„Momentaufnahme“ aus dem Leben eines Revolutionärs. Vsevolod Volins „Bekenntnisse“ Eingeleitet von Alexei Rybakov Im folgenden veröffentlichen wir einen Brief des russischen Anarchisten Vsevolod Volin (Pseudonym von Vsevolod Michajlovič Ėjchenbaum). Geboren 1882 im Gouvernement Voronež [1] als Sohn eines wohlhabenden Ärzte-Ehepaares, nahm Volin seit 1901, zunächst als Jura-Student in Sankt Petersburg, aktiv an der revolutionären Bewegung teil (sein jüngerer Brüder war übrigens der spätere Literaturwissenschaftler Boris Michajlovič Ėjchenbaum, einer der führenden Vertreter der sogenannten „Formalen Schule“). In den Jahren 1905-1911 ist Volin Mitglied der Partei der Sozial-Revolutionäre, 1905 macht er als ein Mitbegründer des Petrograder Sowjets von sich reden. Verhaftet am 8. Dezember 1905 und zur sibirischen Verbannung verurteilt, flieht er am 19. August 1907 (der Brief, den wir veröffentlichen, erlaubt, diese genauen Daten festzustellen). Zusammen mit seiner ersten Frau Tatjana, geb. Salopova, nimmt er an der revolutionären Tätigkeit in Nižnij Novgorod teil, nach deren Verhaftung wandert Volin, Ende 1907 (nicht 1908, wie es in einigen Nachschlagwerken steht) nach Paris aus. 1911, nach der Azef-Affäre, trennt er sich von der Partei der Sozial-Revolutionäre. Vor und während des 1. Weltkrieges beteiligt er sich an verschiedenen exilrussischen und internationalen anarchistischen Organisationen und Editionen, seit 1914 ist er Anarcho-Syndikalist. Im August 1916 von den französischen Behörden wegen antimilitaristischer Agitation verhaftet, flieht er in die USA, wo er Mitglied des Verbandes russischer Arbeiter in den Vereinigten Staaten und Kanada, sowie Mitherausgeber der vom Verband publizierten Zeitung „Stimme der Arbeit“ (Golos truda) wird. Ein Jahr später, schon nach der Februarrevolution, kehrt er, zusammen mit der ganzen Redaktion von Golos truda nach Rußland zurück. Er ist weiterhin Mitherausgeber dieser von nun an in Petrograd erscheinenden Zeitung, sowie einer der Organisatoren der Petrograder „Union für die anarcho-syndikalistischen Propaganda“. Die Oktoberrevolution lehnt er entschieden ab. „Der Weg des Marxismus, schreibt er in einem seiner Artikel aus dieser Zeit, führt unvermeidlich über den Staat zur Macht und politischen Diktatur. Der Weg des Anarchismus führt zur selbständigen Selbstorganisierung der Massen.“ Nichtsdestoweniger nimmt Volin an der „Verteidigung der Oktoberrevolution gegen die vorrückenden deutschen Truppen“ an der Spitze eines von ihm mitorganisierten anarchistischen Kampfverbandes teil; im Frühjahr und Sommer 1918 kämpft er in der Ukraine gegen Hetman Skoropadskij. Im Herbst 1918 beteiligt er sich in Char’kov an der Bildung der Konföderation der ukrainischen anarchistischen Organisationen „Sturmglocke“ (Nabat); in den Jahren 1919-1920 ist er Mitglied des Sekretariats der Konföderation und Mitherausgeber der gleichnamigen Zeitung. Die wohl bedeutendste Episode seiner politischen Karriere bildet seine Zusammenarbeit mit dem berühmten anarchistischen Ataman Nestor Machno; Volin ist Vorsitzender des militär-revolutionären Rates der Machnovschen „Armee“ und einer der führenden Ideologen des „Machnovismus“. Verhaftet im November 1920 nach dem Bruch der Sowjetregierung mit Machno und mehr als ein Jahr lang im Moskauer Butyrskaja Gefängnis inhaftiert, wird er nach der Fürbitte der Delegierten des Kongresses der Roten Gewerkschaftsinternationale (Profintern) freigelassen und am 5. Januar 1922 zusammen mit einigen anderen Anarchisten ins Ausland abgeschoben. Bis zu seinem Tod 1945 lebt Volin in Frankreich und ist weiterhin als Mitherausgeber anarchistischer Editionen, Redner und Publizist tätig. Bekannt ist Volin vor allem als Autor der in seinen letzten Jahren (auf Französisch) verfaßten Geschichte der russischen Revolution „La révolution inconnue“, übersetzt in mehrere Sprachen [2]. Dieses dreibändige Werk bildet die wohl bis zum heutigen Tage einzige Darstellung der russischen revolutionären Ereignisse aus konsequent anarchistischer Perspektive und somit eine der wichtigsten Quellen für die Geschichte des russischen Anarchismus. Der Brief, den wir hier veröffentlichen, gibt einige Rätsel auf. Es konnte weder geklärt werden, wer der Adressat dieses Briefes („Vasja“), noch wer jener „außergewöhnlich gebildete und kluge“, später verrückt gewordene Mann ist, von dessen Urteil Volin sein weiteres Schicksal abhängig macht, noch schließlich worin denn seine große „Konzeption“ besteht, von der er so pathetisch schreibt. Es scheint uns trotzdem, daß der Brief auch ohne diese Informationen vom großen biographischen, wie auch, wenn nicht vor allem, psychologischen Interesse ist. Paris, den 6. Januar 1908 [3] So will ich Dir, lieber Freund, in knappen Worten erzählen, wie und wozu ich in diese „verrückte Gigantenstadt“ geraten bin. Da Du weißt, was Briefeschreiben bedeutet, wirst Du Dich nicht über Unvollständigkeit beklagen. Am 30. Juli 1907 nach russischem Stil verließ ich mit der Etappe in Sträflingskleidung das St. Petersb. Sammelgefängnis. Für die Eisenbahnstrecke St. Petersb. Krasnojarsk (über Vologda, Perm‘, Celjabinsk) brauchten wir 10 Tage, und am 7. August nahm ich im Krasnojarsker Durchgangsgefängnis Logis. Nach einer Woche brach ich am 15. August mit der Etappe (39 Leute) zu unserem Bestimmungsort auf (dem Dörfchen Savino im äußersten Osten des Enisej-Gouv.[ernement]) und am 19. August um 10 Uhr m.[orgens] war ich dann schon wieder „frei“, d.h. wir setzten uns zu acht unterwegs ab, und sofort ging es zu Fuß zurück durch die Taiga nach Krasnojarsk. Am 23. August war ich schon in Krasnojarsk, am 30. kam ich in Nižnij-Novgorod an, wo Tat’jana lebte und arbeitete. Von den acht Entlaufenen kehrten drei bald zur Etappe zurück, der Weg war für sie zu anstrengend gewesen. Tat’jana fand ich am 31. August. Was immer ich Dir über die Erlebnisse zwischen dem 8. Dezember 1905, dem Tag meiner Festnahme, und dem 31. August 1907, dem Tag meiner völlig wiedergewonnenen Freiheit, schreiben würde es wäre, als hätte ich nichts gesagt, das wirst Du nun verstehen, denn über solche Dinge muß man reden. Und, Vasja, selbst in Worten läßt sich nicht alles wiedergeben! Das waren Abgründe. Was zum Beispiel allein die Reise von Piter [St. Petersburg] nach Krasnojarsk psychologisch bedeutet hat, in der Etappe, zusammen mit einer Frau, einer Genossin aus dem gemeinsamen Gerichtsprozeß, die für mich eine absolut tiefe und „wahnsinnige“ Liebe empfand und die ich ebenso liebte wie T.[at’jana], wenn auch anders. Das war ein verwirrender und seltsamer Traum. Aber ich will Dir einstweilen nur das Hauptresultat meiner Erlebnisse mitteilen, das mir bewußt wurde, kaum daß ich mir die Frage nach diesem „Hauptresultat“ gestellt hatte, und mit dem ich am 31. August zu T.[at’jana] kam. Dieses Ergebnis bestand aus zwei Teilen: Der erste war ein entschiedener Anstoß, völlige psychische Gesundheit zu erlangen (ein Zustand, den ich seit 6 Jahren nicht kenne), und gleichzeitig die Erkenntnis, daß ich für eine wirkliche und vollständige psychische Wiederherstellung, die dann endgültig wäre, unbedingt ausruhen und mich kurieren lassen muß. Der zweite Teil war die klare Erkenntnis, eine entschiedene und unwiderrufliche Wahl treffen zu müssen zwischen der rein kämpferischen Parteitätigkeit (Eintritt in die Kampforganisation) und der Alternative, mich und mein weiteres Leben einer großen schöpferischen Arbeit zu widmen, die zu diesem Zeitpunkt bereits zur vollen Entfaltung gekommen war. Ausschlaggebend für meine Entscheidung wurde die Bekanntschaft mit einem äußerst interessanten Menschen in der Untersuchungshaft, der heute geistesverwirrt ist, aber damals gesund war und, was die Hauptsache ist, außergewöhnlich gebildet und klug (d.h. unabhängig, objektiv und mit einem tiefen philosophischen Blick auf die Dinge). Ich hatte im Gefängnis Gelegenheit, ein.[ige] Abende mit ihm zu verbringen, weihte ihn in das Wesen meiner schöpferischen Konzeption ein und bekam die einzige Antwort zu hören, die mich davon überzeugen konnte, daß ich tatsächlich von der „Revolution des Tages“ zur „Revolution der Welt“ übergehen mußte: Meine Konzeption ist unbedingt genial und absolut neu und wird Früchte tragen. Das sagte mir ein Mann, der sich mit den vergangenen ebenso wie mit den gegenwärtigen Richtungen des wissenschaftlichen Denkens auf allen Gebieten ausgezeichnet auskennt, bes.[onders] in der Philosophie und Soziologie. Ich hatte immer auf einen Menschen gewartet, dessen Urteil ich absolut vertrauen könnte. Nun hatte ich ihn gefunden. Ich sagte diesem Menschen: Wenn bei mir das Schöpferische nicht neu, nicht klar, nicht groß ist, dann gehe ich nicht weg. Ich gehe nicht weg, wenn es nur talentiert ist. Sie verstehen, daß ich eine direkte und eindeutige, eine unwiderrufliche und „schreckliche“ Antwort erwarte. Nur wenn es genial und kolossal ist, nur in diesem Fall wäre es lächerlich, sich weiterhin in den Kugelhagel zu stellen. Ich hörte aus der Antwort die Stimme des Schicksals sprechen, Vasja. Der Mensch sagte: Sie persönlich sind mir vollkommen egal, soll man Sie doch töten, zum Teufel mit Ihnen. Aber ihre Konzeption ist inhaltlich genial, und die Ergebnisse sind erhaben und bedeutsam. In diesem Augenblick, Vasja, hörte ich die Stimme des Schicksals, und die Frage war für mich entschieden. Das, was ich persönlich „fühlte“ (das „Gefühl“ gab mir kein moral.[isches] Recht „wegzugehen“) und was allen Genossen so „schien“, hatte objektive Anerkennung gefunden. Den letzten „Rat“, die letzte prakt.[ische] Hilfe holte ich mir bei dem einzigen Mnsch. [Menschen], dessen Meinung mir teuer war, der mir nahe war, der mich wahrhaft liebt und den ich besonders liebe bei Tat’jana. Ich berichte schändlich kurz und nachlässig, denn es tut weh, über Erhabenes so dahinzuschreiben. Ich hoffe Dich zu sehen (vielleicht sogar in naher Zukunft) und Dir alles, alles zu erzählen, eins nach dem anderen. Oh, du wirst einen Menschen sehen. Tat’jana traf ich mitten in der aufreibendsten revolutionären Tagesarbeit an. Zum Verschnaufen war keine Zeit. Am 8. September stand die Gouvernementversammlung an, am 15. die Gebietsversammlung. Miteinander zu sprechen war unmöglich. Es gab zu viel zu tun. Wir beschlossen folgendes: wir würden bis zum 15. zusammen arbeiten; am 15. sollte sie dann zur Geb. [iets]versammlung fahren, am 20. zurückkehren und vier Tage Urlaub nehmen; diese 4 Tagen würden wir in einer Schiffskajüte verbringen (wir wollten nach Samara und zurück fahren), und dabei unsere persönliche Frage und meine allgemeine lösen.... Ich stürzte mich ebenfalls in den Kampf. Nachdem ich Tag und Nacht durchgearbeitet und die Gouvernementversammlung organisiert hatte (als Gastvorsitzender), verabschiedete ich am 15. T-a [Tat’jana], d.h. gab ihr meinen Segen für die Gebietsversammlung. Am 22. September erhielt ich von ihr einen Brief aus dem Gefängnis.... Ich blieb in Nižnij, wo ich mich an der Arbeit beteiligte. Ich versorgte Tat’jana im Gefängnis (brachte ihr Sachen und Geld) und trat in das Nižnij-Novgoroder Parteikomitee ein. Die Arbeit beanspruchte mich völlig. Jeden Tag Festnahmen und Durchsuchungen. In einer solchen Atmosphäre lebte ich bis zum 5. November. Dann kam ein Genosse, der für mich die Sache übernahm. Ich vertraute mich dem Schicksal an und fuhr geradewegs nach Paris. Tat’jana war auch für Paris. Das ist in Kürze der Abriß meiner Erlebnisse. Hinter dem kalten Schema stehen die tiefgehendsten und erschütterndsten Erlebnisse und Ereignisse, die es nur auf der Erde geben kann.... Meine Aufgabe in Paris: 1.) zur Ruhe kommen und genesen, denn nach der Nižnij-Nov.[goroder] Arbeit bin ich erschöpft und völlig ausgelaugt. 2.) An die Arbeit gehen. Derzeit bin ich dabei, hier mein Leben einrichten und mich auszuruhen. Morgen fange ich mit der Behandlung an. In 2 3 Wochen werde ich mit der großen Arbeit beginnen 6 Jahre aufholen und mich auf mein Lebenswerk vorbereiten. Das Schicksal ist augenscheinlich mit mir. Wenn ich nicht unwiderruflich gesund werde, werde ich mich natürlich erschießen. Schreibe mir, mein Freund. Dein Vsevolod (Übersetzung: Dagmar Herrmann) |
[1] Für biographische Angaben s.: Političeskie partii Rossii. Konec XIX Pervaja tret’ XX v. Moskva : Rosspėn 1996. Vgl. auch das Vorwort von Rudolph Rocker in: Voline, Vsevolod: The Unknown Revolution 1917-1921. Detroit, Chicago 1974. [2] Vgl. die deutsche Übersetzung: Volin, Wsewolod: Die unbekannte Revolution. Bd. 1-3. Hamburg 1975. [3] Alle Unterstreichungen sind von Volin. |