, daß ich „aufgerückt“ werden könnte?

10. Mai 1969

Heute spazierte ich mit Lika[9] und Lena[10] im Birkenhain. Wir begegneten dem Gesundheitsminister der UdSSR B.V. Petrovskij. [...] Er sprach von Stalin. Dieser hatte einmal eine Einladung von Papanin bekommen, der eine Datscha in Form einer Eisscholle, ein Schwimmbecken gebaut und sonstigen „Luxus“ entwickelt hatte. Stalin kam, betrat die Datscha, ging, ohne ein Wort gesagt zu haben, hinaus, stieg in den Wagen und sagte dem Adjutanten: „So ein Dummkopf!“ Am Tag darauf wurde der „Herrensitz“ konfisziert, einem Kindergarten zugewiesen, er entlassen, und einer von Papanins Mitstreitern (Šeršnev?) übergab seine noch in Bau befindliche Datscha dem Staat, und darin wohnt jetzt B.V. Petrovskij gemäß einer Einweisung des Ministerrates.

31. Januar 1970

N.S. Patoličev erzählte mir viel über die Vergangenheit. Er schreibt Memoiren, darunter über die Arbeit mit Stalin, den er zutiefst achtet. Er sagte, daß Stalin jungen Mitarbeitern in hohem Maße vertraute, auf die Meinung anderer Menschen hörte und nicht selten seine Entscheidungen änderte, wenn er die Argumente dieser anderen für richtig hielt. Er hatte es gern, wenn Meinungen geradeheraus geäußert wurden. 1946-1948 war Patoličev Sekretär des ZK (zusammen mit Ždanov, Kuznecov und Malenkov). Dann wurde Malenkov wegen seiner Mißerfolge im Flugwesen abgesetzt, und später kehrte er ins ZK nicht mehr zurück.

8. Februar 1970

Patoličev sagte mir in Wien, daß er schon seit drei Jahren an seinen Memoiren arbeite, worin die Hauptrolle Stalin gehören solle. Patoličev stand ihm eine Zeitlang nahe und besuchte ihn mehrmals am Tag. Er sagt, daß Stalin manchmal in Organisationsfragen geschwankt habe: Bald dachte er an ein enges Politbüro, bald wählte er unerwartet ein ZK-Präsidium von 25 Personen und bildete Kommissionen zwecks Durcharbeitung einzelner Fragen (Internationales, Produktion, Waffen u. a.), aber so manches Mal ergab sich daraus nichts Taugliches, weil ausländische Angelegenheiten sowieso vor das Politbüro kamen, so daß ein Mittelding entstand. Ich weiß noch, wie die Leute vom Außenministerium von diesen Kommissionen geplagt wurden und sich freuten, wenn sie periodisch aufgelöst wurden.

15. Februar 1970

A.A. Smirnov erzählte von einer Episode, über die Averell Harriman in seinen Erinnerungen schreibt. Während der Potsdamer Konferenz trat Harriman an I.V. Stalin heran: „Nun sind Sie in Berlin. Wahrscheinlich freuen Sie sich sehr.“ – „Worüber soll man sich denn freuen?“ entgegnete Stalin. „Die Zaren kamen bis nach Paris.“

Ohne Datum

Der Leiter der Afrika-Abteilung Švedov erzählte mir viele Jahre später während eines Urlaubs: „Ich übersetzte für Stalin den Entwurf einer Note an den Gesprächspartner aus Frankreich. Stalin wiederholte mit Vergnügen den von mir zur Erörterung vorgelegten Titel ‚Entwurf eines Entwurfs der Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland’. Solche ‚Scherze’ gefielen ihm.“

1. März 1970

A.A. Smirnov erzählte unter Berufung auf M.S. Suslovs Worte, daß Stalin in den letzten Lebensjahren, da er den nahen Tod fühlte, Unruhe gezeigt habe, was die Erziehung jüngerer führender Parteikader betraf. Damit hing die Auffüllung des ZK durch eine ganze Gruppe junger Politiker (Patoličev, Kuznecov aus Leningrad u. a.) zusammen. Nach Stalins Ansicht mußten die Leiter der KPdSU eine Kombination der theoretischen Sicht auf die Politik mit einem praktischen politischen Talent besitzen. In theoretischer Hinsicht rechnete er mit einem Potential von Suslov und Voznesenskij. Nach Stalins Dafürhalten sollte ein Weltstaat wie die UdSSR über beständige und zahlreiche Kader verfügen, die die erforderlichen sachlichen und politischen Eigenschaften zu besitzen hatten und im Sinne der Partei erzogen sein mußten. Er sorgte gerade für die Stabilität der Kader, wenn er sie auch wegen Verschulden gegenüber dem Parteiethos streng bestrafte. Aber Leute, die sich bewährt hatten, beförderte er kühn, vertraute ihnen und sorgte für ihr materielles Wohlergehen. Später verdrängte Chruščev ohne jeden Terror und Kult die weitaus meisten geschulten Kader, brachte sie in Mißkredit und verjagte sie durch zahlreiche Reorganisationen und Umreorganisationen. Rein zahlenmäßig gingen unter Chruščev mehr Kader verloren als durch Stalins Säuberungen.

31. März 1970

N.P. Firjubin berichtete über Episoden aus dem Leben von Parteikadern in den Stalin-Zeiten. Damals war er Sekretär des Moskauer Stadtkomitees der KPdSU. Einmal kam er ins Büro und erblickte auf dem Tisch einen Aschenbecher aus Stalins Arbeitszimmer. Ihm wurde es schwarz vor den Augen. Er rief Poskrebyšev an. „Das ist nicht schön, auf die Weise werden Sie das ganze Arbeitszimmer mitgehen lassen. Schicken sie das Ding mit einem Boten zurück.“ Er fragte, wer in der Nähe gesessen habe. Firjubin: „Die Genossen Paršin und Vannikov.“ Der Verdacht fiel auf Vannikov. Dann wurde er davor gewarnt, sich neben Vannikov zu setzen. Der mochte solche Scherze.

5. April 1970

Baskakov erzählte, daß Stalin gut zu Chruščev war und ihn sogar auf seine Art gern hatte. In Moskau hielt er ihn auf dem Posten eines Sekretärs des Stadtparteikomitees, als aber in der Ukraine Schwierigkeiten entstanden, schickte er ihn dorthin. Während des Krieges entsandte er ihn an schwierige Abschnitte: Er war Mitglied des Kriegsrates in Stalingrad und bei Char’kov, und obwohl Konev Kiew hätte nehmen sollen, beauftragte Stalin auf Chruščevs Bitte Vatutin damit, bei welchem Chruščev Mitglied des Kriegsrates war (I.V. gab Vatutin eigens zu diesem Zweck die Konev unterstellte Panzerarmee von Rotmistrov bei). Offenbar gefiel es Stalin, in seiner Umgebung so einen etwas einfältigen Kerl zu haben, der scheinbar einst Arbeiter gewesen und dazu ohne viel zu viele Hemmnisse und gewandt war. Aber Chruščev erlitt ein Fiasko mit seinen „Agrarstädten“ und trug ihm die Kränkung nach. Später versuchte er, mit Stalin abzurechnen, verrechnete sich jedoch. Dazu hatte er nicht das Format.

12. April 1970

Gestern auf der Datscha bei A.N. Kosygin. Das Gespräch war zuerst scharf, aber nach und nach legten sich die Leidenschaften. Er lud mich und B.T. Bacanov[11] zum Mittagessen ein. Er scherzte, erzählte von Stalin, Molotov usw. A.N. erinnerte sich auch an folgende Methode Stalins. Um 18.00 fand täglich eine Sitzung der „Sieben“[12] statt. Eine Tagesordnung gab es nicht. Stalin kam mit Papieren in seiner Tasche und schlug Fragen zur Erörterung vor. Außer den Sieben wurde niemand zu den Sitzungen eingeladen. Stalin diktierte auf der Stelle den Wortlaut von Beschlüssen, eines der Mitglieder des Politbüros, das an der Reihe war, schrieb den Text nieder, während Stalin ihm über die Schulter blickte und korrigierte. In der Regel waren die Beschlüsse präzise und klar. Darauf brachten auch andere Mitglieder der Sieben ihre Fragen zur Erörterung ein, da aber die Dokumente nicht im voraus eingesandt worden waren, fand die Erörterung praktisch in einem sehr engen Kreis von Personen statt. Fünf Minuten später verlieh Poskrebyšev den Beschlüssen die erforderliche Form, aber er selbst wohnte den Sitzungen nicht bei.

5. August 1970

Podcerob erzählte mir über den sogenannten „Himalaya-Zwischenfall“, der in die Jahre 1923-1924 fällt. Angeblich sagte I.V. damals Bucharin: „Unter den Mitgliedern des Politbüros gibt es nur zwei Himalaya-Gipfel, du und ich, die übrigen sind lauter Nullen. Laß uns teilen, du bist für die ideologischen Fragen zuständig, und ich übernehme die Organisationsfragen.“ Bucharin lehnte ab, weil das auch seine eigene Zurücksetzung bedeutete, denn zu den Organisationsfragen gehörte auch die Verteilung der Kader, und berichtete darüber im Politbüro. I.V. erklärte, Bucharin wolle Zwietracht unter den Mitgliedern vom Politbüro säen, und verneinte entschieden dieses Gespräch. Einen Monat später waren I.V. und Bucharin in einer Gesellschaft und hatten recht viel getrunken. I.V. ergriff Bucharin am Bart und schüttelte ihn empfindlich. Bucharin sagte: „Koba, laß das, du siehst doch, es tut mir weh.“ – „Schon gut“, antwortete I.V. „Mit dir darf man sich nicht offen aussprechen! Das vergesse ich dir niemals.“ Eben diese Episode ist angeblich als der „Himalaya-Zwischenfall“ bekannt.

Ich lese (wieder einmal) A. Tolstojs „Peter I.“. Sehr interessant, besonders wenn man an die Zeit denkt, in der das Buch geschrieben wurde. Die Gestalt Peters und seine Epoche bilden eine Art Paraphrase zur Gegenwart des Schriftstellers. Aber unabhängig davon wirken die Zeit Peters und die Zeit Stalins als heroische Zeiten. Podcerob erzählte, daß I.V. Peter I. sehr hoch einschätzte und daß zum Beispiel in den Memoiren des Schauspielers Čerkasov dessen Gespräch mit Stalin angeführt wird, der sagte, daß Ivan der Schreckliche im Kampf gegen das reaktionäre Bojarentum inkonsequent gewesen sei: Bald habe er die Opričniki auf die Bojaren losgelassen, bald sich in ein Kloster zurückgezogen. Das sei ein Fehler, vielmehr sei es notwendig gewesen, den Kampf bis zu Ende zu führen, anstatt sich auf Halbheiten zu beschränken.

Ohne Datum

Stalin und Molotov erwähnten oft Gogol’. Ich war zufällig dabei, als der Entwurf des Gogol-Denkmals von Tomskij bestätigt wurde; das traurige Andreevsche Denkmal verdrängte man in den Hof des Hauses, in dem Gogol’ gestorben war. „Der Kopf muß etwas gehoben werden“, bemerkte Stalin. „Damit er einen Überblick hat.“ Gogols Rußland in kommunistischen Uniformen.

3. Januar 1971

Wie mir A.A. Smirnov[13] erzählte, war er Zeuge dessen, wie I.V. Stalin Malenkov die Leviten las. [...] Stalin kanzelte Malenkov ab, weil er [...] Stalins Arbeit „Der Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft“ an die große Glocke gehängt hatte. „Du hast es ausposaunt. Ich kenne dich. Weißt du denn, warum und wie ich diese Arbeit geschrieben habe? Die Ärzte sagten mir, ich solle mich mit einer nichtpolitischen und nichtmilitärischen Arbeit beschäftigen. Und so habe ich mir dieses ausgewählt. Aber was bin ich schon für ein Fachmann auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft? Überhaupt keiner, ist doch klar. Ich mußte mich von meiner Arbeit ablenken, mein Hirn mit etwas anderem beschäftigen. Aber das ist doch das Werk eines Laien. Ich habe mich für dieses Gebiet schon immer interessiert, ihr aber stellt das wie eine Entdeckung dar. [...] Das ist empörend!“ A.A. fügte hinzu, daß Stalin in der Tat von militärischen und politischen Angelegenheiten, mit denen er sich ununterbrochen befaßte, sehr ermüdet war. Und die Ärzte hatten ihm tatsächlich eine solche „Ablenkung“ vorgeschrieben. Die Malenkov-Gruppe aber benutzte das anders. Dann kritisierte A.A. ungewöhnlich scharf Chruščev und nahm Stalin gegen ihn in Schutz. „Stalin war ja nicht allein, es gab alle die, die zum Politbüro gehörten: Molotov, Mikojan, Kaganovič u. a. Sie alle entschieden ja mit, darunter auch 1937. Noch ist die Wahrheit nicht ausgesprochen worden, warum und weshalb das so kam. Und noch niemand hat bewiesen, daß Stalin krank war. Man muß die Situation, die Schwierigkeiten, die Zeit in Betracht ziehen.“

B.T. Bacanov erzählte, wie Stalin Kosygin im Leningrader Fall vor dem Untergang gerettet hatte. Er erhielt von Berija und Malenkov ein umfangreiches Material über ihn, ebenso wie über Voznesenskij, Kuznecov u. a. Und schickte das ganze Material an Kosygin mit der Resolution: „Bitte die Sache zu erklären.“ Kosygin las die Papiere durch, ging zu Stalin, sagte, was er dachte, und fügte hinzu: „Das ist alles. Das ist wahr. Nun entscheiden Sie, wie Sie es für richtig befinden.“ Und Stalin glaubte ihm. Er hatte überhaupt mehreres mit Kosygin im Sinn und hielt ihn, wenn es um ökonomische Fragen ging, in seiner Nähe.

Ohne Datum

Obwohl durch andere unaufschiebbare Angelegenheiten enorm in Anspruch genommen, versuchte Stalin, sich mit großen Fragen der Theorie zu befassen. Aber zur Lösung dieser Aufgabe fehlte es ihm an Zeit und Kraft, wenn er auch mitunter zu kühnen Verallgemeinerungen bei der Entwicklung der Theorie in den Bahnen des schöpferischen Marximus vorstieß.

Der 70jährige Stalin begann auf Rat der Ärzte („zwecks Erholung und Abschaltung“) mit einer Arbeit über Probleme der Sprachwissenschaft. In seinen Aufzeichnungen („Notizen“) trat er gegen die damals verbreiteten „vulgär-marxistischen“ Konzeptionen von Professor Marr auf, laut denen die Sprachen angeblich ein Produkt des Klassenkampfes waren. Diese Notizen (Briefe) Stalins wurden zwischen dem 22. Juni und dem 28. Juli 1950 in der „Pravda“ veröffentlicht. Stalin schrieb, daß die Sprache Produkt der gemeinsamen Geschichte aller menschlichen Gesellschaften sei. Sie sei nicht „ein Werkzeug der herrschenden Klasse“, sondern gemeinsames Erbe aller Menschen. Stalin wies auf die Tatsache hin, daß keine große Revolution der Vergangenheit die ihr zeitgenössische Sprache verändert habe.

In seinen „Briefen über die Linguistik“ schrieb er: „Die Leute, die sklavisch an Texten kleben und sie talmudistisch auslegen, betrachten den Marxismus, die einzelnen Deduktionen und Formeln des Marxismus als eine Sammlung von Dogmen, die sich ‚niemals’ verändern, und berücksichtigen hierbei die Veränderungen in den Entwicklungsstufen der Gesellschaft nicht. Aber der Marxismus als Wissenschaft tritt nie auf der Stelle: Er entwickelt sich weiter und vervollkommnet sich. Im Zuge seiner Entwicklung bereichert sich der Marxismus um neue Erfahrungen und neue Kenntnisse; infolgedessen verändern sich mit der Zeit kraft der Notwendigkeit auch seine einzelnen Formeln und Deduktionen und werden kraft derselben Notwendigkeit durch neue historische Angaben, Formeln und Deduktionen (Verallgemeinerungen) ersetzt. Der Marxismus erkennt keinerlei unveränderliche Deduktionen und Formeln an, die auf alle Epochen und Perioden anwendbar wären. Der Marxismus ist der Feind jedes Dogmatismus.“

Man braucht nur Marxens Nachwort zur zweiten Ausgabe vom ‚Kapital’ noch einmal zu lesen, um zu sehen, daß diese Gedanken mit anderen Worten die Grundbestimmungen der marxistischen dialektischen Methode wiedergeben. Aber bei uns begnügen sich viele damit, popularisierende Werke über den Marxismus zu lesen, und geben sich nicht die Mühe, die Originalwerke der Klassiker in ihrer Entwicklung gründlich zu erforschen und zu studieren. [...]

Nach der Arbeit über die Linguistik befaßte sich Stalin mit dem Studium der Probleme der Wirtschaft seines Landes. 1952 beendete er sein 50seitiges Essay über die „Ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR“. Im Prinzip lieferte diese Arbeit nichts Neues in der Theorie, aber methodologisch zeugt sie von Stalins Bestreben, sich von den Dogmen zu befreien, denen er bis dahin auch selbst unterlegen war.

Und er ermutigte die Schriftsteller, Dramatiker und Wissenschaftler dazu, die realen Lebensprozesse zu erforschen [sic!]. Zu gleicher Zeit beschäftigte er sich mit den Plänen einer Umbildung der Natur in der UdSSR (Aufforstung).

11. April 1971

Am Tage ein Gespräch in Lesnye dali mit dem Mosfilm-Direktor N.T. Sizov. Er erzählte aufgrund von Šolochovs Worten folgendes. Am 70. Geburtstag I.V. Stalins versammelten sich auf seiner Datscha nur die Mitglieder des Politbüros, Šolochov, der speziell aus Vešenskaja eingeladen war, und Mao Zedong. Mao schenkte Stalin eine Schatulle mit Schmuck, die I.V. sofort an Svetlana weiterreichte und hierbei sagte: „Ich kann dir keine Datscha bei Moskau, auf der Krim oder an der Ostsee bauen, weil die Datscha am Tag nach meinem Tod konfisziert wird.“ Berija und Malenkov erhoben laute Einwände: Wir lieben Sie, nie könne so etwas passieren. „Ihr werdet die ersten sein, die gegen mich auftreten würden“, entgegnete Stalin. „Es mußten 300 Jahre vergehen, damit das sozialistische Rußland die Bedeutung der Tätigkeit Ivans des Schrecklichen verstanden hat.“ Und Stalin gab zu verstehen, daß ihn ein ähnliches Los erwarte.

„Das erinnert an das Abendmahl Christi“, bemerkte V. Baskakov. N.T. Sizov aber sprach davon, daß über die 30er Jahre bei weitem nicht alles gesagt worden sei, und wenn, dann auch noch sehr einseitig. „Das war ein großes Ereignis, es entstand nicht über Nacht. Bis dahin hatte sich eine breite Opposition zu Stalin gebildet, die sich auch im Verlaufe des 17. Parteitages der KPdSU(B) offenbarte.“

17. Oktober 1971

I.M. Lavrov, Botschafter in Kongo (Kinshasa), erzählte mir heute, daß Stalin den Bericht des Außenministeriums über den Treuhandschaftsrat mit einer ungefähr solchen Resolution zurückgeschickt hatte: „Nicht den Ereignissen vorauseilen. Es gilt, sich darauf zu orientieren, was real existiert. Und es gilt, jene Bewegungen zu unterstützen, die wirklich herangereift sind.“ In diesem Zusammenhang erinnerte sich Lavrov auch daran, daß die Namen der Parteien in den Ländern der Volksdemokratie („Albanische Partei der Arbeit“ u. a.) von Stalin stammten.

19. Oktober 1971

Mir wurde erzählt: Bei einem der großen Empfänge im Georgievskij-Saal schritten Stalin und andere durch den Korridor der auseinandertretenden Gäste. Stachanov[14] wünschte sehr, daß I.V. ihn grüßte. So drängte er sich nach vorn, streckte die Hand aus und sagte: „Guten Tag, Genosse Stalin.“ I.V.: „Ich kann Sie nicht gleich wiedererkennen.“ – „Ich bin Stachanov, erinnern Sie sich!? Ich habe mir die Haare schneiden lassen. Deshalb erkennen Sie mich nicht wieder.“ – „Sollten Sie sich nicht auch einen anderen Namen zulegen?“

Bei einem anderen Empfang fragte der betrunkene B.N. Livanov Stalin immer wieder, über den Tisch hinweg: „Genosse Stalin. Ich bin Livanov, Schauspieler des MChAT. Wie soll ich die Rolle des Hamlet spielen?“ Und das mehrmals. Stalin riß schließlich die Geduld, und er antwortete: „Meines Erachtens ist Hamlet ein Produkt der Zersetzung der Feudalgesellschaft. Und gespielt wird er wohl am besten im nüchternen Zustand.

7. November 1972

Von der Feier auf der Datscha A.N. Kosygins zurück. A.N. erzählte folgendes: „Von den Ministern sind nur wenige dageblieben – wohl nur ich und Mikojan. Mikojan ist irgendwie zappelig. Ich erinnere mich da an Kaganovič“, schwenkte er plötzlich ab. „Wir waren zum x-ten Jubiläum bei Stalin. Kaganovič ergriff das Wort. Das Thema seiner Tischrede war ein Vergleich zwischen Lenin und Stalin. Es kam bei ihm so heraus, daß Stalin größer als Lenin sei. Da stand Stalin auf und fragte: ‚Lazar’, seit wie vielen Jahren kennen wir uns?’ – ‚Seit über 30 Jahren, Genosse Stalin’, antwortete Kaganovič beflissen. – ‚Ich kenne Kaganovič seit dreißig Jahren und kenne ihn nach dreißig Jahren nicht. Da möchte ich fragen: Wer hat ihm erlaubt, Lenin mit Stalin und Stalin mit Lenin zu vergleichen?’ Kaganovičs Gesicht wurde so weiß wie die Tischdecke. Er war ja sehr feige.“

14. Juli 1972

Dieser Tage haben wir A.I. Mikojan zu uns in die Wohnung mitgebracht. Seine Meinung über Stalin war nicht eindeutig: „Er war ein genialer, aber ein böser Mensch. Er befahl, Michoėls zu vernichten, und verlieh einen Orden dafür. Später haben wir den Orden zurückgenommen, aber den Menschen nicht vor Gericht gestellt, denn er führte einen Befehl aus.“ Als ich sagte, ohne Stalin hätten wir den Krieg nicht gewonnen, antwortete er: „Doch hätten wir ihn gewonnen. Mit einem Volk wie dem russischen hätten wir schon gewonnen.“

19. August 1973

Gestern in Lesnye dali beim 50. Geburtstag E.N. Mamedovs. Anwesend waren I.A. Benediktov (ehemaliger Landwirtschaftsminister unter Stalin im Laufe von 23 Jahren, dann Botschafter in Jugoslawien und Indien, zur Zeit Rentner), S.G. Lapin, L.M. Zamjatin, Kovalev, Bacanov, Alchimov (Ministerium für Außenhandel) u. a.

Beim Tisch fragte ich Benediktov, wie er über Stalin denke. „Wissen Sie, ich achte ihn sehr, obwohl ich von ihm 13 Rügen einstecken mußte. Er verstand die Lage und die Perspektiven des Staates und dessen Möglichkeiten sehr gut. In den 23 Jahren Arbeit als Minister, zu welchem ich mit 32 Jahren ernannt wurde, hatte ich zumindest hundert Gespräche mit Stalin. Die Lage der Landwirtschaft war schwer, und ich habe alles Mögliche erlebt, besonders während des Krieges. Viele wenden sich jetzt an mich, ich solle Memoiren schreiben. Ich schwanke, denn dazu, das niederzuschreiben, was ich weiß, ist die Zeit nicht reif, niemand wird das drucken, ist auch nicht nötig, nach einer Schablone aber will ich nicht schreiben. Ich will Ihnen nur über einen Fall erzählen. Ich sah auf dem Lande alles: den Hunger, wie die Frauen den Pflug ziehen mußten, den äußersten Niedergang. Im Grunde wurde aus dem Dorf alles herausgepumpt, ohne daß das mit etwas vergolten worden wäre. Einmal sammelte ich die Materialien und beschloß, mit Stalin aufrichtig zu sprechen. Ich nahm meine dicke Mappe mit und sagte: ‚Genosse Stalin, das Dorf muß Impulse bekommen, so geht das nicht weiter.’ Stalin stand auf und ging im Arbeitszimmer schnell auf und ab, besorgt fragte er mich geradeheraus: ‚Was ist, wollen Sie etwa die Einkaufspreise heben?’ – ‚Ja.’ – ‚Beträchtlich?’ – ‚Ja, Gen. Stalin, beträchtlich.’ Ich erklärte, daß wir ein Doppelzentner Kartoffeln billiger kaufen, als deren Transport kostet. ‚Ich bin mit Ihnen einverstanden’, sagte Stalin. ‚Sie haben recht, und wir werden das unbedingt tun. Aber können Sie von den Amerikanern einen Kredit für Verteidigung und Industrialisierung bekommen?’ Auf so etwas war ich nicht gefaßt und sagte, nein, das könne ich nicht. ‚Na also. Sobald wir die heutige Lage überwinden, werden wir auf dem Lande eine solche Politik durchführen. Das werden wir unbedingt. Aber jetzt können wir es nicht. Jetzt heißt es durchhalten: mit Hilfe von Enthusiasmus, Propaganda, Politik und zum Teil sogar – da wurde er verlegen – mit Hilfe von administrativen Maßnahmen. Einen anderen Ausweg hat die Sowjetmacht nicht. Später aber werden wir uns unbedingt mit dem Dorf befassen, und man wird sehr große Mittel darin investieren. Jetzt haben wir sie nicht. Verstehen Sie?!’ Ich nannte noch einige Beispiele für die Notlage auf dem Lande. ‚Na, das haben Sie extra für mich ausgewählt’, entgegnete Stalin und setzte dem Gespräch ein Ende.“

27. Februar 1977

[A.A. Gromyko] erzählte aus seinen Erinnerungen an F. D. Roosevelt während der Jalta-Konferenz. Es war Roosevelt anzusehen, daß die Monate, wenn nicht gar die Tage seines Lebens gezählt waren. In Jalta war er oft unpäßlich, und die Sitzungen waren unregelmäßig. Stalin, Molotov und Gromyko als Botschafter besuchten ihn im ehemaligen Gemach der Zarin. Roosevelt konnte nicht einmal aufstehen. Er lag im Bett, ohne sich aufzurichten. Stalin setzte sich neben das Bett, Molotov nahm Platz daneben. Als sie nach dem Besuch die Treppe hinunterstiegen, die absolut nicht den Charakter einer Palasttreppe hatte, sagte Stalin: „Warum ist die Natur so grausam gegen diesen Menschen? Hätte sie das nicht jemand anderem antun können?“

25. Oktober 1981

Ich erinnere mich an Stalin. An seine Umgebung. Hart war jene Zeit, hart das ganze Leben. Mir wurde erzählt, wie er seine Arbeiten „Über die Grundlagen des Leninismus“ und „Fragen des Leninismus“ geschrieben hatte. Damals unternahmen die Trotzkisten, die Zinov’evisten und die Bucharin-Leute einen Frontalangriff auf alle Grundlagen des Leninismus, die Strategie und Taktik der Partei, die internationalen kommunistischen Bewegungen und den Leninschen Plan des Aufbaus des Sozialismus in unserem Lande. Stalin – eine vielseitige, mutige Persönlichkeit von unerschütterlichen Überzeugungen – übernahm nach Lenins Ableben neben den Organisationsfragen auch die Theorie. Die Archive werden einst zeigen, wie genau mir die Genossen über die Entstehung dieser Arbeiten berichteten, die zum Lebensprogramm einer ganzen Generation wurden.

Offenbar hatte er einen Plan der „Grundlagen“ aufgestellt, der in der    Überschrift genau fixiert ist. Systematisch studierte er das ganze Spektrum von Lenins damals bekannten (veröffentlichten und zum Teil noch nicht veröffentlichten) Werken. Er war um eine komprimierte, anschauliche Ausdrucksweise bemüht, als er die Hauptpositionen der Gegner des Leninismus – die neben ihm, in den Stäben von Partei und Staat arbeiteten – darlegte.

In der nahen Datscha, in dem Saal, in dem die Sitzungen des Politbüros abgehalten wurden, legte er auf einen langen Tisch Stöße von Lenins Büchern (wohl auch andere, aber hauptsächlich solche von Lenin) hin. Mit Lesezeichen, Notizen, Auszügen. Er ging am Tisch hin und diktierte, wobei er das Verwendete vom Tisch nach unten legte. Das waren sowohl körperliche Übungen (Gehen, Sich-Beugen u. a.) als auch Gedanken, Entwürfe. Sobald er den ganzen Tisch abgegangen war (wohl an die 140 Meter lang), machte er mit dem Diktat Schluß. Er diktierte nach einem Plan, aber einiges vielleicht auch in willkürlicher Reihenfolge.

Damit beendete er die Arbeit und ging zu anderen Dingen über. Sobald er den stenographischen Text bekam, prüfte er, ob er gelungen war, las erneut Lenin (und seine Gegner) und legte sich wieder den Tisch mit Büchern und Lesezeichen zurecht. Dann diktierte er den Text neu oder verbesserte das schon Diktierte.

Wieder an eine andere Arbeit. Und nach einiger Zeit wieder der Tisch, das Diktat, bis alle Bücher längs des Tisches nach unten kamen.

Die Arbeit nahm, wie es scheint, drei oder vier Monate in Anspruch. Die Zeit drängte, der Gedanke trieb ihn voran.

Wahrscheinlich überprüfte er das Konzipierte und Diktierte mit den Genossen zusammen. Sein Schaffen war in seiner Grundlage kollektiv, aber er hatte seinen eigenen Stil und Gedankengang.

Er wählte das Kollektiv aus der Crème der ergebensten Parteimitglieder aus. Ich habe sehr selten davon gehört, wer ihm wobei half oder ihn beriet. Theoretisch, im Stil, bei der Vorbereitung der einzelnen zentralen Stellen. Bei den vorbereitenden Arbeiten der Kollektive.

Auf diese Weise wurde der „Kurze Lehrgang“ geschaffen. Ich glaube, die Leitung gehörte zuerst E. Jaroslavskij. Vielleicht aber gab es mehrere Gruppen. Erörtert wurde ein Kapitel nach dem anderen, in einzelnen Sitzungen. Es entstanden Blöcke, Ebenen, die Pläne wurden präzisiert. Dann nahm I.V. alles an sich und schmiedete es mit Rücksicht auf den Meinungsaustausch und Ereignisse um.

Es ist augenfällig, daß die Vor-Oktober-Periode solider, fundierter gemacht ist, die Geschichte und die Logik gehen nebeneinander, in straffen Reihen, nach einem Plan. Später wurde alles weniger konzentriert, auch gezielter, vielleicht polemischer, offenbar gab es viele andere Angelegenheiten, „ein jeder Tag hat seine Plage“. Die Plage des Widerstandes der Gegner, der erbitterten Streite, in gewissen Dingen das Streben, mitunter unlogische praktische Handlungen der Leitung, ja die Fehler zu rechtfertigen.

Stalin wiederholte oft, daß unter Lenins Arbeiten am wichtigsten die aus der Zeit nach der Oktoberrevolution seien. Die Zitate in den „Grundlagen“ u. a. stammen hauptsächlich aus den Arbeiten nach oder unmittelbar vor dem Oktober. Aber im „Kurzen Lehrgang“ ist der erste Abschnitt am besten. Offenbar beschloß er, alles auf Grund der Parteigeschichte zu überprüfen, versenkte sich in die Arbeiten aus der Zeit vor dem Oktober und lieferte neue Kapitel, Verallgemeinerungen und Abschnitte. Das geht aus den Vorarbeiten von Jaroslavskij und anderen Parteihistorikern hervor.

Außerdem plante er in den dreißiger Jahren eine „Geschichte des Bürgerkrieges“. Da arbeitete er eher als Redakteur und Politiker, als Theoretiker. Mit Molotov, Kirov, Ždanov (der neue Nachschub, zur Überprüfung – ungefähr wie Zinov’ev unter Lenin in den Jahren des Ersten Weltkrieges) und Maksim Gor’kij zusammen. Die Kräfte und die Zeit reichten für den ersten Band. Im zweiten gab es nur einzelne Fragmente, Pläne der Teile, Gedanken. [...]

Die Rede auf dem 19. Parteitag. Mit dem Rechenschaftsbericht beauftragte er Malenkov, kümmerte sich so gut wie nicht darum – war krank, keine Zeit, Eifersucht und eine Art Examen in den Augen der künftigen Generationen: Seht den Unterschied (ähnlich wie mit dem politischen Rechenschaftsbericht Zinov’evs am 13. Parteitag). Er selbst aber bereitete eine Begrüßungsansprache für ausländische Delegationen vor. Eine kurzgefaßte Quintessenz. In gewisser Hinsicht ungenügend durchgearbeitet, in vieler Hinsicht posthum nicht richtig beurteilt.

Er schrieb auf Papier, auf einzelne Blätter hin und steckte sie in die Stiefelschäfte. Am Morgen schrieb er alles ins Reine. Die Kladden verbrannte er, wozu er die Blätter zusammenrollte und von oben anzündete, damit alles verbrannte (sicherlich eine Methode aus der Zeit im vorrevolutionären Untergrund). Mit eigenen Händen mischte er die Asche und warf sie in den Korb. Die Rede, die er hielt, war für alle unerwartet. Und wieder setzte er sich, wie in all den letzten Jahren, abseits vom Politbüro hin, ein in seinen Gedanken und Erlebnissen einsamer Alter, der alles in seinen Händen wie in eisernen Klammern hielt und gebieterisch die „Zwangsmittel“ selbst gegenüber seinen Genossen anwandte.

Er prüfte die Neuen eifrig. Nahm hauptsächlich junge Leute an, arbeitete mit ihnen (siehe Patoličev, die Militärs u. a.). Am interessantesten für die Zukunft waren schon immer nicht aufgeschriebene, vielmehr mündliche Äußerungen, die unter den jungen Leuten auf hoher Ebene von Mund zu Mund gingen. Das sammelte keiner, ausgenommen vielleicht Militärs und Denker vom Schlage eines Patoličev.

In der Kaderpolitik hatte er mitunter auch seine Favoriten, aber das auch heutzutage handelnde Team wählte er „in Rohmaterial“ selbst aus. Alles in allem richtig, wie die Zeit zeigen sollte, wenn auch die Auswahlprinzipien anders waren. Suchte mit Vorliebe nach Parteifunktionären mit einer Neigung zu theoretischen Verallgemeinerungen, überhaupt nach „Theoretikern“ (Suslov, Ždanov, Česnokov, A.A. Kuznecov u. a.).

5. Oktober 1988

Mir wurde erzählt, daß nach dem sowjetisch-deutschen Vertrag nach einem Botschafter für Berlin gesucht wurde. Es gab zwei Anwärter: Borodulin, Direktor des Instituts für Textilien, und den Sekretär des Parteikomitees am selben Institut Škvarcev. Stalin bat V.M., ihn mit diesen Menschen bekannt zu machen. Er stellte nur eine Frage: „Welches ist heute der neuralgische Punkt in der Politik?“ Škvarcev antwortete, ohne zu zaudern: „Litauen“. – „Was grübeln wir da noch lange, da ist er, der Botschafter, und Borodulin ist der Handelsvertreter.“ Leider war das ein Fall, da dumme Menschen kluge Dinge sagen. Sehr bald erlitt Škvarcev ein Fiasko, während Borodulin vor dem Krieg kein schlechter Handelsvertreter war.

Für mich ist das insofern interessant, als meine Ernennung zuerst nach Litauen davon zeugt, welche Bedeutung sie der Verstärkung der dortigen Bevollmächtigten Vertretung beimaßen. Und Stalin fragte N.G. Pozdnjakov: „Wie macht sich Semenov bei euch?“ Die Antwort war positiv. Aus den Archiven sollte ich erfahren, welch scharfe Anfragen V.M. nach Kaunas schickte, wie er die Menschen zur Disziplin anhielt und so manchen Kopf zurechtsetzte. Ich arbeitete mit dem Eifer eines Gymnasiasten. Dennoch wurde ich aus Litauen nach Berlin entsandt.

Ohne Datum

Stalin sah die Dinge nicht immer richtig. Aber die deutsche Politik beeinflußte er entscheidend, darunter dadurch, daß er Žukov und mir die Freiheit der Entscheidung an Ort und Stelle auf der Basis der bekannten Richtlinien der Partei überließ, ohne daß wir Moskau anzufragen brauchten. Das spielte bei der ganzen weiteren Entwicklung eine beträchtliche Rolle. Und das gab uns die Möglichkeit, zu arbeiten, ohne die über die Dinge nicht informierten Mitglieder des Politbüros heranzuziehen. Aber die oberste Leitung der deutschen Angelegenheiten blieb die ganze Zeit in den Händen von Stalin und Molotov.

31. Dezember 1988

... Ich, ein Student der geisteswissenschaftlichen Fakultät von MIFLI[15], stehe in einer Absperrkette in der dem Mausoleum nächsten Reihe. Die Mitglieder des Politbüros kommen heraus, als erster I.V. Stalin, jung, fröhlich, geschmeidig, ein seiner selbst sicherer Mensch. Ich glaube, das war vor 1936, weil meine nächste Erinnerung in den Dezember 1934 fällt. Ich stand ebenfalls in einer Jugend-Absperrkette vor dem Gewerkschaftshaus, in dem S.M. Kirov aufgebahrt lag. Auf dem Weg zum Roten Platz fuhr an der Spitze der Prozession eine Automobil-Lafette mit Kirovs Leiche, darauf lag ein Soldatenhelm. Unmittelbar hinter der Lafette, ging Stalin. Er hob sich merklich von den anderen Mitgliedern des Politbüros ab, traurig und einsam in den damaligen toten Tagen.

Meine nächste Begegnung mit ihm fand bereits am Ende des Krieges, im April 1945, statt. Sie wurde in anderen Heften und Skizzen beschrieben. Ich habe keine Kraft, mich zu wiederholen. Ist auch nicht nötig.

Viele spätere Treffen gehören zur Geschichte der KPdSU, der SED, unseres Landes und später der DDR. Was bleibt, ist der unauslöschliche Eindruck von diesen Begegnungen. Und wie schwer, wie unsäglich schwer ist es, jene beispiellos schwere Zeit in sich wiederaufleben zu lassen...

7. April 1991

Habe die Zeitungen durchgesehen, zwei Reden Molotovs auf der Pariser Konferenz wieder gelesen. Sehr interessante Reden. Sie verdeutlichen Molotovs Charakter und Intellekt. Er war nicht so einfältig, wie einige ihn sich vorstellen und ihn darstellen. Das war zwei Jahre, bevor Stalin ihn als einen „amerikanischen Agenten“ „entlarvte“. Folglich hatte M. schon ernste Zusammenstöße mit ihm, wenn er sich schon zu solchen schlimmen Tricks gegen seinen alten Kameraden aus den Jahren der Februar- und der Oktoberrevolution entschloß. Alles war nicht so einfach, wie es jetzt scheint und, entgegen der Wahrheit, dargestellt wird. Dabei ist die Wahrheit nicht eindimensional, sie hat viele Facetten.

25. April 1991

Höre mir im Moment die 10. Symphonie von Šostakovič, dirigiert von Karajan, an. Sie wurde nach dem ersten Violinkonzert (März 1948, Erstaufführung im Mai 1955) geschrieben. Natürlich ist diese seine Symphonie programmatisch. Ein Rezensent schreibt, Šostakovič habe direkt gesagt, daß viele Sätze (besonders der 2.) gegen Stalin und seine Paranoia geschrieben wurden.

Paranoia war wohl da. Doch war da auch Stalins persönliche Tragödie: Nach dem gewonnenen Krieg waren die Zerstörungen im Lande enorm. Und Stalin überdachte unter diesem Blickwinkel die Lehren des Krieges und die Zukunft der Sowjetunion. Er hatte verstanden, daß es unmöglich war, dem Druck der Zeit ohne eine radikale Veränderung von Methoden und Ansichten, die vor dem Krieg und an seinem Beginn gegolten hatten, zu begegnen. Er verstand die Notwendigkeit, mit Fachleuten zusammenzuarbeiten und die früheren Praktiken zu verändern, als das Politbüro über alle Fragen entschied, ohne sich um die Meinung von Fachleuten zu kümmern. Eine Lehre des Krieges bestand für ihn darin, daß es notwendig war, ständig mit Fachleuten auf verschiedenen Gebieten zusammenzuarbeiten, ohne andere Menschen von ihren Fragen, Problemen und Aufgaben abzulenken.

11. Juni 1992

... Ich wühle in meinen Papieren, die sich angehäuft haben, – und entdecke darin etwas absolut Unwahrscheinliches. In zwei Mappen wurde vielfach geschrieben: „Ins Archiv. Paßt nicht in dieses Buch hinein!“ Dabei enthalten sie gerade höchst interessantes Material über meine Berufung ins Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, über Molotov und die litauische Frage im September 1939 [während der Verhandlungen] zwischen Stalin und Ribbentrop. Und im Oktober wurde ich nach Litauen entsandt! Ein paar Monate später fragte Stalin Pozdnjakov: „Wie arbeitet Semenov?“ Der Bevollmächtigte Vertreter beurteilte mich positiv. Stalin schwieg dazu. So erfolgten meine Versetzungen erfolgten auch unter persönlicher Anteilnahme nicht nur Molotovs, sondern auch Stalins. Das ging auch in Berlin weiter: bei meinem schriftlichen Bericht über Hitlers „Neuordnung“ in Europa und der Welt und auch bei der Okkupation von Berlin. Stalin fragte Sokolovskij: „Wer hat die Rede im Kontrollrat geschrieben?“ – „Semenov.“ Ein kurzes Klopfen mit der Pfeife. „Wer hat die Artikel über die Kunst geschrieben?“ – „Semenov.“ Und wieder ein Klopfen mit der Pfeife, und dann eine Überprüfung über Puškin.

13. August 1992

Ich weiß nicht, welche Meinungsverschiedenheiten zwischen Molotov und Stalin entstanden, bevor V.M. zu einem amerikanischen Agenten erklärt wurde. Ich sollte mir alle 146 Begegnungen Čuevs mit Molotov beschaffen. Die Spannungen in den Beziehungen gingen von Stalin aus, der V.M. und Mikojan für Dogmatiker und amerikanische Agenten hielt. War das die Krankheit bei Stalin? Paranoia? Oder zeigte er seine Klauen?

Ohne Datum

In den letzten Jahren von Stalins Leben spielten sich hinter den Kulissen Dramen, hitzige große Auseinandersetzungen und wahre Tragödien ab, deren Fäden und Triebfedern verborgen, geheim, unzugänglich blieben. Um die verborgenen Triebfedern, die diesen historischen Prozeß in Gang brachten, zu finden und zu verstehen, muß man von ihm für eine Zeitlang Abstand nehmen.

Zu solchen Ereignissen würde ich den Umstand zählen, daß V. Molotov und A. Mikojan kurz vor dem 19. Parteitag, als Stalin alle beide amerikanische Agenten genannt hatte, in Ungnade fielen. „Bist du von Sinnen, Koba!“ schrie Molotov auf. Aber Stalin entwickelte die Beschuldigungen auch in seiner Rede auf dem ZK-Plenum nach dem Parteitag (ich wohnte dem Plenum nicht bei, obwohl ich erstmalig in die Zentrale Revisionskommission der KPdSU(B) gewählt worden war, aber meine Freunde berichteten mir über Stalins Rede).

Molotov beschrieb diese Geschichte in allgemeinen Zügen. Eine schändliche Rolle bei der Diskreditierung Molotovs in Stalins Augen spielte K. Vorošilov, der seine Absetzung in Leningrad auf Vorschlag der Molotov-Kommission wohl nicht verschmerzt hatte. Verleumderisches wurde auch von Stalins Gehilfen A.N. Poskrebyšev sowie vom Chef seiner persönlichen Bewachung General Vlasik eingeflüstert. Beide hatten irgendwelche persönlichen Motive aus dem Alltag. Für Stalin aber begann in jener Zeit die Kulmination des „Kultes der Person“, der ihm zuerst zuwider war [sic!], später aber „ein wenig gefiel“. Molotov erzählte mir, daß Stalin ihm sagte, er habe den Rang des „Generalissismus“ auf Bestehen der Militärs angenommen. „Was für ein Generalissimus bin ich schon, und wozu habe ich das nötig? Ich bin ja überhaupt kein Militär...“

Offenbar bestanden zwischen Stalin und Molotov damals scharfe grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten. Auf der 18. Parteikonferenz war Molotov der einzige, der gegen den Punkt über die Repressalien stimmte. Vieles bleibt mir unbekannt, er war nicht gerade gesprächig, wenn es sich um die Angelegenheiten auf höchster Parteiebene handelte. Aber die verborgene Triebfeder kam viel später allmählich ans Tageslicht. Sehr einflußreiche Mitglieder des Politbüros verfolgten das Ziel, die Position Stalins im ZK zu schwächen und ihn zu isolieren. Dazu galt es, zuerst Molotov abzudrängen und seinen Einfluß in Partei und Staat zu unterminieren. Zwischen Stalin und Molotov bestanden schon seit 1912, seit der Zeit der illegalen Arbeit und der Gefängnisse sehr nahe Beziehungen, und auch in den Jahren des Bürgerkrieges standen sie Seite an Seite, ebenso wie die ganze Zeit danach. Aufrichtig und ausführlich analysierten sie zu zweit die außerordentlich schweren Probleme der Kriegführung, der Außenpolitik und der Bildung der Anti-Hitler-Koalition. Beide genoßen im Lande kolossale Autorität. Aber sie waren nun doch unterschiedliche Menschen.

Stalin war Sohn eines armen georgischen Schusters, mit leibeigenen Vorfahren, lebte in schwerer Not, mußte viele Gefängnisse und Verbannungen erleben; Vorošilov machte ihn auf dem 4. Parteitag mit Lenin bekannt, und seitdem war Stalin einer seiner wichtigsten Helfer bei der Organisation der größten Aktionen in der Illegalität und später auch bei der Vorbereitung und Durchführung der Oktoberrevolution von 1917. Stalin las seit seiner Kindheit viel und wußte viel, besonders die wichtigsten Werke Lenins so gut wie auswendig. Molotov war jünger als Stalin, trat der Partei in seinen Studentenjahren bei und wurde nach der Revolution einer der ZK-Sekretäre. Lenin sah sich den jungen Mitstreiter aufmerksam an, unternahm im Kreml lange Spaziergänge mit ihm und erteilte ihm verantwortungsvolle Aufträge. Auch mit Stalin als Generalsekretär des ZK arbeitete Molotov selbstaufopfernd und treu zusammen.

Aber die Ansichten der beiden fielen nicht immer und nicht in allem zusammen. Überdies waren da die Familienangelegenheiten mit im Spiel. Molotov war mit einer Jüdin verheiratet, Polina Semenovna Žemčužina, einer sehr herzlichen und nahen Weggefährtin ihres Mannes. Sie befand sich 1932 in Vorošilovs Wohnung, als ein heftiger Streit zwischen Stalin und seiner Frau Nadežda Allilueva entbrannte, nach dem Nadežda, sehr verärgert, lange mit Žemčužina nachts im Kreml hin- und herging und sich nach ihrer Rückkehr in die Wohnung erschoß.

Stalin war der Meinung, daß das ein Teil der Verschwörung gegen ihn sei, auch seitens der Familie Alliluev, die er aus Moskau verbannte. 1945-1946 war ich bezaubert von der inneren seelischen Schönheit Polina Semenovnas, der ich bei meinen Moskauer oder Berliner Aufenthalten im Familienkreis begegnete. Sie beteiligte sich an unseren Gesprächen über Deutschland und brachte in die sachlichen, nicht selten recht harten Unterhaltungen ihre weibliche Herzlichkeit und Wärme hinein.

Polina Semenovna wurde auf Stalins Befehl verhaftet, und zwar wegen ihrer nahen Beziehungen zur Botschafterin Israels in Moskau Golda Meir, die später lange Zeit Ministerpräsidentin von Israel sein sollte.

Stalin verlangte von Molotov, sich von Žemčužina scheiden zu lassen, stieß jedoch auf eine kategorische Weigerung. „Was ist, kann er sich denn keine andere finden? [...]“, wütete Stalin. Molotov aber wohnte der Versammlung im Kreml bei, auf der Žemčužina aus der Partei ausgeschlossen wurde. Er ging schweigend weg, und Žemčužina kehrte neun Jahre später – weißhaarig und gealtert – aus der Verbannung zurück. Bei ihrem Begräbnis auf dem Novodevič’e-Friedhof weinte Molotov.

Zwischen Stalin und Molotov sprühte es ab und zu Funken, aber Molotov hielt stets zu ihm, in den späteren Jahren wiederholte er seinen Verwandten und engen Freunden, es sei das größte Glück seines Lebens, mit einem so großen Menschen wie Stalin, noch dazu so lange, zusammengearbeitet zu haben.

Auch nachdem Molotov zum amerikanischen Spion erklärt worden war, blieb er im Politbüro, doch hatte er keinen Zugang zu Verschlußsachenmaterialien und Dienstdokumenten. Er kam in sein Arbeitszimmer, las Zeitungen und einige Berichte und ging dann wieder.

Einmal sagte er mir, das war, glaube ich, 1948 oder 1949, wir sollten keine Anfragen nach Moskau schicken, weil Stalin krank sei. Es sei keiner da, über die deutschen Angelegenheiten zu entscheiden, weil die anderen Politbüromitglieder mit wirtschaftlichen und sonstigen Dingen beschäftigt seien, während Entscheidungen bezüglich Deutschlands nur Stalin zustünden.

Die Verdrängung und Diffamierung Molotovs wirkte sich später aus. Hier bin ich auf Vermutungen angewiesen und wage es nicht, über die tragischen Ereignisse, die den Shakespearschen in nichts nachstanden, ja sie sogar manchmal übertrafen, ein bestimmtes Urteil abzugeben.

12. September 1992

Was die Behauptung angeht, wir könnten, wie Roosevelt in Jalta sagte, durch Wiederherstellung der Einheit der Arbeiterparteien die USA aus Europa verdrängen, so steckt hier ein Körnchen Wahrheit in einem Löffel Lügen. Roosevelt erhob die Frage nach der Okkupationsdauer und wollte den Abzug der Truppen nach zwei Jahren. Stalin dachte über eine ebensolche Frist und hielt sich auch selbst daran. In Teheran aber legte Roosevelt seinen Plan der Aufteilung Deutschlands in fünf Staaten vor, wobei er bemerkte, jede Macht werde wahrscheinlich seine Zone haben. Churchill war ebenfalls für die Zerstückelung. Warum? Sie wollten Deutschland als aggressiver Kraft in Europa ein Ende machen. Warum? Weil sie nahe daran gewesen waren, ein Fiasko in Europa und auf dem pazifischen Kriegsschauplatz (Japan) zu erleiden. Da war eine Zusammenführung der Interessen im Spiel, das war im Text des Potsdamer Abkommens festgeschrieben, der von Truman geschrieben und mit geringen Änderungen angenommen wurde. Potsdam ist also ein Werk der Amerikaner. Wir aber waren dafür, weil wir keine Fortsetzung des Krieges wollten. (Übersetzung: Nina Letneva)




[1] Malinovskij, Rodion Jakovlevič, Marschall der Sowjetunion, Verteidigungsminister der UdSSR.

[2] Birjuzov, Sergej Semenovič, Marschall der Sowjetunion, Generalstabschef der Streitkräfte der UdSSR.

[3] Podgornyj, Nikolaj Viktorovič, 1963-1965 Sekretär des ZK der KPdSU, 1965-1977 Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR.

[4] Vjačeslav Michajlovič Molotov.

[5] Die Rede ist vom sowjetisch-deutschen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 (Molotov-Ribbentrop-Pakt) und von einem Berlin-Besuch V.M. Molotovs am 12.-14. November 1940.

[6] Sowjetische Kontrollkommission.

[7] Das letzteWort deutsch im Original.

[8] Mežlauk, Valerij Ivanovič, ab 1924 stellvertretender Vorsitzender des Höchsten Rates der Volkswirtschaft der UdSSR, ab 1931 Erster Stellvertreter des Vorsitzender des Staatlichen Plankomitees der UdSSR, ab 1934 stellvertretender Vorsitzender des Rates der Volkskommissare und des Rates für Arbeit und Verteidigung (STO) der UdSSR, Vorsitzender des Staatlichen Plankomitees der UdSSR. 1937 Volkskommissar für Schwerindustrie der UdSSR. Ab 1934 Mitglied des ZK der KPdSU(B). 1938 fiel er den Repressalien zum Opfer.

[9] Die Ehefrau Lidija Semenova.

[10] Die Tochter Elena Semenova.

11 Bacanov, Boris Terentjevič, 1967-1991 Assistent des Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR.

[12] Die Mitglieder des Politbüros des ZK.

[13] Smirnov, Andrej Andreevič, 1946-1949 Mitglied des Kollegiums des Außenministeriums der UdSSR und stellvertretender Außenminister der RSFSR, ab 1970 stellvertretender Außenminister der UdSSR.

[14] Stachanov, Aleksej, Grubenarbeiter, ein „Udarnik“ (Stoßarbeiter), nach dem die „Stachanov-Bewegung“ benannt wurde.

[15] Moskauer Hochschule für Geschichte, Philosophie und Literatur.